Alles Geschichte - History von radioWissen   /     HOLOCAUST-GEDENKTAG - Anita Lasker-Wallfisch, die Cellistin von Auschwitz

Description

Ihr Überleben verdankte Anita Lasker-Wallfisch wohl nur der Tatsache, dass sie Cello spielen konnte. Als Cellistin im MĂ€dchenorchester von Auschwitz ĂŒberlebte sie das NS-Vernichtungslager. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Carola Zinner (BR 2014)

Subtitle
Duration
00:22:02
Publishing date
2024-01-27 03:10
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/holocaust-gedenktag-anita-lasker-wallfisch-die-cellistin-von-auschwitz/2089269
Contributors
  Carola Zinner
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2089269/c/feed/holocaust-gedenktag-anita-lasker-wallfisch-die-cellistin-von-auschwitz.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Ihr Überleben verdankte Anita Lasker-Wallfisch wohl nur der Tatsache, dass sie Cello spielen konnte. Als Cellistin im MĂ€dchenorchester von Auschwitz ĂŒberlebte sie das NS-Vernichtungslager. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Carola Zinner (BR 2014)

Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Caroline Ebner, Peter Weiß, Anita Lasker-Wallfisch
Technik: Cordula Wanschura, Monika GsÀnger
Redaktion: Thomas Morawetz

Linktipps:


ARD alpha: Zeuge der Zeit

Was bleibt, wenn die letzten Zeitzeuginnen und -zeugen nicht mehr am Leben sind? Wie können ihre Erlebnisse der Nachwelt zugĂ€nglich gemacht werden? Die PortrĂ€treihe "Zeuge der Zeit" versteht sich als filmisches GedĂ€chtnis. In den intensiven Interviews der Filmschaffenden Andreas Bönte und Michaela Wilhelm-Fischer im Sinne einer "Oral History" berichten Zeitzeugen teilweise zum ersten Mal ausfĂŒhrlich ĂŒber ihr Leben und machen auf diese Art Geschichte begreifbar.
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BR2 (2023): Die Quellen sprechen

Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von TĂ€tern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europĂ€ischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. ErgĂ€nzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv fĂŒr die Dokumente, ZeitzeugengesprĂ€che und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut fĂŒr Zeitgeschichte MĂŒnchen-Berlin.
ZUM PODCAST

BR: Die RĂŒckkehr der Namen

Mit dem Projekt "Die RĂŒckkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit UnterstĂŒtzung des Kulturreferats der Landeshauptstadt MĂŒnchen an 1.000 MĂŒnchnerinnen und MĂŒnchner aus allen Opfergruppen erinnern, die wĂ€hrend des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER.


Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzĂ€hlt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrĂŒhrend, witzig und oft ĂŒberraschend.

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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15: Intro
TC 02:46 – Klopapierrollen statt Cellobogen
TC 06:24 – Mit dem Gesetz im Konflikt
TC 08:30 – Deportation nach Ausschwitz
TC 09:55 – Musik ist Musik
TC 14:40 – Ein Abschied fĂŒr immer
TC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erben
TC 20:36 – BrĂŒcken bauen zwischen Verschiedenheiten
TC 21:19 - Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15: Intro

MUSIK CD 018520 W01
Benjamin Britten Simple Symphony English Chamber Orchestra

ERZÄHLER
Die „Simple Symphony“ von Benjamin Britten. In dieser Aufnahme aus dem Jahr 1968 dirigiert der Komponist selbst das English Chamber Orchestra, mit dem ihn eine langjĂ€hrige Zusammenarbeit verbindet. 

MUSIK hoch

ERZÄHLER
Zum Orchester gehören mehrere Frauen - das ist fĂŒr ein Spitzenensemble in jener Zeit durchaus keine SelbstverstĂ€ndlichkeit. Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch gehört sogar zu den GrĂŒndern des Londoner Orchesters, das Ende der 40er-Jahre entstand. Zu dieser Zeit hatte die gebĂŒrtige Deutsche bereits ein bewegtes Schicksal hinter sich: Sie hatte das Konzentrationslager ĂŒberlebt - als Mitglied des „MĂ€dchenorchesters von Auschwitz“.  

MUSIK hoch und weg
MUSIK CD 701140 003

(Gerichtsaussage nach Protokoll:)
ZITATOR (= Col Backhouse)
Ihren vollen Namen, bitte.

