Alles Geschichte - History von radioWissen   /     SINTI UND ROMA - Geschichte einer Minderheit

Description

UrsprĂŒnglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie ĂŒber viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunĂ€chst geduldet, erklĂ€rte man die "Fremden" bald zu Vogelfreien. Danach kam es immer wieder zu Tötungen und Vertreibungen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma offiziell registriert. Auf diese Akten griffen spĂ€ter die Nationalsozialisten zurĂŒck, als sie sie verfolgten und massenhaft ermordeten.Der 19. Dezember ist der jĂ€hrliche Gedenktag fĂŒr die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma. Autorin: Maike Brzoska (BR 2022)

Subtitle
Duration
00:22:57
Publishing date
2023-12-19 09:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/sinti-und-roma-geschichte-einer-minderheit/2087802
Contributors
  Maike Brzoska
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2087802/c/feed/sinti-und-roma-geschichte-einer-minderheit.mp3
audio/mpeg

Shownotes

UrsprĂŒnglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie ĂŒber viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunĂ€chst geduldet, erklĂ€rte man die "Fremden" bald zu Vogelfreien. Danach kam es immer wieder zu Tötungen und Vertreibungen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma offiziell registriert. Auf diese Akten griffen spĂ€ter die Nationalsozialisten zurĂŒck, als sie sie verfolgten und massenhaft ermordeten.Der 19. Dezember ist der jĂ€hrliche Gedenktag fĂŒr die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma. Autorin: Maike Brzoska (BR 2022)

Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak

Linktipps:

RESPEKT (2023): Geschichte der Sinti und Roma
In Europa leben ca. 12 Millionen Sinti und Roma. Damit sind sie die grĂ¶ĂŸte ethnische Minderheit auf dem Kontinent. Sie erleben laufend Diskriminierung und Vorurteile. Woher kommt das? Über die Geschichte der Sinti und Roma in Europa.
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Planet Wissen (2022): Ausgegrenzt und benachteiligt – Vorurteile gegen Sinti und Roma
Sinti und Roma leben seit mehr als 600 Jahren in Deutschland und trotzdem denken viele, dass sie nicht dazugehören. Der Blick auf sie ist immer noch getrĂŒbt durch Vorurteile, die mit der heutigen LebensrealitĂ€t der Menschen nichts zu tun haben. Im Schulunterricht wird die Geschichte und der Völkermord an diesen Volksgruppen im Nationalsozialismus kaum erwĂ€hnt.
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Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 00:43 – Im Hungerstreik
TC 02:01 – Die UrsprĂŒnge der Sinti und Roma
TC 03:36 – Ein Volk mit vielen Namen
TC 04:48 – Mittelalterliche Handelsbeziehungen und Geleitbriefe
TC 07:04 - Vogelfrei
TC 09:40 – Systematische Diskriminierung im Kaiserreich
TC 11:58 - Im Nationalsozialismus: die lebensgefĂ€hrliche „Rassenfrage“
TC 13:53 - Im Vernichtungslager
TC 15:41 – „Porajmos“ – Ein vertuschter Völkermord
TC18:42 – Eine gebrochene Generation
TC 20:37 – Angst trotz Anerkennung
TC 22:42 – Outro 

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro 

Podcast-Ansage:

Hier ist radioWissen. UrsprĂŒnglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie ĂŒber viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunĂ€chst geduldet, erklĂ€rte man die „Fremden“ bald zu Vogelfreien. Zuerst wurden sie ausgrenzt, dann vertrieben und getötet. Im Nationalsozialismus wurden sie systematisch ermordet. Dieses Unrecht wurde lange geleugnet.

Musik: Z8020108141 In der Finsternis 0‘30

TC 00:43 – Im Hungerstreik 

SPRECHERIN

April 1980 in der GedenkstĂ€tte des Konzentrationslagers Dachau. Die MĂ€nner liegen auf einfachen Pritschen, ein Kissen im Nacken, manche haben sich mit einer Decke zugedeckt. In ihren Blicken: feste Entschlossenheit. Es sind zwölf Sinti, die an diesem geschichtstrĂ€chtigen Ort im Hungerstreik sind. Darunter auch Überlebende des Porajmos, wie der Völkermord durch die Nationalsozialisten auf Romanes genannt wird, bei dem Hunderttausende Roma und Sinti getötet wurden.

