Ex nihilo - Martin Burckhardt   /     Éducation sentimentale III

Shownotes

Foto: Pixabay

Was macht ein Kind der Popkultur, wenn es sich urplötzlich, in Gestalt von Vaterschaft und Lehrverpflichtung, in einer Rolle findet, für die es kein Drehbuch gibt? Es begann mit einem simplen Ansinnen, der Frage eines Hörfunk-Redakteurs, ob ich mit ihm gemeinsam ein dreiwöchiges Intensivseminar an der Berliner Hochschule der Künste durchführen wolle, bei dem junge Schauspielstudenten mit dem Mikrophon und der Situation im Tonstudio vertraut gemacht würden – mit dem Ziel, das entstehende Material zu einem einstündigen, publikationswürdigen Radiofeature zu machen. Nachdem ich zugesagt hatte, dachte ich lange darüber nach, wie man es vermeiden könnte, den Schauspielern fertige Rezepte aufzunötigen – und wie man ihnen jenen Freiheitsraum eröffnen könnte, der mir selbst in den zurückliegenden Jahren zugeflogen war. Nachdem ich einmal, als hospitierender Autor, in einem Studio des Hessischen Rundfunks erlebt hatte, wie ein »Regisseur« und ein »Schauspieler« einen Text von mir bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet, ja geradezu verwüstet hatten, hatte ich mir geschworen, dass mir dies nicht noch einmal passieren würde. Und ohne mich als solcher zu begreifen, war ich in die Position eines Regisseurs hineingerückt, der im Laufe der Zeit einige ganz wunderbare Schauspieler, nein, nicht dirigiert, eher begleitet hatte. Was immer ich in den ersten Jahren meines Berufslebens gelernt hatte, war, dass es im Studio nichts Törichteres gibt als die vermeintlich klare, „autoritäre“ Ansage. Vielmehr erschien mir die Rolle des Regisseurs eher wie die eines Psychoanalytikers, der lediglich ein „offenes“ Ohr für das Lautgewordene haben und, wenn er denn einmal zu intervenieren genötigt war, nur auf eine überhörte Schwingung des Textes hinweisen müsste – womit sich fast automatisch eine neue Sichtweise und ein neuer, anderer Ton erschloss.

Mein Mitstreiter, der Redakteur Wolfgang Bauernfeind (*1944 - † 2022)

Damit war im Grunde schon die Beschreibung des Seminars gegeben1- und zugleich eine Handlungsanweisung: nämlich dass die Exploration des Akustischen, die Welt der Klänge, selbst der Gegenstand des Seminars sein würde (was mein Mitstreiter, der Redakteur, in der Erinnerung an ein Walt Whitman-Zitat, in den Titel der Sendung einfließen ließ: Nun will ich nichts tun als lauschen). Dieser Gedanke allein öffnete einen Raum, der das übliche Vorstellungs-Setting aufmischte: Anstatt im Kreise sitzend sich selbst mit ein paar dürren Worten vorzustellen (eine Technik, bei der am Ende nicht viel mehr als Psycho-Klischees, Charakterpostkarten in den Raum hätten geworfen werden können), kam mir der Gedanke, dass man die Schauspielstudenten bitten könnte, stattdessen von ihren Kindheitsgeräuschen zu erzählen – wobei wir das entstehende Material aufnehmen würden. Also versammelte sich die Gruppe im Studio und die Sitzung begann. Was die Form anbelangte, gab es nur eine einzige Regel: nämlich dass der Bericht des jeweiligen Sprechers nicht kritisiert werden dürfe, einfach deswegen, weil es sich um Wahrnehmungen handelte (und nicht um irgendwelche Behauptungen oder Ideologeme). Schon bei der ersten Erzählung, nach wenigen Minuten, stellte sich eine Stimmung ein, der ich selten zuvor begegnet war. Da erzählte eine junge Frau davon, wie sie als Kind des abends immer dem Geläut der nahegelegenen Kirche gelauscht habe und wie immer wieder (aus dem unteren Geschoss) das Faxgerät ihres Vaters erscholl. Ganz offenbar war er ein Kaufmann war oder ging anderen, wichtigen Geschäften nach. In jedem Fall war am Quietschen der Bohlen zu hören, wie er irgendwann die Treppe heraufstieg, vor der Tür des Kinderzimmers stehenblieb, lauschte – und dann doch nicht hineinkam, ein Verhalten, das habituell zu sein schien, hatte sich auf dem Teppichboden vor der Tür (wie die junge Frau erzählte) eine Vertiefung eingestellt. Was an dieser Erzählung hervorstach, war, dass die Zuhörer allesamt absolut konzentriert dieser Schilderung lauschten, nicht zuletzt deswegen, weil jeder die Wahrnehmungsbrocken in einen psychischen Raum übersetzte, eine, wenn man so will, akustische Familienaufstellung. Indem sich der Erzähler nur auf seine akustischen Kindheitserinnerungen konzentrierte, hatte sich eine weitere Peinlichkeit in Wohlgefallen aufgelöst: das Dilemma der Selbstdarstellung. So kam niemand auch in Ansätzen auf die Idee, die Performance des jeweiligen Vortragenden zu kritisieren. Stattdessen machte sich eine Stimmung aufrichtiger Anteilnahme breit, war jeder, auf sonderbare Weise, mit einer zugleich intimen, aber keineswegs ichsüchtigen Erzählung konfrontiert. Als die Sitzung, die sich über mehrere Stunden hingezogen hatte, schließlich vorüber war, sagte ein junger Schauspieler, sichtlich verwundert, diese Sitzung sei ihm wie eine Art Psychotrip, eine Art Gruppentherapie vorgekommen – was ich mit der Bemerkung beantwortete, es sei doch niemand dazu aufgefordert worden, sein Innerstes zu entblößen.