ZITATORIN (= Anita Lasker)
Anita Lasker.

ZITATOR
Wo haben Sie bis zu Ihrer Verhaftung gewohnt?

ZITATORIN
In Breslau, Straße der SA 69.

ZITATOR
Wann gingen Sie nach Auschwitz?

ZITATORIN
Ich war eineinhalb Jahre im GefÀngnis und ging von da im Dezember 1943
nach Auschwitz.

ZITATOR
In welchem Block lebten Sie, als Sie nach Auschwitz kamen?

ZITATORIN
Ich lebte in Block 12, mit der Kapelle.

ERZÄHLER
LĂŒneburg, 1. Oktober 1945 - Tag 13 im ersten Gerichtsverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher. Mangels geeigneter RĂ€ume hat das britische MilitĂ€rgericht eine Turnhalle zum Gerichtssaal umfunktioniert. Hier macht die 20-jĂ€hrige Anita Lasker nun ihre Zeugenaussage.

(wie oben)
ZITATOR
Haben Sie Selektionen fĂŒr die Gaskammer gesehen?

GERÄUSCH beginnt unter nachfolgendem Text

ZITATORIN
Ja, ich habe viele Selektionen gesehen. Ich spielte im Lagerorchester, und wir mussten am Tor spielen. Das Tor lag genau gegenĂŒber der Eisenbahnstation. Dort kamen die Transporte an, und wir konnten alles beobachten. Der Transport kam an, die SS fĂŒhrte die Selektionen durch, und wir waren nur knapp 50 Meter entfernt.

MUSIK/GERÄUSCH GEHT UNTER ZUSPIELUNG 1 ZU ENDE

ZUSPIELUNG  1
„Man hat sozusagen in einen Abgrund geschaut, wo nicht alle Leute reinschauen. Wir sind da in einer Welt gewesen, die nicht hierher gehört im Grunde, nicht wahr.“

TC 02:46 – Klopapierrollen statt Cellobogen

ERZÄHLER
London im Herbst 2013. Anita Lasker-Wallfisch sitzt im Wohnzimmer ihres Reihenhauses im Stadtteil Kensal Rise. Ein gemĂŒtlicher Raum, etwas abgewohnt:  Auf dem Tisch ein ĂŒberquellender Aschenbecher und ein halbleeres PĂ€ckchen Zigaretten, an der Wand Fotos aus lĂ€ngst vergangenen Zeiten: Schwarz-weiße Illustrationen zur Geschichte, die Anita Lasker-Wallfisch erzĂ€hlt. Es ist keine schöne Geschichte, denn sie fĂŒhrt zurĂŒck ins Deutschland der 30er- und 40er-Jahre, wo Menschen jĂŒdischer Herkunft beschimpft, bedroht, angegriffen, weggesperrt, gequĂ€lt und umgebracht wurden - darunter auch Anitas Familie.

ZUSPIELUNG 2
„Der Tod war immer um die Ecke. Ich habe immer gehofft, dass ich es ĂŒberleben werde irgendwie.“
 
ERZÄHLER
Anita, Jahrgang 1925, wuchs in Breslau auf. Der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter eine talentierte Musikerin. Die Familie fĂŒhrte ein gutbĂŒrgerliches Leben - ein glĂŒckliches Leben, wie sich Anita und ihre beiden Schwestern spĂ€ter erinnern. Doch ab 1933 wurde alles anders:
Die staatlich verordnete Drangsalierung von Menschen jĂŒdischer Herkunft nahm immer mehr zu. Der Mob bekam freie Hand fĂŒr Gemeinheiten aller Art.

MUSIK – und unter nachfolgendem Text zu Ende CD 921900 005

ERZÄHLER
Anita, die begeistert Cello spielt, findet im Jahr 1938 in ganz Breslau keinen Lehrer mehr, der sie unterrichten darf oder will. So schicken die Eltern ihre begabte JĂŒngste nach Berlin zum berĂŒhmten Cellisten Leo Rostal. Anita ist glĂŒcklich in Berlin - doch als die organisierte Gewalt gegen Juden mit den November-Pogromen einen ersten Höhepunkt erreicht, kehrt sie zurĂŒck zur Familie nach Breslau. Die Ă€lteste Schwester, Marianne, ist zu diesem Zeitpunkt bereits nach England emigriert, wo die ĂŒberzeugte Zionistin nun auf die Weiterreise nach PalĂ€stina wartet. WĂ€hrenddessen bemĂŒht sich der Vater zuhause verzweifelt darum, auch den Rest der Familie im sicheren Ausland unterzubringen.