01 O-TON (Rose)

Es waren fĂŒnf Überlebende beteiligt, von Auschwitz, von Dachau, und mit Mauthausen war einer beteiligt, der hat die Zwangssterilisation erfahren, der wurde unfruchtbar gemacht.

Musik: Z8020108141 In der Finsternis 0‘29

SPRECHERIN

Sagt Romani Rose im Interview mit dem Historiker Jan Selling fĂŒr das Dokumentationszentrum RomArchive (englisch ausgesprochen). Rose gehört zu den JĂŒngeren des Hungerstreiks. Er hat 13 Familienangehörige im Holocaust verloren. Mit der Protestaktion wollen sie auf anhaltendes Unrecht aufmerksam machen. Ihre Forderung: die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten.  

02 O-TON (Rose)

Dieses Verbrechen musste im Sinne des Strafrechts und des internationalen Rechts durch die Bundesregierung anerkannt werden. (13)

Musik: Z8019016129 Dark figures 0‘31

TC 02:01 – Die UrsprĂŒnge der Sinti und Roma

SPRECHERIN

Es war der traurige Höhepunkt einer mindestens 600 Jahre langen und sehr wechselhaften Geschichte der Minderheit auf deutschem Boden. UrsprĂŒnglich stammen Sinti und Roma aus Nordwestindien. Von dort zogen sie vermutlich zunĂ€chst nach Persien und dann nach SĂŒdeuropa, sagt die Historikerin Karola Fings. Sie leitet die „EnzyklopĂ€die des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“ der UniversitĂ€t Heidelberg.

03 O-TON (Fings)

Es gibt verschiedene Theorien, aber die fĂŒr mich plausibelste ist die, dass es so eine relativ kohĂ€rente Auswanderung gegeben hat einer Gruppe aus Nordwestindien dann bis nach Persien, und die sich relativ lange im Byzantinischen Reich aufgehalten hat. Und erst mit dem Vordringen der osmanischen Truppen so ab dem 15. Jahrhundert begann dann die Migration nach Westeuropa. 

SPRECHERIN

Diese Migrationsroute belegen vor allem sprachwissenschaftliche Forschungen.

04 O-TON (Fings)

Das Romanes hat sehr alte Wortbestandteile, und da gibt es sehr viele Wortbestandteile zum Beispiel aus dem Griechischen, woraus man dann schließen kann, dass es dort lange Aufenthaltszeiten gegeben hat. 

SPRECHERIN

Viele Sinti und Roma sprechen noch heute Romanes, auch Marcella Reinhardt. 

05 O-TON (Reinhardt)

Latscho Diewes lautrenge. Miro Lab hi Marcella Reinhardt me hum i Sintezza me hum i Vorsitzende vom Regionalverband Deutscher Sinti und Roma in Augsburg, Schwaben.

SPRECHERIN

Übersetzt bedeutet das:

06 O-TON (Reinhardt) 

Schönen guten Tag an alle, ich bin eine Sintizza, mein Name ist Marcella Reinhardt. Ich bin Vorsitzende vom Regionalverband Deutscher Sinti und Roma Schwaben. 

TC 03:36 – Ein Volk mit vielen Namen 

SPRECHERIN

Die Bezeichnungen „Sinti und Roma“, oder „Sintizze und Romnja“ in der weiblichen Form, sind von der Minderheit selbst gewĂ€hlt. Den Begriff „Zigeuner“ lehnen sie ganz klar ab.

07 O-TON (Reinhardt)

Der Name Zigeuner ist fĂŒr uns eine Fremdbezeichnung. Mit diesem Namen sind unsere Verwandten in die Gaskammern getrieben worden und grausam ermordet und ich möchte mit dieser Fremdbezeichnung nicht genannt werden. 

SPRECHERIN

Mittlerweile haben sich die Bezeichnungen Sinti und Roma weitgehend durchgesetzt, auch wenn es immer noch ErklÀrungsbedarf gibt. So deutet der Doppelname bereits an, dass es sich keineswegs um eine einheitliche Gruppe handelt. 

