Alles Geschichte - History von radioWissen   /     HOLOCAUST-GEDENKTAG - Von der Entrechtung zur Ermordung

Description

Es begann mit Diskriminierungen und endete in der Ermordung. Über Jahre hinweg betrieb das NS-Regime die Ausgrenzung der jüdischen Deutschen, isolierte sie gesellschaftlich, vernichtete sie wirtschaftlich, deportierte sie dann während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Osten und ermordete sie dort. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2021)

Subtitle
Duration
00:23:28
Publishing date
2024-01-27 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/holocaust-gedenktag-von-der-entrechtung-zur-ermordung/2089261
Contributors
  Renate Eichmeier
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2089261/c/feed/holocaust-gedenktag-von-der-entrechtung-zur-ermordung.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Es begann mit Diskriminierungen und endete in der Ermordung. Über Jahre hinweg betrieb das NS-Regime die Ausgrenzung der jüdischen Deutschen, isolierte sie gesellschaftlich, vernichtete sie wirtschaftlich, deportierte sie dann während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Osten und ermordete sie dort. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2021)

Credits
Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Burchard Dabinnus
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Ernst Grube (Zeitzeuge), Dr. Edith Raim (Historikerin)

Linktipps:

ARD alpha (2023): Was ist der Holocaust?

Was ist der Holocaust und wie konnte es dazu kommen? JETZT ANSEHEN

Deutschlandfunk (2021): 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – „Eine einseitige Liebeserklärung“

Aus dem Jahr 321 stammt der erste Beleg für eine jüdische Gemeinde im heutigen Deutschland. Für Jüdinnen und Juden ist das ein Anlass zum Feiern und zum Erinnern. Ein Grund zum Jubeln sei das Jubiläum aber nicht: zu traurig sei die jüdisch-deutsche Geschichte – und oft auch die Gegenwart. ZUM BEITRAG


BR: Die Rückkehr der Namen

Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER.

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 01:40 – Die Anfänge der Rassenpolitik
TC 04:30 – Raub der Existenzgrundlage
TC 06:48 – Das Schicksal vom Überlebenden Ernst Grube
TC 08:41 – Auftakt des Holocaust
TC 10:46 – Ausgestoßen aus Gesellschaft und Wirtschaft
TC 11:47 – Das grausame System
TC 18:55 – Massenmorde
TC 22:48 - Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:


TC 00:15 – Intro

MUSIK Nostalgia motif 1 M0010633 037 (0.50)

O1 Ernst Grube
Und die Grundsatzfrage war, werden wir uns wiedersehen. Immer wieder: Werden wir uns wiedersehen, ohne mehr zu wissen. Aber wir hatten natürlich über die Ausgrenzungserlebnisse schon erfahren, dass man uns nicht wollte.

ERZÄHLERIN:
Ernst Grube war 8 Jahre alt und lebte in einem jüdischen Kinderheim in München, als die nationalsozialistischen Machthaber 1941 begannen, jüdische Deutsche Richtung Osten zu verschleppen – in die Gebiete, die sie seit Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzt hatten. Aus München ging am 20. November die erste Deportation weg. Am Güterbahnhof im Stadtteil Milbertshofen wurden etwa 1000 Menschen unter dem Vorwand der "Evakuierung" in einem Zug abtransportiert. Unter ihnen auch Kinder aus dem jüdischen Kinderheim, Spielkameraden von Ernst Grube.

O2 Ernst Grube
Es war eine Zeit der der Trauer, und wir haben also nicht gewusst, wo es hingeht. Und wir haben nicht gewusst, ob wir uns wiedersehen werden, und wir haben nach dem Krieg erfahren, dass sie alle fünf Tage nach der Deportation in Kaunas, Litauen, umgebracht wurden.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.20)

TC 01:40 – Die Anfänge der Rassenpolitik

ERZÄHLERIN:
Sofort nach der Machtübernahme 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Abschaffung der Weimarer Demokratie, der Errichtung von Konzentrationslagern, der Verfolgung von politisch Andersdenkenden und der Umsetzung ihrer Rassenpolitik. Über Zeitungen, Radio, Kinofilme propagierten sie das Feindbild der "jüdischen Rasse", des "niederträchtigen Juden", der die nichtjüdische, die sogenannte "arische Volksgemeinschaft" unterwandern, ausbeuten, zerstören wolle. Angehörige der jüdischen Gemeinden wurden per Volkszählung erfasst, jüdische Geschäftsleute durch Boykottaufrufe und Schlägertrupps der SS und SA terrorisiert, jüdische Beamte aus dem Staatsdienst gedrängt. 

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.27)

SPRECHER:
Juden, so hieß es in den Nürnberger Gesetzen von 1935, haben kein Stimmrecht mehr in politischen Angelegenheiten, dürfen keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, sie dürfen Nichtjuden nicht heiraten und auch keine sexuellen Beziehungen mit ihnen haben.

ERZÄHLERIN:
Die Nürnberger Gesetze lieferten eine diffuse Theorie, welche Menschen in der NS Ideologie als Juden galten. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Anzahl der jüdischen Großeltern. Die Betroffenen gerieten ins Visier der Nationalsozialisten als sogenannte Voll-, Dreiviertel-, Halb- oder Vierteljuden, Mischlinge 1. oder 2. Grades … Mit einer Vielzahl von antisemitischen Gesetzen und Verordnungen schufen die Nationalsozialisten eine pseudolegale Basis für die schrittweise Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus vielen Lebensbereichen.