ZUSPIELUNG 3 *
„Man fragt immer, warum seid ihr nicht frĂŒher weggegangen - man kann sich nicht vorstellen wie schwierig das war, auszuwandern. Man hat gemeint, man geht irgendwo hin auf ein Konsulat, man holt sich
 - es war eine große Schwierigkeit – und wer will schon von FlĂŒchtlingen ĂŒberrannt werden, nicht wahr? England, Amerika, da gab’s eine Quote - es ist uns nicht gelungen. Wir sind einfach steckengeblieben.“

ERZÄHLER
1941 beendet Anita die Schule und wird zusammen mit ihrer Schwester Renate zum Arbeitsdienst in eine Papierfabrik beordert. Seite an Seite mit Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern aus Polen und Frankreich steht die 16-JĂ€hrige nun von morgens bis abends an der Werkbank.

ZITATORIN
Ich entwickelte eine geradezu mÀrchenhafte Geschwindigkeit im Etikettenkleben. SpÀter durfte ich auch an der Maschine arbeiten. Ich habe wohl Millionen von Klopapierrollen fabriziert.

ERZÄHLER
So schreibt Anita Lasker-Wallfisch in ihrer 1996 erschienenen Autobiographie, wo sich neben den eigenen Erinnerungen auch die ihrer Schwester Renate finden, dazu amtliche Schreiben und AuszĂŒge der Briefe, mit denen die Familie die in England lebende Schwester so lange wie möglich auf dem Laufenden hielt. Hier ist nachzulesen, wie die Eltern im April 1942 abtransportiert wurden, wie die beiden MĂ€dchen allein in der Wohnung zurĂŒckblieben - und mit welcher Energie und Tapferkeit sie den Kampf ums Überleben antraten.
TC 06:24 – Mit dem Gesetz im Konflikt

ZUSPIELUNG 4 *
„Wir waren ziemlich freche Kinder, meine Schwester und ich. Ich meine, es hat uns nie gepasst, dazusitzen und zu warten bis uns jemand abholt und ermordet, wissen Sie, das war kein sehr angenehmer Gedanke. Wir haben immer versucht irgendwas zu machen, nicht einfach zu sitzen und zu warten.“

ERZÄHLER
Eines der Verbote, gegen die die MĂ€dchen sich auflehnen, betrifft den Kontakt zwischen den jĂŒdischen Arbeitern und den Franzosen, die in der Papierfabrik arbeiten.

ZUSPIELUNG 5 *
„In der Wand von der jĂŒdischen Toilette war ein Loch, und auf der anderen Seite war der Aufenthaltsraum von den französischen Kriegsgefangenen, und dieses Loch war sozusagen unser Briefkasten.“
ERZÄHLER
Neben kleinen Botschaften wandern durch dieses Loch bald auch amtlich aussehende Formulare: Die Lasker-Schwestern haben begonnen, Urlaubsscheine zu fÀlschen und verhelfen damit einigen der Franzosen zur Freiheit.

ZUSPIELUNG 6 *
„Aber ich bin wahrscheinlich zu oft auf die Toilette gegangen, denn eines Tages war dieses Loch zugemauert. Wir haben gewusst, dass man uns auf der Spur ist. Und dann haben wir, Kinder wie wir waren, gesagt, jetzt laufen wir weg. Und haben auch mit gefĂ€lschten Papieren versucht, in die unbesetzte Zone von Frankreich zu gelangen. Das war natĂŒrlich eine, wenn ich jetzt zurĂŒckdenke, eine vollkommen wahnsinnige Idee - aber alles war besser als zu sitzen und zu warten, bis so ein Mistkerl kommt und einen verhaftet, nicht wahr?“

ERZÄHLER
Noch auf dem Bahnsteig - die Koffer sind bereits im Zug nach Paris - werden die beiden verhaftet und festgesetzt. Dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, wird sich im Nachhinein als GlĂŒck erweisen.