08 O-TON (Fings)

Das sind einmal die deutschen Sinti, die haben eine ganz eigene Geschichte, weil das diejenigen sind, die tatsĂ€chlich in den deutschsprachigen Landen seit dem Mittelalter leben. Sie haben einen eigenen Romanes-Dialekt, das ist die eine große Gruppe, die in Deutschland lebt und eben sehr lange ansĂ€ssig ist. Und die andere Gruppe, die mit Roma bezeichnet wird, das sind diejenigen, die meist so aus SĂŒdosteuropa kamen. Und der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma hat sich damals dafĂŒr entschieden, diese beiden grĂ¶ĂŸten Gruppen als namenfĂŒhrende Begriffe zu verwenden. 

TC 04:48 – Mittelalterliche Handelsbeziehungen und Geleitbriefe

SPRECHERIN

Als die Sinti im spĂ€ten Mittelalter in die deutschsprachigen LĂ€nder einwanderten, wurden sie zunĂ€chst ĂŒberwiegend positiv aufgenommen. 

09 O-TON (Fings)

Es entstanden Handelsbeziehungen und auch zum Teil persönliche Beziehungen. Es gab Schutzbriefe, das war ja damals ĂŒblich, dass es einen Schutzherren gab; einen Grafen, einen Herzog, einen Kaiser oder einen König, die eben in der Lage waren, bestimmte Gruppen unter ihre Fittiche zu nehmen. 

Musik: Z8036179109 Servants and farmhands B  0‘45

SPRECHERIN

Einen solchen Geleitbrief gewĂ€hrte zum Beispiel König Sigismund 1423 – in diesem Fall nicht fĂŒr einen Sinto, sondern fĂŒr den Rom Ladislaus Waywoda.

ZITATOR (förmlich vorgetragen)

Sooft daher dieser Ladislaus Waywoda und sein Stamm in unser Herrschaftsgebiet gelangt, vertrauen wir fest auf die von euch geleisteten TreuegelĂŒbde und tragen Euch auf, daß Ihr eben diesen (
) vor jedem Grenzhindernis und jeder Schwierigkeit schĂŒtzen und bewahren sollt. 

10 O-TON (Fings)

In den Genuss kamen Sinti eben auch zum Teil, weil man die Handelsbeziehungen schĂ€tzte oder weil es eine gewĂŒnschte Migration war. Aber natĂŒrlich waren diese mittelalterlichen Gesellschaften sehr brĂŒchig und sehr schwierig und es gab ja zivilisatorisch sehr starke UmbrĂŒche. 

SPRECHERIN

Immer wieder kĂ€mpften Regenten um BesitztĂŒmer und Herrschaftsgebiete. Wandernde Gruppen waren irgendwann nicht mehr geduldet. 

11 O-TON (Fings)

Man versuchte staatliche Macht herzustellen und man sonderte dabei diejenigen aus, die man als nicht passend ansah. Und es gab ja in den deutschen Landen damals ein großes Heer an mobilen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und nach Brot ihre Territorien wechselten und das wollte man eben gerade unterbinden. Man wollte die Leute an ein Territorium festbinden, man wollte dafĂŒr sorgen, dass bestimmte Regeln durchgesetzt werden. Und in diese MĂŒhlen gerieten dann auch Sinti und Roma. 

Musik: Z8036179130 After the battle 0‘33

TC 07:04 – Vogelfrei 

SPRECHERIN

1498 erklĂ€rte der Freiburger Reichstag Sinti und Roma reichsweit zu Vogelfreien. Das bedeutete, jedermann konnte gegen sie vorgehen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu mĂŒssen. Es kam zu brutalen Übergriffen; es gab Hinrichtungen, MĂ€nner wurden gerĂ€dert und gevierteilt. Allerdings – das zeigen neuere Forschungen – war das eher die Ausnahme als die Regel. 

12 O-TON (Fings)

Also Sinti haben sich in den 300 Jahren in den deutschen Landen angesiedelt und etabliert. Man kann anhand der Quellen eine große Bandbreite an Berufen feststellen, also im Handel und im Handwerk. Das wichtigste Gewerbe fĂŒr Sinti in der frĂŒhen Neuzeit was das MilitĂ€r, viele stiegen auch in hohe OffiziersrĂ€nge auf. 

SPRECHERIN

Einen ersten grĂ¶ĂŸeren Wendepunkt stellte die Zeit der AufklĂ€rung ab dem 18. Jahrhundert dar. 