Thanks for reading Ex nihilo - Martin Burckhardt! Subscribe for free to receive new posts and support my work.

Das merkwürdigste Resultat der Sitzung war freilich das entstandene Material – einfach deswegen, weil es sich kategorial vom Üblichen unterschied. Gehört es zu den Selbstverständlichkeiten der Zunft, dass ein Großteil des Interviewmaterials just in dem Maße, in dem das Gesagte der Selbstdarstellung dient, unbrauchbar ist, war das Besondere hier, dass fast jede dieser Kindheitserzählungen eine nachgerade physische Überzeugungskraft besaß – zum Entzücken meines Redakteurs, der begriff, dass sich bereits mit dieser einleitenden Sitzung sein Hauptproblem in Luft und Wohlgefallen aufgelöst hatte: die Frage, ob und wie man das Material von Studienanfängern zu einem sendefähigen Produkt würde zusammenmontieren können. Was mich beim Durchhören des Materials beschäftigte, war die Frage, woher der besondere Magnetismus dieser Erzählungen rührte – warum die Beschreibung eines Kindheitsgeräuschs selbst dort, wo man Sprecher, das kommunikative Setting, ja alle Bildlichkeit davon abgezogen hatte, den Zuhörer in den Bann zog. Die Antwort, zu der ich gelangte, war überaus simpel: All diese Erzählungen rührten an eine Gemeinsamkeit, als ob den Geräuschen eine kommunistische Struktur innewohnte. In jedem Fall erzeugten sie beim Zuhörer eine Form des Kopfkinos, Gedankenräume, die sich wie von selbst einstellten. Nicht zuletzt hatte das auch damit zu tun, dass der Sprecher, obwohl fast überpräsent, zugleich überaus rätselhaft blieb – ja, dass jeder Hörer, wie ein Detektiv, die Informationen zu einem Puzzle, zu seinem Bild der Person zusammenmontierte.

