Nach dem Pokalsieg bekam Union als Auszeichnung vom FDGB-Chef Herbert Warnke eine Reise nach Sotschi organisiert. Die lief allerdings etwas anders ab als geplant und vom Akkordeon, das Union in Zhitomir als Gastgeschenk erhielt, fehlt jede Spur.
Die heutige Geschichte ist eigentlich keine Geschichte im eigentlichen Sinne. Aber sie soll aufräumen mit einem Zusammenhang, der gerne wiederholt wird. Du erinnerst dich an Unions größten sportlichen Erfolg, den Pokalsieg von 1968. Der Europapokal-Auftritt wurde den Unionern dagegen verwehrt. Dazu hast du eine bereits vor fast eineinhalb Jahren eine Episode gemacht, es war unsere vierte Ausgabe.
In dieser Ausgabe hast du aus einem Interview mit Jimmy Hoge vom 12. Oktober 2015 in der Berliner Zeitung zitiert:
Was war Ihre größte Enttäuschung als Spieler?
Die kam gleich nach dem Pokalsieg, als uns durch die Ereignisse beim Prager Frühling und der Boykott-Politik die Teilnahme am Europapokal verwehrt wurde. Wir bekamen FK Bor zugelost und wussten, dass wir die schlagen würden. Dann kam alles anders und man spendierte uns zum Trost eine Mannschaftsreise nach Sotschi. Aber das konnte das natürlich nicht wettmachen. Europapokal spielst du vielleicht ein oder zwei Mal im Leben.
Aber Jimmy Hoge ist nicht die einzige Person, die Geschichte so herum erzählt, dass die Reise nach Sotschi ans Schwarze Meer als Ersatz für den entgangenen Europapokal-Auftritt herhalten sollte. Bereits am 9. Mai 2001, gut zweieinhalb Wochen vor dem DFB-Pokalfinale zwischen Schalke und Union, schrieb die Berliner Zeitung unter der Überschrift “Urlaub in Sotschi statt Dribblings in Barcelona” folgende Zeilen:
Die Union-Mannschaft flog als Ersatz für den entgangenen Auftritt auf der europäischen Bühne für zwei Wochen in die Sowjetunion. Man spielte in Vilnius und in Moskau und hielt sich zuletzt am Schwarzen Meer im schönen Kurort Sotschi auf. Der damalige Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschafts-Bundes (FDGB), Herbert Warnke, war ein glühender Anhänger des 1. FC Union und hatte über die sowjetische Gewerkschaft die Reise vermittelt. Günter Mielis: “Wir brauchten damals nichts zu bezahlen. Man las uns wirklich jeden Wunsch von den Lippen ab.” Doch Sotschi blieb nur ein Ersatz, zwar ein angenehmer, aber ungeliebter.
Fakt ist aber, dass die Reise in die Sowjetunion im Juli 1968 stattfand, die sowjetischen Truppen samt einiger Warschauer-Vertrags-Staaten erst am 21. August 1968 in die ČSSR einmarschierten und danach erst die Boykottdrohungen für den Europapokal kamen. Am 30. August tagte die Uefa und beschloss die Neuauslosung und am 13. September entschied der Deutsche Fußballverband die Clubs vom Europapokal zurückzuziehen.
Die richtige Reihenfolge dürfte Günter Mielis erzählt haben in Matze Kochs Buch “Immer weiter, ganz nach vorn”: “FDGB-Chef Herbert Warnke war mehr als stolz auf seinen Club, den 1. FC Union Berlin. Hatten wir doch den FDGB-Pokal und damit seinen Pokal gewonnen und somit die Qualifikation für internationale Begegnungen erreicht. Als Dank und zur Vorbereitung auf die Europacupspiele organisierte Warnke im Sommer 1968 eine Reise in die Sowjetunion.”
Nun ist solch ein Irrtum nicht ungewöhnlich und passiert beim Erzählen von Ereignissen des persönlichen Erlebens mitunter. Das ist übrigens ein Kritikpunkt an Oral History, wenn Geschichte aus Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert wird. Denn über die Zeit werden diese Geschichten von den Zeitzeugen durchaus immer mehr ausgeschmückt, weil sie wissen, was bei den Zuhörern besonders gut ankommt. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Art der Befragung, die mitunter sehr suggestiv sein kann. Deshalb lohnt es sich, dem immer Fakten gegenüber zu stellen.
Damit könnte die Geschichte schon zu Ende sein, aber ich will noch ein bisschen erzählen, was bei Union zwischen dem Pokalsieg am 9. Juni 1968 und dem Saisonstart im August 1968 passiert ist. Denn es war schon eine außergewöhnliche Saisonvorbereitung.