13 O-TON (Fings)

Die AufklĂ€rung brachte fĂŒr Sinti und Roma nichts Gutes, weil sich da der Rassismus ausgeprĂ€gt hat. Es war die Zeit auch des Kolonialismus und man fing an die Menschen zu sortieren. Es wurde die Rasse erfunden und in dem Zusammenhang interessierten sich dann auch auf einmal Forscherinnen und Forscher sehr stark fĂŒr Sinti und Roma, weil man sie als die Fremden im eigenen Land identifizierte. 

SPRECHERIN

Der Kulturhistoriker und Statistiker Heinrich Grellmann etwa publizierte Ende des 18. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Werk und beschrieb darin ihre Sitten und GebrÀuche.

14 O-TON (Fings)

Sie gelten auf einmal als Naturvölker, die unzivilisiert sind, die nicht in der Lage sind sozusagen am Prozess der europÀischen Zivilisation teilzunehmen, die sich nicht verÀndern können, die nicht lernen können. 

SPRECHERIN

Diese Eigenschaften seien der Minderheit von Geburt an gegeben, meinte Grellmann. 

15 O-TON (Fings)

Und das war das Verheerende, weil damit jede IndividualitÀt negiert wurde und den Menschen auch kein angemessener Platz mehr in dieser Gesellschaft zugewiesen wurde, sondern im Gegenteil: Da entstand dann das stÀndige Aussortieren und Ausgrenzen.

Musik: Z8015897120 FrĂŒhling 0‘20

SPRECHERIN

Wandernde Sinti und Roma bekamen vielerorts keine Arbeitsgenehmigungen mehr, durften nur außerhalb der Stadtmauer siedeln, wenn sie nicht gleich vertrieben wurden. Gleichzeitig gab es aber auch viele Angehörige der Minderheit, die etabliert waren, auch im 1871 neu gegrĂŒndeten Deutschen Reich. 

TC 09:40 – Systematische Diskriminierung im Kaiserreich 

16 O-TON (Fings)

Viele gingen im Ersten Weltkrieg fĂŒr den Kaiser an die Front. Man fĂŒhlte sich durch und durch deutsch. Man kennt ja die Fotos in bayerischer Lederhose, in Uniformrock oder im Kommunionkleid, es gab bĂŒrgerliches Ambiente, es gab natĂŒrlich auch Armut, aber es gab eben eine ganz breite Palette an Lebensformen und ökonomischen Situationen. 

Musik: Z8019017135 Passing landscapes 0‘47

SPRECHERIN

Von staatlicher Seite hatte allerdings schon im Kaiserreich eine diskriminierende Sonderbehandlung begonnen. Die AuslĂ€nderpolitik verschĂ€rfte sich, die Frage, wer eine Reichsangehörigkeit bekommt und wer nicht, spielte eine zunehmend grĂ¶ĂŸere Rolle. Sinti und Roma versuchte man auszusondern, dasselbe galt fĂŒr Polen und Juden. 1899 war in MĂŒnchen bereits eine sogenannte „Zigeunerzentrale“ eingerichtet worden. Mit modernsten Methoden erfasste die Behörde alle, die sie als „Zigeuner“ klassifizierte, in einer Datenbank. Auf diese Weise registrierte man sonst nur SerienstraftĂ€ter. 

17 O-TON (Fings)

Und in Bayern wurde dann auch 1926 das sogenannte Zigeuner- und Arbeitsscheuen-Gesetz erlassen. Dieses Gesetz wurde schon zur Weimarer Zeit kritisiert, weil es rechtlich im Grunde genommen nicht zulÀssig war, und trotzdem hat dieses Gesetz einen sehr breiten Konsens gefunden. 

SPRECHERIN

Die Folge dieses Gesetzes war, dass viele Angehörige der Minderheit aus Bayern flohen, zum Beispiel ins Rheinland.

18 O-TON (Fings)

Ich kenne selber einige Familien, deren Großeltern zu dieser Zeit dann ins Rheinland geflohen sind, weil es in Bayern nicht möglich war, einen Wandergewerbeschein zu bekommen, also die wirtschaftlichen Existenzen waren dadurch auch bedroht. 

SPRECHERIN

Die Zeit im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik war einerseits geprÀgt von behördlicher Diskriminierung, andererseits konnten sich aber weiterhin viele Sinti und Roma gesellschaftlich behaupten oder zumindest ihre Situation verbessern, indem sie in andere Teile Deutschlands wanderten. Das Ànderte sich dramatisch, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. 