ZUSPIELUNG 7 *
„Wenn wir einfach als Juden geschnappt worden wĂ€ren, wĂ€ren wir sofort durch den Schornstein gegangen. Aber wir waren dann quasi Verbrecher: UrkundenfĂ€lschung, Feindesbeihilfe und Fluchtversuch.“

ERZÄHLER
Das heißt: GefĂ€ngnis statt Konzentrationslager. Und es heißt: Justiz statt Gestapo.

ZUSPIELUNG 8 *
„Zu unserem GlĂŒck war eine schlechte AtmosphĂ€re zwischen diesen beiden Instanzen, und das ist uns offensichtlich zum GlĂŒck geworden. Wir wollten eine lange, lange Strafe haben, wenn möglich. Das klingt wahnsinnig
 Es war nicht angenehm im GefĂ€ngnis, aber wenigstens wird man nicht ermordet.“

TC 08:30 – Deportation nach Ausschwitz

ERZÄHLER
Mit dem Urteilsspruch jedoch ist die Zeit in der Untersuchungshaft zu Ende. Die beiden MĂ€dchen werden getrennt voneinander und ohne vom Schicksal der anderen zu wissen ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Allerdings nicht, wie sonst ĂŒblich, im Rahmen eines Sammeltransportes, sondern in einem GefĂ€ngniszug speziell fĂŒr StraftĂ€ter.  

ZUSPIELUNG 9
„Das hieß auch, dass wir nicht mit so einem Riesentransport von Juden angekommen sind. Wir sind einfach direkt ins Lager rein mit anderen Verbrechern. Wir haben keine Selektion gehabt.“

MUSIK CD 701140 002

ERZÄHLER
Die ĂŒblichen entwĂŒrdigenden Aufnahmezeremonien aber werden auch ihnen nicht erspart. Ausziehen, Rasur, TĂ€towierung.

ZITATORIN
Ich weiß heute nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, dem MĂ€dchen, das mich tĂ€towierte, zu erzĂ€hlen, dass ich Cello spielte. Unter den vorherrschenden Bedingungen schien das nicht gerade von welterschĂŒtternder Bedeutung zu sein. Die Reaktion war umso erstaunlicher: „Das ist ja phantastisch. Stell dich abseits, bleib dort stehen und warte. Du wirst gerettet werden!“
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, tat aber, was sie mir sagte, stellte mich abseits von allen anderen und wartete - ohne Vorstellung, worauf ich eigentlich wartete.
Endlich kam die ErklĂ€rung, und zwar in Gestalt einer gutaussehenden Dame in Kamelhaarmantel und Kopftuch. Sie begrĂŒĂŸte mich und stellte sich vor. Alma RosĂ©.
MUSIK geht unter Zuspielung 10 zu Ende

TC 09:55 – Musik ist Musik

ZUSPIELUNG 10 *
„Das war die Tochter von Arnold RosĂ©, der war jahrelang Konzertmeister bei den Wiener Philharmonikern gewesen. Und ihr Onkel war Gustav Mahler, ich meine, die kam aus einem musikalischen Background, der geradezu kolossal war, nicht wahr.“

ERZÄHLER
Alma RosĂ© hatte sich in den 20er- und 30er-Jahren als Geigerin einen Namen gemacht und ein Damenorchester gegrĂŒndet und geleitet. Nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager war das bald publik geworden. Prompt spannten Aufseherinnen die „Neue“ fĂŒr ihre Zwecke ein.

ZUSPIELUNG 11 *
„Was ich erst viel spĂ€ter gelernt habe, dass es in jedem Lager ein - man kann es nicht Orchester nennen - eine Kapelle gab. Außer im Frauenlager. Das war anscheinend so eine Art „Competition“ zwischen den Lagern: Wir wollen auch Musike haben! Die haben Musik, wir wollen auch, verstehen Sie. So war das ein bisschen.“

MUSIK – setzt unter den letzten Worten des nachfolgenden Textes ein
C 500008 W02

ERZÄHLER
Alma RosĂ© ĂŒbernahm im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau die Leitung des Orchesters, das kurz zuvor „auf Befehl von oben“ gegrĂŒndet worden war.

