Matthias Schwartz (ZfL) und Heike Winkel (Bundeszentrale für politische Bildung) unterhalten sich über ihren gemeinsam mit Nina Weller (ZfL) herausgegebenen Band »After Memory. World War II in Contemporary Eastern European Literatures« (de Gruyter 2021). In ihrem Gespräch ergründen sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa. ———————— Um die Jahrtausendwende gab es einen regelrechten Boom der Erinnerungsliteratur, der von einer vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung flankiert wurde. Ausgehend von den Gegebenheiten in Westeuropa etablierte sich der von Maurice Halbwachs geprägte Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Aber lässt sich dieses Modell, das von einer ungebrochenen staatlichen und generationellen Kontinuität ausgeht, auf die postsozialistische Situation in Osteuropa übertragen? Diese kann in zweierlei Hinsicht als eine ›nach der Erinnerung‹ beschrieben werden, denn sie folgte auf die offizielle sozialistische Erinnerungskultur, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer ›Bruderstaaten‹ ein jähes Ende fand, sowie auf eine lange Zeit des verpassten innerfamiliären Gesprächs über die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Anders als in Westeuropa, wo das Gedenken an den Holocaust im Zentrum der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg stand, überlagern sich in den osteuropäischen Erinnerungskulturen verschiedene Gegenstände der Erinnerung. Die Beschäftigung mit NS-Vernichtungskrieg einerseits und stalinistischer Gewaltherrschaft andererseits kreist dabei häufig um die Frage, was es heißt, Opfer beider Systeme zu sein. Während die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch für den westlichen Erinnerungsdiskurs eine nahezu ungebrochene affektive Identifikation als Opfer oder Nachkomme der Opfer des Zweiten Weltkriegs festgestellt hat, betont Ernst van Alphen in seinem Beitrag zum Sammelband die Unmöglichkeit einer positiven Identifikation mit der Rolle als Volksverräter, die den Opfern der Gulags vom Staat zugeschrieben wurde. Immer wieder wird die Doppelrolle als Opfer und Täter verhandelt, die in Diskussionen wie um Stepan Bandera in der Ukraine oder die polnische »Heimatarmee« eine große Aktualität hat. In den Romanen von Radka Denemarková und Szczepan Twardoch beispielsweise widersetzen sich die gewöhnlichen Held*innen den von außen an die Literatur herangetragenen Forderungen, moralische Vorbilder zu liefern oder nationale Narrative zu bedienen. Ein umfassender Blick auf die literarische Landschaft Osteuropas zeigt allerdings auch, dass Literatur keineswegs immer ein Medium der kritischen Distanz ist. Mitunter wird sie im Sinne revisionistischer Aneignungen genutzt, um zu vereinfachen und nationalistische Diskurse mitzugestalten. Auf dem Gebiet der alternativen Geschichte und der Konstruktion heroischer Männlichkeiten ist diese Komplizenschaft im Falle Russlands heute besonders offensichtlich. Die in fast allen osteuropäischen Gesellschaften zunehmende nostalgische Verklärung der Vergangenheit und der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg schließlich kann als Folge einer durch staatliche Zensur und gesellschaftliche Tabus verzerrten Erinnerung interpretiert werden, die die Vergangenheit leichter affektiv besetzbar und für politische Zwecke mobilisierbar macht. ———————— Die Slawistin Heike Winkel ist Referentin in der Projektgruppe Mittel-, Ost- und Südosteuropa bei der BzpB. Zuvor arbeitete sie als Koordinatorin des Projekts »Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte« beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und war von 2004 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Dort leitet er die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch« und »Anpassung und Radikalisierung«. www.zfl-berlin.org
Matthias Schwartz (ZfL) und Heike Winkel (Bundeszentrale für politische Bildung) unterhalten sich über ihren gemeinsam mit Nina Weller (ZfL) herausgegebenen Band After Memory. World War II in Contemporary Eastern European Literatures (de Gruyter 2021). In ihrem Gespräch ergründen sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa.
————————
Um die Jahrtausendwende gab es einen regelrechten Boom der Erinnerungsliteratur, der von einer vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung flankiert wurde. Ausgehend von den Gegebenheiten in Westeuropa etablierte sich der von Maurice Halbwachs geprägte Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Aber lässt sich dieses Modell, das von einer ungebrochenen staatlichen und generationellen Kontinuität ausgeht, auf die postsozialistische Situation in Osteuropa übertragen? Diese kann in zweierlei Hinsicht als eine ›nach der Erinnerung‹ beschrieben werden, denn sie folgte auf die offizielle sozialistische Erinnerungskultur, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer ›Bruderstaaten‹ ein jähes Ende fand, sowie auf eine lange Zeit des verpassten innerfamiliären Gesprächs über die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs.