TC 11:58 – Im Nationalsozialismus: Am Rande der Existenz die lebensgefĂ€hrliche „Rassenfrage“

19 O-TON (Fings)

1933 war dann in der Tat ein ganz massiver Einbruch auch fĂŒr Sinti und Roma, weil jetzt war ja ein Staat gebildet worden, bei dem die sogenannte Rassenfrage an erster Stelle auf der Tagesordnung stand. Und natĂŒrlich zielten die Nationalsozialisten vor allem auf die jĂŒdische Bevölkerung, das war die grĂ¶ĂŸte Gruppe im Reich, die man als Fremdrasse markierte. Aber eben auch Sinti und Roma merkten recht frĂŒh, dass sie nun stark unter Druck gerieten und in ihrer Existenz bedrĂ€ngt wurden. 

Musik: Z8023845106 War is coming 0‘19

SPRECHERIN

Mit den NĂŒrnberger Rassegesetzen von 1935 erklĂ€rten die Nationalsozialisten Sinti und Roma zur „fremden Rasse“. FĂŒr die etwa 20.000 Angehörigen der Minderheit im Reich hatte das gravierende Folgen. 

20 O-TON (Fings)

Sie wurden dann nicht nur von der Polizei total erfasst, sondern auch von der sogenannten rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle, an deren Spitze ein Arzt und Psychiater, Dr. Robert Ritter, stand. Diese rassenhygienische Forschungsstelle hatte sich dann zur Aufgabe gesetzt, alle Sinti und Roma im Deutschen Reich rassistisch zu erfassen, zu katalogisieren, zu vermessen, StammbĂ€ume wurden angelegt ab 1936. Und die rassenhygienische Forschungsstelle war auch maßgeblich verantwortlich fĂŒr die Radikalisierung der Verfolgung wĂ€hrend des Nationalsozialismus. Also sie entschieden mit, wenn irgendwelche Gesetze vorbereitet wurden oder Erlasse, sie fertigten Guthaben an, ob jemand ein sogenannter „Zigeuner“ oder „Zigeunermischling“ war. Und diese ganze Arbeit hatte dann natĂŒrlich auch gravierende Auswirkungen im Hinblick auf das Verfolgungsgeschehen. 

TC 13:53 – Im Vernichtungslager

SPRECHERIN

Mit Kriegsbeginn 1939 durften Sinti und Roma ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. Das war gewissermaßen das Vorspiel fĂŒr die spĂ€teren Deportationen in die Konzentrationslager. 

21 O-TON (Fings)

Es war schon relativ frĂŒh klar, dass Sinti und Roma aus dem Reich deportiert werden sollten und es fand dann auch tatsĂ€chlich die erste Deportation im Mai 1940 statt, das waren etwa zweieinhalb Tausend Menschen, eher aus dem Westen und Nordwesten des Reiches, die dann in das besetzte Polen deportiert wurden.

SPRECHERIN

Aber auch den anderen Angehörigen der Minderheit setzten die Nationalsozialisten immer mehr zu. Oft mussten sie ihre Arbeit aufgeben und stattdessen Zwangsarbeit leisten. 

22 O-TON (Fings)

Und im Dezember 1942 ordnete dann Heinrich Himmler an, dass alle Sinti und Roma im Deutschen Reich in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. 

SPRECHERIN

Systematisch wurden alle Sinti und Roma in die Vernichtungslager verschleppt. Frauen, Kinder, MĂ€nner – selbst, wenn diese gerade fĂŒr die Nationalsozialisten an der Front kĂ€mpften. 

23 O-TON (Fings)

Die wurden direkt mit der Uniform ins Lager eingewiesen. Und im Lager selber waren entsetzliche ZustĂ€nde, so dass im Lager viele verstarben, entweder an Gewaltverbrechen, vor Hunger, an Krankheiten, die nicht behandelt wurden. Oder sie fielen den medizinischen Experimenten des berĂŒchtigten Arztes Josef Mengele zum Opfer. Und nur einige wenige wurden dann selektiert und zur Zwangsarbeit in andere Lager ĂŒberstellt, RavensbrĂŒck oder Buchenwald beispielsweise. Und alle anderen wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordet. 