ZITATORIN
Eines Tages kam ein SS-Offizier in den Block und rief nach der „Cellistin“. Er brachte mich zum Orchester-Block, und da sah ich Alma RosĂ© wieder - und neben ihr viele Leute, alle mit Instrumenten in der Hand. Meine AufnahmeprĂŒfung begann. Alma gab mir ein Cello und sagte: „Spiel mir was vor.“ Es war ungefĂ€hr zwei Jahre her, seit ich zuletzt ein Cello in der Hand gehabt hatte! Ich ĂŒbte also ein paar Minuten - und spielte


MUSIK hoch – und unter nachfolgendem Text zu Ende


oder besser: versuchte, den langsamen Satz aus dem Boccherini-Konzert zu spielen. Nachdem ich das hinter mir hatte, wurde ich Mitglied des Orchesters. Eigentlich hat keinerlei Gefahr bestanden, nicht aufgenommen zu werden. Bis zu meiner Ankunft bestand das Orchester aus nichts als Sopran-Instrumenten. Da gab es einige Geigen, Mandolinen, Gitarren, Flöten und zwei Akkordeons.

ZUSPIELUNG 12
„Das war mein großes GlĂŒck, denn ich war einzigartig im Lager. Wenn da schon jemand gewesen wĂ€re, der Cello spielt, hĂ€tte man mich nicht unbedingt gebraucht, nicht wahr. Man konnte mich nicht entbehren, denn dann hĂ€tte man wieder keine tiefen Noten gehabt, nicht wahr.“

MUSIK MilitĂ€rmarsch Schubert D-Dur, Bearbeitung fĂŒr Orchester 
E 0002140 004  (Aufnahme von 1955)

ZITATORIN
Alma war begeistert. Endlich hatte sie einen Bass im Orchester. So fing meine „Karriere“ als die einzige Cellistin des Lager-Orchesters an - oder richtiger: der „Kapelle“. Und zugleich mein Leben in dieser kleinen Gemeinschaft, in der rĂŒhrende Kameradschaftlichkeit, bleibende Freundschaften und giftiger Hass in gleichem Maße nebeneinander gediehen.

ZUSPIELUNG 13 *
„Es war ein vollkommen verrĂŒcktes Orchester, war das natĂŒrlich, aber immerhin: Es hat existiert.“

ZITATORIN
Ein typischer Tag in unserem „Kommando“ - wie man es nannte - sah wie folgt aus: Wir standen eine Stunde vor Tagesanbruch auf, und einige von uns hatten die Aufgabe, NotenstĂ€nder und StĂŒhle „nach vorne“ zu tragen. Wenn wir alle wieder im Block waren, kam der ZĂ€hlappell. Danach gab es etwas zu trinken; man aß, was einem gelungen war, sich vom vorigen Abend aufzusparen. Dann marschierten wir zum Tor und spielten. Denn unsere Hauptaufgabe war es, uns jeden Morgen und jeden Abend am Haupteingang aufzustellen und MĂ€rsche fĂŒr die Tausende von HĂ€ftlingen zu spielen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. (ironisch) NatĂŒrlich war es von allergrĂ¶ĂŸter Wichtigkeit, dass diese Kolonnen fein sĂ€uberlich und im Gleichschritt ausmarschierten! DafĂŒr lieferten wir die Musik. Wir saßen da, unzulĂ€nglich bekleidet, manchmal bei Temperaturen unter null, und spielten. Danach wurden StĂŒhle und StĂ€nder zurĂŒckgebracht und wir fingen im Block mit unseren Proben an. Unser Repertoire bildeten deutsche Schlager, die gerade in Mode waren, verschiedene StĂŒcke aus Operetten, „An der schönen blauen Donau“, und so weiter.

MUSIK „Das gibt’s nur einmal
“ 7705707 000

ZUSPIELUNG 14
„Die Alma, glaub ich, hat nie realisiert, oder nie gezeigt, dass sie weiß, wo sie eigentlich sich befindet. Man hat das GefĂŒhl gehabt, dass sie das ignoriert. Hier wird Musik gemacht, nicht wahr. Und wir haben sie nicht besonders geliebt, sie war irrsinnig streng. Aber viele Jahre nachher haben wir alle kapiert, dass eigentlich die Alma die wichtigste Person war in unserem Leben. Denn mit ihrer Disziplin hat sie uns sozusagen auf einem Niveau gehalten, das gar nichts damit zu tun gehabt hat, was da eigentlich los war in dem Lager, nicht wahr

Und sie hat immer von ihrem Vater gesprochen, von dem Arnold, die haben eine sehr enge Beziehung gehabt, und ihr grĂ¶ĂŸtes Lob war: „Das könnten wir meinem Vater vorspielen!“ Sie war also vollkommen fixiert auf ihren Vater, und dass man hier anstĂ€ndig Musik macht. Weil Musik ist Musik und das lassen wir uns nicht kaputtmachen. Das war so ihre Methode.“