Anders als in Westeuropa, wo das Gedenken an den Holocaust im Zentrum der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg stand, überlagern sich in den osteuropäischen Erinnerungskulturen verschiedene Gegenstände der Erinnerung. Die Beschäftigung mit NS-Vernichtungskrieg einerseits und stalinistischer Gewaltherrschaft andererseits kreist dabei häufig um die Frage, was es heißt, Opfer beider Systeme zu sein. Während die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch für den westlichen Erinnerungsdiskurs eine nahezu ungebrochene affektive Identifikation als Opfer oder Nachkomme der Opfer des Zweiten Weltkriegs festgestellt hat, betont Ernst van Alphen in seinem Beitrag zum Sammelband die Unmöglichkeit einer positiven Identifikation mit der Rolle als Volksverräter, die den Opfern der Gulags vom Staat zugeschrieben wurde.
Immer wieder wird die Doppelrolle als Opfer und Täter verhandelt, die in Diskussionen wie um Stepan Bandera in der Ukraine oder die polnische »Heimatarmee« eine große Aktualität hat. In den Romanen von Radka Denemarková und Szczepan Twardoch beispielsweise widersetzen sich die gewöhnlichen Held*innen den von außen an die Literatur herangetragenen Forderungen, moralische Vorbilder zu liefern oder nationale Narrative zu bedienen. Ein umfassender Blick auf die literarische Landschaft Osteuropas zeigt allerdings auch, dass Literatur keineswegs immer ein Medium der kritischen Distanz ist. Mitunter wird sie im Sinne revisionistischer Aneignungen genutzt, um zu vereinfachen und nationalistische Diskurse mitzugestalten. Auf dem Gebiet der alternativen Geschichte und der Konstruktion heroischer Männlichkeiten ist diese Komplizenschaft im Falle Russlands heute besonders offensichtlich. Die in fast allen osteuropäischen Gesellschaften zunehmende nostalgische Verklärung der Vergangenheit und der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg schließlich kann als Folge einer durch staatliche Zensur und gesellschaftliche Tabus verzerrten Erinnerung interpretiert werden, die die Vergangenheit leichter affektiv besetzbar und für politische Zwecke mobilisierbar macht.
————————
Die Slawistin Heike Winkel ist Referentin in der Projektgruppe Mittel-, Ost- und Südosteuropa bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Zuvor arbeitete sie als Koordinatorin des Projekts »Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte« beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und war von 2004 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Dort leitet er die Projekte Weltfiktionen post/sozialistisch und Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg.
————————
Das Buch:
WeiterfĂĽhrende Literatur:
Aleida Assmann: Gedächtnis-Formen, in: bpb.de, 26.8.2008
Svetlana Boym: Nostalgia and its Discontents, in: The Hedgehog Review 9.2 (2007), 7–18
Aleksandr Etkind: Warped Mourning: Stories of the Undead in the Land of the Unburied. Stanford: Stanford University Press 2013
Wiener Slawistischer Almanach 85 (2020): Körper, Gedächtnis, Literatur in (post-)totalitären Kulturen, hg. von Susanne Frank und Franziska Thun-Hohenstein
Maurice Halbwachs: The Collective Memory. New York: Harper & Roy Colophon Books 1980
Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012
Matthias Schwartz: Im ewigen Replay der Welten. Zu Szczepan Twardochs kontrafaktischen Geschichtsfiktionen ›jenseits des Endes der Zeit‹, in: Riccardo Nicolosi, Brigitte Obermayr, Nina Weller (Hg.): Interventionen in die Zeit. Kontrafaktisches Erzählen und Erinnerungskultur. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, 89–116
Matthias Schwartz, Nina Weller (Hg.): Appropriating History. The Soviet Past in Belarusian, Ukrainian and Russian Popular Culture. Bielefeld: transcript (erscheint im Herbst 2023)
Nina Weller: Großmacht-Samizdat. Michail Jur’evs ›Drittes Imperium‹ als alternativgeschichtliche Zivilisationsutopie, in: Roman Dubasevych, Matthias Schwartz (Hg.): Sirenen des Krieges. Diskursive und affektive Dimensionen des Ukraine-Konflikts. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2020, 227–257
»Unsere Großväter würden uns verfluchen«, Gespräch mit Heike Winkel, in: volksbund.de, 18.3.2023