Am 3. Juli schreibt die Berliner Zeitung, dass Union als letztes der drei Berliner Oberliga-Teams sein Training wieder aufgenommen habe und am gleichen Tag auswärts gegen die Kreisauswahl Zipsendorf spielt? Weißt du, wo Zipsendorf liegt? Das ist ein Stadtteil von Meuselwitz im Altenburger Land.
Es gab noch ein Viererturnier bei Einheit Oranienburg, bei dem Union die TSG Velten 5:0 und Motor Hennigsdorf 4:2 schlug. Aber ein erster Höhepunkt war ein ungewöhnliches Spiel im Jahnsportpark am 16.7.1968. Da spielte Union vor 25.000 Zuschauern gegen den FC Portuguesa Sao Paulo. Eigentlich ungewöhnlich, dass Union dieses Spiel zugestanden wurde, denn der FC Vorwärts war der erfolgreichere Club.
Club-Chronist Gerald Karpa schrieb dazu: “Eine – trotz des Pokalsieges – ungewöhnliche Entscheidung, bedeuten doch gerade für Union internationale Freundschaftsspiele in der Regel Begegnungen mit polnischen und tschechoslowakischen Vereinen, für die Zuschauer wie auch für die Spieler sind das meist wenig attraktive Paarungen.”
Aber vielleicht lag es daran, dass der Gegner nicht gegen einen Verein der bewaffneten Organe wie Armee oder Innenministerium bzw. Geheimdienst spielen wollte. Wir wissen es nicht.
Trainer Werner Schwenzfeier sagte vor dem Spiel: “Für uns beginnt praktisch mit dem Treffen gegen Sao Paulo eine neue Etappe vor dem Oberliga-Meisterschaftsstart am 17. August. Nach dem heutigen Spiel geht es nämlich am Donnerstag zu drei Vergleichskämpfen in die Sowjetunion, und zwar nach Wilnjus, Riga und Sotschi. Ich konnte den FC Portuguesa bei seinem 1:0 in Rostock beobachten. Es war offensichtlich, wie konzentriert er wirkte, denn ein voller Erfolg gegen den Vizemeister der DDR ist schließlich in der späteren Gesamtbilanz ein Aktivposten. Nicht anders sollte er auch uns als Pokalsieger gegenübertreten.”
Der Vorbericht der Berliner Zeitung zum Spiel gegen Sao Paulo vom 16.7.1968, Bild: Berliner ZeitungUnion verlor 4:1 gegen Sao Paulo nachdem man 1:0 durch Harald Zedler in Führung gegangen war. Sao Paulo spielte zuvor gegen Hansa Rostock, Sachsenring Zwickau und den Halleschen FC Chemie. Danach wurde bekannt, dass sie auch noch gegen Chemie Leipzig und Dynamo Dresden spielen werden. Der wohl aus heutiger Sicht bekannteste Spieler von Sao Paulo dürfte Zé Roberto sein.
Union fuhr also in die Sowjetunion und ab jetzt werden die Informationen sehr spärlich. Das Neue Deutschland schrieb, dass es zuerst gegen Riga, dann am 22. Juli gegen Wilnjus und am 26.7. gegen Sotschi gehen sollte.
Es kam allerdings etwas anders, denn schon am 21. Juli schreibt die Berliner Zeitung in einer Meldung von einem 1:1, das Union bei Zhalgiris Wilnius erreicht habe. Torschütze für Union soll Meinhard Uentz gewesen sein.
Vom Spiel in Riga ist gar keine Rede mehr. Dafür überrascht das Neue Deutschland am 25.7. mit folgender Meldung: “Der 1. FC Union beendete auch sein zweites Spiel in der UdSSR bei Awtomobilist Shitomir 1:1. Den Ausgleich erzielte Stoppok.” Ähnlich vermeldet es die Berliner Zeitung einen Tag später. Warum die Reisepläne umgeworfen wurden, erfahren wir nicht. Es wird auch nicht hinterfragt. Leider konnte ich wegen der Corona-Schließungen nicht ins Archiv des Deutschen Sportechos oder der Neuen Fußballwoche einsteigen. Den ich hätte gerne mehr von den Spielen erfahren.
Der Spielbericht in ukrainischer Sprache von Unions Auftritt in Zhitomir am 23.7.1968, Foto: ZVGAber durch einen Zufall haben wir tatsächlich einen Spielbericht aus Zhitomir bekommen, der auf Ukrainisch geschrieben wurde. Hier die Übersetzung. Die Überschrift lautet “Почесна нiчия”, also “Ehrenwertes Unentschieden”.
