Die ägyptische Nagelprobe
Die Bilder von der stattfindenden Revolution in Ägypten sind unglaublich. Millionen Menschen erheben sich gegen eine Diktatur, riskieren ihr Leben für die Demokratie. Im Westen hatte man vor dem Moment bisher immer Angst, wenn sich im arabischen Raum die Massen erheben würden. Die wirkungsmächtigen Neocons zeichnen seit Jahrzehnten ein Bild von arabischen Gesellschaften, die nur darauf warten würden uns Westler abzuschlachten. Dominiert würden sie von einer Religion, die laut unseren großen selbsternannten Volksverstehern nicht mit der Demokratie vereinbar wäre. Nur die Unterdrückung dieser Menschen durch von uns gestützte Diktatoren könne die Katastrophe verhindern.
Franklin D. Roosevelt soll einmal über einen befreundeten Diktator gesagt haben: “Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn”. Tatsächlich waren Despoten oft nützliche Übel in (nicht nur) der westlichen Außen- und Interessenspolitik und sorgten für eine gewisse geopolitische Stabilität. Doch eine solche steht nie auf einem nachhaltigen Fundament. Diktatoren sterben oder stürzen irgendwann. Für das Vakuum nach dem Regimewechsel gibt es für die Zyniker keinen Plan und man fürchtet die Nachtragendheit der Opfer der früheren Partner.
Über all den Protesten in Ägypten und auch Tunesien thronen Werte, die uns freuen sollten. Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit werden eingefordert. Niemand darf unterdrückt werden, jeder muss gehört werden, keiner soll zurückbleiben. Dies sind die größten Garanten für Frieden, Stabilität, Entwicklung und Kooperation die wir uns vorstellen können. Es klingt sehr stark so, wie man auch ein europäisches Wertemodell beschreiben würde. Uns wurde lange eingeredet, dass diese Werte im arabischen Raum nicht beheimatet wären. Und doch stehen am Tahrir-Platz in Kairo Millionen Menschen, die sie einfordern.
Es geht hier um nichts anderes als fundamentale Menschenrechte. Viele Menschen behaupten, diese wären ein westliches Konzept, mit dem wir die Welt zu bekehren versuchen. Doch in Wahrheit entstammen die Menschenrechte einem tiefen menschlichen Bedürfnis nach Freiheit, Sicherheit, nach Chancen und Gerechtigkeit, das nur von Despoten unterdrückt und manipuliert werden kann – jedoch niemals dauerhaft. Es muss ein Schock für die Kulturkampf-Verfechter und Kulturrelativisten sein, dass diese Bedürfnisse auch in Arabern zu finden sind. Es gibt diese Passage im Song “Russians” von Sting, die das Konzept unbewusst schön auf den Punkt bringt.
We share the same biology
Regardless of ideology
Believe me when I say to you
I hope the Russians love their children too
In der Politikwissenschaft gibt es das Wort des Demokratischen Friedens. Demokratien einer gewissen Reife führen keine Kriege gegeneinander, lautet die Theorie. Sie ist zwar nicht unumstritten, aber gilt als von der Realität gut abgesichert. Dort wo die Politik sich vor dem Volk rechtfertigen muss und ein Rechtsstaat regiert, dort wird nicht für den Krieg gegen andere Gesellschaften entschieden, in denen dasselbe gilt. Gegen eine Demokratie dieser Qualität kann man keinen “gerechten Krieg” führen. Zu groß wären die Opfer, als dass man die Bevölkerung dafür gewinnen könnte. Zugespitzt: Wenn die Menschen entscheiden dürfen, brauchen sie einen wirklich guten Grund, um ihren Kindern einen Krieg zuzumuten. Und der fehlt in der Konfrontation von Demokratien, auch weil in der Vielfalt solcher Staaten den Hasspredigern immer widersprochen wird.
Es mag mit verständlicher Angst beäugt werden, aber Demokratien im Nahen Osten sind auch für Israel und westliche Interessen der beste Ausblick auf langfristigen, stabilen Frieden – jedenfalls ein besserer als das Arrangement mit Unterdrückern. Natürlich kann sich gerade aus jungen, instabilen und unerfahrenen Demokratien auch der nächste Tyrann erheben. Das haben wir im Mitteleuropa der 1930er-Jahre gesehen. Doch auch ein Gegenmodell ist uns bereits bekannt. Mit der Unterstützung nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich eine demokratische Politkultur entwickeln und etablieren. Die Gesellschaften Westeuropas und der USA kooperierten und wuchsen so zusammen. Später wuchs West- mit Osteuropa zusammen, als die dortigen Diktaturen abgeschafft wurden.