Musik: C1587770106 Thoughtful gloom (reduziert) 1‘01

TC 15:41 – “Porajmos” – Ein vertuschter Völkermord 

SPRECHERIN

Von den etwa 20.000 Sinti und Roma, die im Deutschen Reich lebten, wurden etwa drei Viertel ermordet. Insgesamt wurden im deutsch besetzten Europa und in den LĂ€ndern, die mit NS-Deutschland kollaborierten, Hunderttausende verfolgt und ermordet. Bis heute lĂ€sst sich eine annĂ€hernd genau Zahl der gesamten Todesopfer unter den europĂ€ischen Sinti und Roma nicht ermitteln. SchĂ€tzungen gehen von bis zu einer halben Million aus. Der Völkermord - auf Romanes „Porajmos“ genannt - war eine Grausamkeit unvorstellbaren Ausmaßes – die dennoch in der Nachkriegszeit so gut wie keine Beachtung fand. Stattdessen standen Sinti und Roma weiterhin unter Generalverdacht. Die Polizei erfasste sie immer noch in ihren Sonderabteilungen, sagt die Historikerin Yvonne Robel. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle fĂŒr Zeitgeschichte Hamburg.

24 O-TON (Robel) 

Die berĂŒhmteste eigentlich in MĂŒnchen, aber in Hamburg gab es eine Sonderabteilung innerhalb der Kriminalpolizei, die „Dienststelle fĂŒr Landfahrer“ oft hieß, die gezielte Verfolgung von Personen, die irgendwie als Angehörige der Minderheit kenntlich geworden waren, betrieben. 

SPRECHERIN

Auch in anderen staatlichen Institutionen, Ämtern und Behörden, stießen Sinti und Roma oft auf Ablehnung. Vielerorts arbeiteten noch dieselben Personen, die die Angehörigen der Minderheit wĂ€hrend der NS-Zeit als „Zigeuner“ klassifiziert hatten und somit fĂŒr Deportationen verantwortlich waren. Ähnliches konnte man in der Wissenschaft beobachten.

25 O-TON (Robel)

Es gibt die Akteure, die im Nationalsozialismus unter anderem in der rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle unter Robert Ritter gearbeitet haben, die auch in der Nachkriegszeit dann weiterarbeiteten, ihre Studien betrieben, die an Personen forschten, weiter ihr Wissen verbreiteten – und als Experten wahrgenommen wurden, da gab es ĂŒberhaupt gar keinen Bruch.

SPRECHERIN

SchuldeingestĂ€ndnisse, gar eine Anerkennung des Völkermords gab es von diesen sogenannten Experten nicht. Stattdessen hieß es beispielsweise, Sinti und Roma wĂ€ren in Konzentrationslager gebracht worden, weil sie Kriminelle gewesen seien. Auch ein Urteil des obersten deutschen Gerichtes spiegelte das wider. 

26 O-TON (Robel)

Es gab 1956 dieses Grundsatzurteil beim Bundesgerichtshof, das besagte, dass alle Verfolgung von Sinti und Roma vor 1943 nicht aus rassistischen GrĂŒnden erfolgt sei und deshalb nicht entschĂ€digungsrelevant war [
]. Das ist ein fatales Urteil fĂŒr viele Überlebende gewesen, die auf Hilfe angewiesen wĂ€ren, weil sie aus VerfolgungsgrĂŒnden arbeitsunfĂ€hig waren; körperlich versehrt, Hilfe brauchten fĂŒr ihre Familien und so weiter. 

SPRECHERIN:

Wegen der fehlenden Aufarbeitung wirkten auch in der Bevölkerung die alten Vorurteile und Stereotype fort. 

SPRECHER

Zitat aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs 1956: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur KriminalitĂ€t, besonders zu DiebstĂ€hlen und BetrĂŒgereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist."

27 O-TON (Robel)

Diese nationalsozialistische Schuldzuweisung, asozial zu sein, aus der Norm der Volksgemeinschaft aus sozialen GrĂŒnden auszuscheren, diese Zuweisung war extrem wirkmĂ€chtig in der Nachkriegszeit. Und die war so wirkmĂ€chtig, dass sie sich in die EntschĂ€digungsgesetzgebung eingeschrieben hat.  