Das erste Mal in dieser Saison fand ein internationales Fußballtreffen in Zhytomir statt. In dem Stadion der Lenin-Komsomol (Всесоюзный ленинский коммунистический союз молодёжи) hat sich das Automobilist-Team mit einem der besten Teams der DDR, Union, getroffen. Das Spiel war interessant und angespannt. Von Beginn an hat Heimmannschaft die Initiative ergriffen. Es gab viele knappe Torchancen. Aber die letzten Schüsse der Stürmer waren viel zu unpräzise, viele gute Situationen um ein Tor zu schießen, wurden nicht ausgenutzt. Das erste Tor wurde von Gorelov in der 18. Minute geschossen. Er war derjenige, der wenige Minuten danach fast ein zweites Tor schoss, aber der Ball flog neben das leere Tor. In dem Moment hat Kosov noch eine Chance nicht ausgenutzt, nach seinem Schuss hat der Torwart der Gastmannschaft den Ball zur Ecke pariert. Die Gastmannschaft hat gefährlich gekontert. Einige Minuten vor der Pause hat Stoppok einen Kopfball Richtung Tor des „Automobilist“ geschossen. Die zweite Hälfte verlief vorteilhaft für die Gastmannschaft. Aber das Unentschieden blieb bestehen. Das Spiel war in einer warmen und freundschaftlichen Atmosphäre verlaufen und endete mit einem Unentschieden. Es war ein ehrenwertes Unentschieden für das „Automobilist“ Team, da ihr Gegner der diesjährige Sieger des DDR-Pokals ist.
Ingo Petz, der vielen vielleicht als einer der Stadionführer und vor allem als Kenner osteuropäischer Fanszenen bekannt ist, hat mir diesen Spielbericht geschickt.
Rund um dieses Freundschaftsspiel in Zhitomir gibt es noch eine witzige Geschichte. Denn das Unionteam hat als Gastgeschenk ein Akkordeon erhalten, da in Zhitomir wohl eine bekanntere Akkordeonfabrik war. Dieses Akkordeon hat den Weg aber sehr wahrscheinlich nicht nach Berlin gefunden, sondern soll vor Ort einem jungen geschenkt worden sein.
Am 26.7. fand dann noch das Spiel in Sotschi statt, das Union mit 1:2 verlor. Wobei der Gegner mir nicht ganz klar ist. Die Berliner Zeitung spricht in einer Meldung von einer Auswahl der Gewerkschaften, das Neue Deutschland von einer Nachwuchsauswahl der Gewerkschaften und das Gegner-Archiv des 1. FC Union Berlin von U21-Auswahl der RSFSR.
Am Ende dürfte das egal gewesen sein, denn die Reise dürfte tatsächlich eher so etwas wie eine Auszeichnung gewesen sein. Wann kam man als Normalbürger schon mal nach Sotschi ans Schwarze Meer. Oder wie sagte Günter Mielis so schön: “Wir brauchten damals nichts zu bezahlen. Man las uns wirklich jeden Wunsch von den Lippen ab.” Schade, dass die echte Belohnung in Form des Europapokals dann im August und September durch den Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR geraubt wurde.
Union startete in die Oberliga-Saison 1968/69 dann mit eher gemischte Gefühlen, denn eine Reihe von Stammspielern hatte sich verletzt und die Kader waren damals noch nicht so breit wie heute. Dazu schrieb die Berliner Zeitung am 14. August 1968:
“Erfreuliches und weniger Erbauliches wussten Paul Fettback und Werner Schwenzfeier zu melden. Zu den positiven Seiten ist die Erweiterung des Stadions an der Alten Försterei um etwa 1000 Stehplätze zu zählen. Auf dem frisch aufgeschütteten Damm wurden fünf Stehplatztraversen fertiggestellt. Bis Oktober sollen die Bauarbeiten beendet sein, so dass 18.000 Zuschauer den Spielen beiwohnen können.
Dagegen wird Werner Schwenzfeier schon vor dem Anpfiff zum ersten Spiel am Sonnabend gegen den FC Hansa Rostock von Aufstellungssorgen geplagt. Nach Hoge, der das Wadenbein brach, stehen nun auch Stoppok, Hillmann und Uentz auf der Verletztenliste. “Darunter litt selbstverständlich unsere Vorbereitung, zumal wir uns vorgenommen hatten, durch neue Aufstellungsvarianten (Lauck und Betke) unseren Sturm zu verstärken.”
Union stieg am Ende der Saison ab. Aber das ist eine andere Geschichte.
Daniel Roßbach | |||
Sebastian Fiebrig |