Ein dreiviertel Jahr nach diesem Projekt (das mich die nächsten sieben Jahre begleiten sollte) kam mein Sohn auf die Welt. Und sowenig wie mir die Gestalt des Anweisungen erteilenden Regisseurs oder Lehrkörpers plausibel erschien, sowenig erschien mir die Vaterrolle, als Autoritätsperson begriffen, erstrebenswert. Schon meine Schul- und Universitätszeit hatte in mir einen geradezu viszerären Widerwillen gegen alle Autoritäten hinterlassen, all diese Lehrer, die, anstatt ihre Zöglinge für eine Sache zu begeistern, sich nur mit Strafen, Drohungen und hoheitlichen Akten durchzusetzen wussten – etwas, womit ich nicht einmal im Entfernesten zu tun haben wollte. Im Nachdenken darüber, wie man ein Kind erziehen und ihm die Regeln des Zusammenlebens nahebringen könne, verfiel ich auf den Gedanken, soetwas wie ein Erziehungsspiel in Szene zu setzen – und weniger als Erzieher denn als Entertainer in Erscheinung zu treten. Tatsächlich war das nicht sonderlich schwer. Dazu bedurfte es lediglich einer kleinen Handpuppe. Und weil sich eine solche in der Wohnung fand, in Gestalt eines bärtigen, finster dreinblickenden Räubers, ließ ich ihn während des Essens, mit größter Begeisterung, all jenem Unsinn frönen, den man üblicherweise kleinen Kindern nachsagt: Er spielte mit seinem Becher herum, verschüttete Wasser und verhielt sich so, wie man es von einem unerzogenen Rabauken erwartet. Mein Sohn liebte diesen Räuber inständig, umso mehr, als jedes Essen, ja jede Aktivität mit allen erdenklichen Überraschungen verbunden war. Schlug der Räuber allzusehr über die Stränge (indem er beispielsweise mich zu traktieren begann), begann mein Sohn, nein, nicht ihn zu maßregeln, sondern eher, ihm gut zuzureden – womit sich im Laufe der Zeit, wie von selbst, einige Verhaltensregeln einstellten: dass man nicht mit Essen um sich wirft, dass man Gläser nicht mutwillig verschüttet und andere Menschen nicht grob attackiert. Was mich an diesem kommunikativen Dreieck faszinierte, war der Umstand, dass der Räuber, der mit einer verstellten Stimme sprach, vom Kind als eigenständiges Wesen aufgefasst wurde. Und je älter mein Sohn wurde, desto breiter wurde das Repertoire unseres kriminellen Hausgastes. Fuhren wir beispielsweise mit dem Auto an einer Berliner Baulücke vorbei (die er zur Wendezeit allüberall gab), behauptete der Räuber, der über besondere Kontakte ins kriminellen Milieu hinein verfügte, dass er mit seinen Kollegen dieses Haus weggesprengt habe. Auf kuriose Weise verwandelte sich das Leben zu einem großen Abenteuerroman. So meldeten sich angelegentlich irgendwelche Komplizen und hinterließen Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter. Dass ich derjenige war, der mit verstellter Stimme aus dem Arbeitszimmer anrufen und diese Nachricht hinterlassen hatte, ging in der Begeisterung unter, im Grunewald unter irgendeinem Stein eine geheime Nachricht oder einen Gegenstand zu finden. Wurde es in der Wohnung zu eng, ließ sich mit einem solchen Anruf der ganze Tag aufhellen – abgesehen davon, dass man, vom Räuber dahin gelotst, sich allerlei erdenkliche Sehenswürdigkeiten anschauen konnte. Im Laufe der Zeit wuchs der Räuber, der durchaus nicht immer die Meinung der Eltern vertrat, ja, im Gegenteil sich zu allen erdenklichen Provokationen verstieg, zu einer Art virtuellem Geschwister heran – so sehr, dass mein Sohn untröstlich war, als er eines Tages in der Wohnung nicht mehr auffindbar war. Also musste ein Ersatzräuber her, der, weil er noch nicht so heruntergekommen ausschaute, mit einer Legende ausgestattet werden musste: Schönheitsoperation in Tunesien, Flucht vor der Polizei. Irgendwann freilich tauchte der verschollene Räuber hinter einem Buchregal wieder auf, was zur Folge hatte, dass die Familiengeschichte dieses unverhofften Zwillingspaars neu aufgearbeitet werden musste – und ich nun beidhändig operieren müsste. Im Gedanken an Schillers moralische Anstalt gesellte sich auch eine Polizistenhandpuppe hinzu (Bruno Kleine-Brötchen-Bäcker), was den Vorzug bot, dass dieser Puppenkosmos nun alle erdenklichen Konflikte aushandeln konnte – was einen unerschöpflichen Anlass bot, all die Bücher und Geschichten, die wir unserem Sohn vorgelesen hatten, wieder einfließen zu lassen. Und weil die Welt der Puppen eine solche Wirklichkeit für ihn besaß, bestand mein Sohn, als wir auf dem Parkplatz an Grunewald einer Polizeistreife begegneten, darauf, dass wir den Polizisten, der dort in seinem VW Bulli vor sich hin döste, mit unserer Polizistenhandpuppe bekannt machen müssten – was dieser, nach einem Moment der Überraschung, mit einem breiten Lächeln quittierte: Hallo Kollege!