MUSIK hoch und unter dem Anfang des nachfolgenden Textes zu Ende

TC 14:40 – Ein Abschied fĂŒr immer

ERZÄHLER
Der kurze Höhenflug des Orchesters endete mit dem plötzlichen Tod von Alma Rosé im April 1944. Bis heute sind die UmstÀnde umstritten. War es eine Infektion? Hatte eine Neiderin sie vergiftet? Oder handelte es sich um eine Lebensmittelvergiftung?

MUSIK CD 701140 001

ZITATORIN
Welche Sonderstellung Alma im Lager innehatte, zeigte sich an der Tatsache, dass wir nach ihrem Tod ins Revier gerufen wurden, wo wir an ihrem auf einem weißen Tuch aufgebahrten Leichnam vorbeidefilierten. Selbst die SS schien ĂŒber diesen Verlust erschĂŒttert.

MUSIK geht unter nachfolgendem Text zu Ende

ERZÄHLER
Im Oktober 1944 löste sich das Orchester auf - die HĂ€ftlinge wurden von Auschwitz nach Bergen-Belsen transportiert. Anita gelingt es, mit ihrer Schwester Renate zusammenzubleiben, die sie im Lager wiedergetroffen hat - zu zweit, wissen die MĂ€dchen, haben sie eine deutlich bessere Chance, den Winter zu ĂŒberstehen. Und tatsĂ€chlich gelingt es ihnen, unter unmenschlichen Bedingungen. 
Am 15. April 1945 endet der Alptraum: Britische Truppen rĂŒcken in Bergen- Belsen ein und befreien die halb verhungerten Gefangenen. 
Ein halbes Jahr spĂ€ter macht Anita ihre Aussage vor dem britischen Tribunal in LĂŒneburg. Dann verlĂ€sst sie Deutschland. Es soll, so nimmt sie sich vor, ein Abschied fĂŒr immer sein: von allem, was deutsch ist.
 
TC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erben

ZUSPIELUNG 15
„Ja, wir waren sehr kritisch, meine Schwester und ich. Ich erinnere mich noch, wir haben ĂŒber Leute sofort irgendwie
 ‚Ach, der wĂŒrde sich sehr schlecht benehmen – und der wĂ€re ok‘ und so weiter. Wir haben sozusagen einen 6. Sinn bekommen fĂŒr Menschen. Aber das haben wir uns bald abgewöhnt, denn das ist eine sehr negative - man kann nicht so kritisch sich alle Leute anschauen.“

ERZÄHLER
Trotz der bitteren Erfahrungen gelingt es Anita, sich in England ein neues Leben aufzubauen, zu dem neben der GrĂŒndung einer Familie auch die Karriere im English Chamber Orchestra gehört.

ZUSPIELUNG 16
„Das war GlĂŒckssache alles: Als ich nach England gekommen bin, hab ich bald viele Leute kennengelernt, und Musiker kennengelernt; und dann bin ich in das gleiche Haus gezogen, wo Musiker waren. Es ist alles so von alleine irgendwie passiert, per Zufall, yes. Ich mein, ich hab verpasst, acht Jahre verpasst, die man im Grunde braucht. Also, ich hab viel GlĂŒck gehabt hier in England. Sozusagen ich bin zufĂ€llig am richtigen Platz gewesen.“

ERZÄHLER
Aus der in den 50er-Jahren geschlossenen Ehe mit dem Pianisten Peter Wallfisch gingen zwei Kinder hervor, eine Tochter und ein Sohn, Raffael Wallfisch, heute selbst ein namhafter Cellist. Raffael war es auch, der in den 90er-Jahren den Anstoß gab, dass seine Mutter die Erinnerungen an die Vergangenheit schriftlich festhielt. 