Es ist die Vielfältigkeit dieser Proteste in Ägypten, die unsere Entscheidungsträger ermutigen sollte. Islamisten, Linke, Nationalisten, Säkularisten, bisher unpolitische Menschen stehen dort Seite an Seite. Vielsagenderweise nimmt niemand seine hoch beladenen Symbole mit, tritt keine Gruppierung hervor um den Protest zu vereinnahmen, denn es geht um ein gemeinsames Ziel, das über diesen ideologischen Unterschieden steht: Um die Demokratie, die überhaupt erst den Wettstreit zwischen diesen Ideen ermöglicht.
Natürlich wird diese Einheit wieder bröckeln, wenn der gemeinsame Feind dann verschwindet. Doch die Gleichung im Land hat sich verändert und das oft zersplitterte, verfeinde “Davor” wird nicht wiederkehren. Zu wichtig ist die Erfahrung, die diese Gesellschaft gerade macht: Dass im wichtigsten Moment alle ideologischen Unterschiede nichts galten. Dass man zusammenstand als die Schüsse fielen, die Wasserwerfer spritzten, das Tränengas den Atem raubte, die Panzer auf der Straße auffuhren und Menschen ihr Leben geben mussten. Leute, die dies gemeinsam erlebt haben, werden vielleicht wieder zu Gegnern, aber nicht mehr so leicht zu Feinden, die sich gegenseitig unterdrücken.
Vielfalt ist ein Grundzustand der Demokratie. Es gilt nicht, sich aus purem, kurzsichtigen Eigennutz einzumischen, sondern diese Bewegung zu unterstützen, damit sie die Schwierigkeiten dieser Pluralität auch nach dem Sturz des Regimes bewältigen kann. Für den langfristigen Nutzen aller. Das wäre auch ein wichtiges Signal. Zu lange präsentierten sich die Regierungen des Westens den Menschen in Ägypten (und anderswo) als zynische Systemerhalter. Der eigene Vorteil war ihnen wichtiger als die Menschenrechte, die sie verlogen vor sich her trugen und so ihren hohen Wert schwer schädigten.
Nun versuchen diese Menschen uns zu beweisen, dass auch ihr Glück sich mit unseren Interessen vereinen lässt. Dass wir nicht von Natur aus anders, sondern im tiefsten Inneren gleich sind. Irgendjemand muss sich symbolisch hinstellen, ihnen die Hand reichen und sagen: “Wir hatten Angst, euch unterschätzt und uns geirrt. Solange ihr diesen friedlichen Weg geht, könnt ihr auf uns zählen.” Vielleicht sagt sogar jemand, dass es ihm leid tut. Ich glaube, dass positive Symbole oft unterschätzt werden.
Stattdessen machen wir uns Sorgen. Unsere Regierungen zögern, weichen nur langsam von ihrem langjährigen Verbündeten ab. Wie wird ein neues Regime “uns” gegenüber stehen? Was bedeutet das für die Erdgaspreise? Was vor allem für Israel und den Friedensprozess im Nahen Osten? Werden die Muslimbrüder die Macht an sich reißen und einen neuen Iran erschaffen? Dies sind verständliche Reaktionen, Ängste und berechtigte Fragen. Doch sie alle entspringen einem grundsätzlichen Misstrauen – vielleicht nicht nur den Arabern und dem Islam gegenüber, sondern auch der Demokratie selbst.
Dieses Misstrauen und Zögern bringt uns nicht wirklich weiter. Denn de Frage nach unserem Befinden stellt sich nicht (mehr). Die Welt hat sich geändert und die Zukunft Ägyptens wird nicht in Brüssel, Wien oder Washington entschieden, sondern von den ÄgypterInnen auf den Straßen von Kario, Alexandria und Suez. “Wir” können Mubarak weder stürzen noch in der Macht halten – nur entscheiden, ob wir in dieser Zukunft endlich eine Rolle als Freunde spielen, oder ob wir weiter als Zyniker auftreten.
Die Revolution ist eine Nagelprobe für Ägypten. Aber auch für uns und unsere Bereitschaft, alte Fehler zu beseitigen und neue Chancen zu ergreifen.
Fotocredits: darkroom productions, CC 2.0 BY-NC
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