Nein, es war nicht so, dass ich von vorneherein von der Richtigkeit meiner Entscheidungen überzeugt war, gab es doch immer wieder Momente, wo ich mir die Frage stellte, ob ein solch experimenteller Erziehungsstil nicht vielleicht auch abträgliche Wirkungen zeitigen würde. Was mich überzeugte, in jedem Falle aber die nagenden Zweifel verstummen ließ, waren die Resultate. So hatte mein Sohn, als er in die Schule kam, weder mit Autoritätsproblemen noch mit seinen Schulkameraden zu kämpfen, war er vielmehr ganz bei der Sache, mit der gleichen Begeisterung, die er für die Abenteuer mit seinem Räuber an den Tag gelegt hatte. Und in der Tat war es diese seine Begeisterungsfähigkeit, die in mir die Gewissheit aufkommen ließ, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Nun war die Lehre, die sich mit diesen Erfahrungen verknüpfte, sehr viel grundsätzlicher. Wenn die auctoritas, als gesellschaftliche Autorität, auf den Autor zurückgeht – wenn aber dieser sich nicht selbst ermächtigen kann, sondern nur durch die pflegliche Behandlung der Schrift zu einem solchen wird, so ist jede formale Autorität, die sich dieses Lehens nicht bewusst ist, gelinde gesagt: problematisch. Just in dem Maße, in dem ihr Träger dies ignoriert, läuft er Gefahr, sich über die Ausbeutung des Machtgefälles der nagenden Selbstzweifel zu entledigen, bekommt man es zunehmend mit hohlen Prätentionen zu tun. In einer Situation wie der unsrigen, da die digitale Revolution das Feld der Schrift in ihren Grundfesten erschüttert, ist es wenig verwunderlich, dass die Popkultur sich vor allem als antiautoritärer Reflex artikuliert hatte – ja, dass man das System unter einen Generalverdacht gestellt hat. Will man das Kind allerdings nicht mit dem Bade ausschütten, bestünde die Aufgabe darin, sich über die Rolle der Autorschaft in dieser neuen, digitalen Welt klarzuwerden. Das war es, was mich im Schauspielseminar beschäftigt hatte – die Erkenntnis, dass sich unter den Postkarten-Gewissheiten der alten Welt ein neuer, weitgehend unerhörter Raum aufgetan hatte. Wenn mein Lehrauftrag also einen Sinn besaß, bestand er in nichts anderem als darin: die mir Anvertrauten in diese Welt einzuführen, sie mit den Gesetzen der Schrift vertraut zu machen. Wobei diese Gesetze, wie ich an den Computerspielen meines Sohns lernen sollte, im Laufe der Zeit neue, überaus interessante Strukturen herausbildeten. Und auf die gleiche Weise, wie der Räuber seine Kindheitsjahre geprägt hatte, bestand mein Sohn darauf, mich nun seinerseits in die Welt der Computerspiele einzuführen, einem Ansinnen, dem ich mich gern unterwarf. Hatte dies zur Folge, dass ich über Jahre hinweg mit einer vollen Dosis Gamer-Kultur konfrontiert wurde, verhinderte es nicht, dass ich mich beim gemeinsamen Spiel von Mafia II oder Alone in the Dark über die schlichte Handlung belustigte – und die dramaturgischen und ästhetischen Unstimmigkeiten penibel sezierte. Weswegen mein Sohn einem anderem Spielkameraden, mit einem Stirnrunzeln und einem hörbaren Seufzer, anvertraute: Mein Vater ist schwer zu erziehen!

Share

Zum Nachlesen

Ex nihilo - Martin BurckhardtÉducation sentimentale IIVielleicht nimmt ein historisches Ereignis nur in der Ferne eine metaphorische Größe an. Von nahem betrachtet war Francis Fukuyamas Ende der Geschichte nicht viel mehr als ein flimmerndes Fernsehbild, das sich im Rauschen der Bildschirmpixel verlor. In jedem Fall fühlte sich der Fall der Mauer, die dort wenige Kilometer entfernt abgebaut wurde, weniger…Read more2 months ago · 9 likes · Martin BurckhardtEx nihilo - Martin BurckhardtÉducation sentimentale IEigentlich war die Frage meines Gegenübers überaus einfach. Wie kommt man darauf, solche Gedanken, wie in der Philosophie der Maschine dargelegt, zu entwickeln? Und meine Reaktion darauf: »Weil ich irgendwann, Ende der Achtziger Jahre, anders abgebogen bin.« Ich kann nicht behaupten, dass dieser eingeschlagene Weg eine Entscheidung war. Eher war es wohl…Read more3 months ago · 10 likes · 1 comment · Martin Burckhardt1

Johannes Schmölling, mit dem ich über einen langen Zeitraum verschiedene gemeinsame Hörstücke realisiert hatte, hatte mich auf das Buch eines Musikjournalisten aufmerksam gemacht, Joachim Ernst Behrendt: Das dritte Ohr. Es war ein eine Mischung aus höchst luziden Beobachtungen und esoterischer Schwärmerei, irgendetwas zwischen pythagoriäscher Zahlenmystik und Techno. Eine Stelle freilich erschien mir überaus bemerkenswert: der Blick des Francesco Petrarca vom Mont Ventoux, eine geistige Metempsychose, in dem sich die Hörigkeit des Mittelalters in die Sichtigkeit der Neuzeit gewandelt hatte. Und als ich Leonardo da Vincis „Buch über die Malerei“ las, in dem er sich vor allem über den Primat des Gesichtssinnes ausließ und dass die Musik nur die kleine Schwester der Malerei sein könne, begriff ich, dass die Harthörigkeit vieler Zeitgenossen kein persönliches Defizit war, sondern auf eine tiefe, kulturelle Codierung zurückging.