ZUSPIELUNG 17
„Denn eines Tages hat sich herausgestellt, dass wir eigentlich nie ĂŒber diese Zeit gesprochen haben. So ist das entstanden. Dann hab ich das fĂŒr meine Kinder gemacht - und habe also sehr amateurhaft etwas zusammengestellt. Und die Geschichte war so, dass jemand von der BBC ist zu mir gekommen ist, die ein Programm ĂŒber Theresienstadt gemacht hat. Und die hat gemeint, dass ich ihr dabei helfen kann. Ja, nein, das kann ich nicht, denn ich war nicht dort, aber ich habe fĂŒr meine Kinder blablabla Auschwitz, Belsen und so weiter. Da hat sie das mitgenommen und sich‘s angesehen und hat gesagt, weißt du, wenn du nichts dagegen hast, könnten wir das vielleicht in 20 Minuten einteilen und du liest das dann im Radio. Und das ist auch geschehen - so fing das Ganze an.“

ERZÄHLER
1994 veröffentlichte Anita Lasker-Wallfisch ihr Buch „Inherit the Truth“, das zwei Jahre spĂ€ter unter dem Titel „Ihr sollt die Wahrheit erben“ auf Deutsch erschien. Mit der schriftlichen Aufarbeitung des Geschehenen wird es ihr langsam wieder möglich, Kontakt zu Deutschland aufzunehmen -  und zu ihrer Muttersprache zurĂŒckzukehren, von der sie einst schwor, sie nie mehr zu verwenden. Weil sie erleben musste, wie in dieser Sprache Unmenschliches ausgesprochen, angeordnet und akzeptiert wurde. 

ZUSPIELUNG 18
„Zum Beispiel, als meine Eltern abgeholt worden sind, hat man versiegelt alles, einen Kuckuck draufgemacht, ja, auf alles, inklusive Kopfkissen. Und wir konnten keine Schublade mehr aufmachen und nichts. Dann bin ich zur Gestapo gegangen, unverschĂ€mt wie ich war. Und ich hab also einen Brief hier - die haben nicht mal eine Schreibmaschine: ‚Ungebeten kommt Anita Sarah Lasker auf die Gestapo, Beruf Arbeiterin, und bittet, dass man eine Schublade aufmacht. Abgelehnt!‘ Der Clou war - diese Wohnung ist also dann einem Deutschen gegeben worden: Wir waren im GefĂ€ngnis, alle waren weg, und der zieht in die Wohnung ein und der Koch-Ofen ist nicht mehr da. Da ist doch die Gestapo zu mir ins GefĂ€ngnis gekommen, und hat mich verhört: Was mit dem Ofen passiert ist!? Sag ich, mein Vater hat ihn nicht abmontiert und sich auf dem RĂŒcken geschnallt und ist deportiert worden mit dem Ofen. Das wollten die wissen. Der Ofen gehört
 Aber die ganze Idee: Dass also alles, was uns gehört hat, gehört jetzt mir. Und das war akzeptiert. Ich meine, es ist sehr schwer das heute nachzuvollziehen, was das fĂŒr eine MentalitĂ€t war.“

ERZÄHLER
Umso wichtiger ist es ihr, davon zu berichten - vor Schulklassen, in Seminaren, in Fernseh- und Radiosendungen wie in der dokumentarischen BR-Produktion "Die Quellen sprechen", aus der auch in dieser Sendung einige Ausschnitte zu hören waren. Die Menschen sollen daran erinnert werden, wozu der Mensch fÀhig ist - nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.  

MUSIK CD 70114 002

TC 20:36 – BrĂŒcken bauen zwischen Verschiedenheiten

ZUSPIELUNG 19
„Ich meine, die Welt sieht nicht so wunderbar aus, auch heute, nicht wahr, man stĂŒrzt sich wieder auf andere Gruppen und so weiter. Was ich den Leuten mitgeben will: Dass es wichtig ist, wichtiger denn je, BrĂŒcken zu bauen zwischen den Verschiedenheiten, die wir haben als Menschen. Es ist ja geradezu eine irrsinnige Idee - wenn wir alle gleich wĂ€ren, wĂ€re es ja furchtbar langweilig, nicht. Wir sind nun mal sehr verschiedene Menschen. Da gibt es Juden, da gibt es TĂŒrken, da gibt es Deutsche - bevor sie sich totschlagen, sollen sie miteinander Kaffee trinken gehen. (Lacht) Das erzĂ€hle ich der Jugend, verstehen Sie?“

MUSIK hoch, bis Ende

ZUSPIELUNG 20
„Jetzt mach ich Ihnen eine Tasse Kaffee, ja? Wenn Sie wirklich fertig sind mit
“ (Schritte)

TC 21:19 - Outro