Musik: Z8032962101 Aufbruch und Z8032962103  Aufbruch (reduced 2)   0‘39

TC 18:42 – Eine gebrochene Generation 

SPRECHERIN

Die Situation Ă€nderte sich erst in den 1970er, 80er Jahren. Vor allem weil nun auch Angehörige der Minderheit selbst fĂŒr ihre Rechte kĂ€mpften. 

ZITATOR

Aufruf! An alle deutschen Sinti! Es ist langsam an der Zeit, auf Ungerechtigkeiten, die die Sinti heute schon wieder erdulden mĂŒssen, aufmerksam zu machen!

SPRECHERIN

In Heidelberg veröffentlichte das Zentral-Komitee der Sinti Westdeutschland einen Aufruf. In der DDR gab es nur ein paar hundert Angehörige der Minderheit. In Heidelberg mit dabei war auch Romani Rose. 

28 O-TON (Rose)

Sie mĂŒssen wissen, die Ă€lteren Leute, die Generation meiner Eltern, die waren durch die Erfahrung des Nationalsozialismus gebrochen. (....) Und erst die Nachkriegsgeneration, die mit einem anderen Bewusstsein in Staat und Gesellschaft aufgewachsen ist, konnte sich mit diesem Kapitel des Unrechts durch die Nationalsozialisten auseinandersetzen. (10)

SPRECHERIN 

Der Hungerstreik und andere Protestaktionen zeigten Wirkung. Im MĂ€rz 1982 empfing Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des kurz zuvor gegrĂŒndeten Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Anschließend sagte er die Worte, auf die viele Angehörige der Minderheit lange gewartet hatten: 

ZITATOR

Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefĂŒgt worden. Sie wurden aus rassischen GrĂŒnden verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermordes erfĂŒllt.

SPRECHERIN

Die ErklÀrung Schmidts war ein Wendepunkt im Umgang mit Sinti und Roma in der Bundesrepublik, sagt Yvonne Robel. 

29 O-TON (Robel)

Das war jetzt nicht nur Symbolpolitik, sondern das war auf einer moralischen Ebene extrem wichtig dieser Schritt.

Musik: Z8014761143 New beginning 0‘58

TC 20:37 – Angst trotz Anerkennung

SPRECHERIN

1995 wurden die deutschen Sinti und Roma als eine der vier alteingesessenen Minderheiten in Deutschland anerkannt, neben Friesen, Sorben und der dĂ€nischen Minderheit. Aber trotz alledem lebten und leben die alte Stereotype und Vorurteile in der Bevölkerung fort. Das wurde deutlich, als sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele osteuropĂ€ischen Staaten neuformierten. Alte Nationalismen flammten auf, es kam zu Vertreibungen und Fluchtwellen, vor allem wĂ€hrend des Kosovo-Kriegs Ende der 1990er. Viele Sinti und Roma leugneten deshalb ihre Zugehörigkeit zur Minderheit. Das machen viele auch heute noch. Auch Marcella Reinhardt hat das lange Zeit getan – aus Angst, sie könnte ihren Job verlieren. 

31 O-TON (Reinhardt)

Ich hatte, als ich meinen Job angefangen habe, gesagt, ich bin Italienerin.

Musik: Musik: Z8020108141 In der Finsternis 1‘09

SPRECHERIN

Denn immer noch sind Vorurteile und negative Stereotype weit verbreitet. 

32 O-TON (Reinhardt)

Die Diskriminierung gibt es immer noch, das hat sich leider in den Generationen nicht verÀndert. Wir haben Jugendliche, die sich sehr schwer tun mit diesen Vorurteilen, gerade auf dem Bildungsweg ist es sehr schwer. 

SPRECHERIN

Aber Marcella Reinhardt sieht auch viel Positives, insbesondere die Arbeit der BĂŒrgerrechtsbewegung und des Zentralrats habe hierzu beigetragen.

33 O-TON (Reinhardt)

Wenn ich bedenke, dass unsere Leute frĂŒher sich nie getraut haben, in der Mitte der Gesellschaft sich zu zeigen oder auch andersrum gesehen, wir waren in der Mitte der Gesellschaft nicht erwĂŒnscht und heute begrĂŒĂŸt man uns, wir machen zusammen Veranstaltungen, wir gedenken zusammen an die Opfer des Holocaust und wir arbeiten zusammen gegen Rassismus, da muss ich sagen, wir haben sehr große Erfolge erreicht. 

TC 22:42 – OutroÂ