MUSIK Structor Part 1 C1524640 (1.00)

ERZÄHLERIN
Auf immer mehr Parkbänken fanden sich Schilder "Nur für Arier" und an immer mehr Eingängen von Geschäften oder Restaurants: "Juden unerwünscht". Jüdische Kinder wurden aus öffentlichen Schulen rausgemobbt. Jüdischen Ärzten und Juristen die Berufsausübung erschwert. Jüdische Geschäftsleute wurden zum Billig-Verkauf ihrer Firmen gezwungen. Diese Verdrängung der jüdischen Bevölkerung nannte sich im NS-Jargon "Arisierung", abgeleitet von dem Begriff "Arier", und ging in der Regel einher mit materiellen Vorteilen für die nichtjüdischen Deutschen – so die Historikerin Edith Raim, die sich intensiv mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in NS-Deutschland auseinandergesetzt hat.

O3 Edith Raim
Das ist teilweise 'ne Maßnahme der Partei, teilweise ist's auch staatlich gelenkt, und teilweise geht es auch von privaten Initiativen im Grunde aus, also dass bestimmte, besonders attraktive Grundstücke oder Geschäfte oder sowas, dass da einfach die Juden unter Druck gesetzt werden, dass die diese Sachen verkaufen.

TC 04:30 – Raub der Existenzgrundlage

ERZÄHLERIN:
Viele wanderten aus. Denjenigen, die blieben oder bleiben mussten, wurde Schritt für Schritt die Existenzgrundlage entzogen. Im April 1938 bereiteten die Nationalsozialisten mit der systematischen Erfassung der jüdischen Vermögen die späteren flächendeckenden Enteignungen vor.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.30)

SPRECHER:
Jeder Jude im Sinne der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz – also der sogenannten Nürnberger Gesetze – und ebenso sein nichtjüdischer Ehegatte habe sein gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden, hieß es in der "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden". Ausgenommen seien Gegenstände des persönlichen Gebrauches, die keine Luxusgüter seien.

MUSIK Tango defect 1 C1482730 024 (0.40)

ERZÄHLERIN:
Anfang Juni 1938 riss die Baufirma Leonhard Moll die Münchner Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße im Stadtzentrum ab. Der neuromanische Prachtbau war Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. in der Nähe des Karlsplatzes errichtet worden. Offiziell wurde der Abbruch als städtebauliche Maßnahme begründet. Die jüdische Gemeinde musste die Synagoge und die angrenzenden Verwaltungs- und Wohngebäude gegen Zahlung einer Entschädigung der Stadt München überlassen.
Allen Mietern der Wohngebäude wurde gekündigt. Sie mussten ausziehen. Auch Ernst Grube lebte mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in einem der Gebäude, die der jüdischen Gemeinde gehörten.

O4 Ernst Grube
Nur bei uns war das so, dass eben der Vater nicht gegangen ist, dass er sich um die Kündigung also nun nicht so gekümmert hat und gesagt hat, ich bleib drin, ich geh nicht raus, die sollen uns eine Wohnung geben, so dass wir nach wenigen Wochen die einzigen waren, die in diesen zwei Häusern noch gewohnt hatten. Wir hatten damals 'ne Drei- oder Vierzimmerwohnung und man hat uns dann Licht gesperrt, Gas gesperrt, Wasser gesperrt. Und diese Situation war natürlich nicht haltbar, so dass uns dann die Eltern in das Kinderheim in München Schwabing gebracht haben.

TC 06:48 – Das Schicksal vom Überlebenden Ernst Grube

ERZÄHLERIN:
Ernst Grube war damals sechs Jahre, sein Bruder Werner acht und die kleine Ruth nur ein paar Monate alt. Der Vater kam aus Ostpreußen und war überzeugter Kommunist. Die Mutter stammte aus einer jüdischen Familie und arbeitete im jüdischen Krankenhaus in München – so dass das jüdische Kinderheim eine naheliegende Lösung für das Wohnproblem war.

O5 Ernst Grube
Es war ein schönes Heim mit einem Garten und mit einer guten Betreuung. Und das eigentlich wichtige ist das Kennenlernen jüdischen Lebens. Bei uns zuhause gab es das nicht. Die Mutter hat zwar gebetet, hat ihre Feste gefeiert und ihre Kerzen angezündet und wir standen so ein bisschen rum. Aber das war kein jüdisches Familienleben. Der Vater war von seiner Einstellung her Kommunist. Er hat das alles zwar sehr toleriert, aber jüdisches Leben, das war dann im Kinderheim.

ERZÄHLERIN:
Für die drei Geschwister begann eine schöne Zeit. Sie waren gut versorgt und lernten die jüdischen Feste kennen, Chanukka, Pessach, Purim, Laubhüttenfest. Und sie mochten ihre Betreuerinnen sehr gerne.

O6 Ernst Grube
Ich hab sie so positiv in Erinnerung, ohne dass ich jetzt die einzelnen Namen heute noch nennen kann, außer der Alice Bendix, der Leiterin,  und der Hedwig Jacobi. Sie waren einfach immer da und haben uns geholfen, als wir außerhalb des Heimes von Nachbarskindern öfters angepöbelt wurden, angeschrien wurden, als Judensau beschimpft. Sie haben das ganz super verstanden, uns darüber hinweg zu helfen.

MUSIK Structor Part 1 C1524640 011 (0.40)

TC 08:41 – Auftakt des Holocaust

ERZÄHLERIN:
Kurz nachdem Ernst Grube und seine Geschwister in das jüdische Kinderheim gekommen waren, brannten deutschlandweit Hunderte von Synagogen. Ende Oktober 1938 hatten die NS Machthaber polnische Juden aus dem Reichsgebiet abgeschoben, unter ihnen die Familie von Herschel Grynszpan, der daraufhin einen deutschen Diplomaten in Paris erschoss. Dieses Attentat diente als Vorwand für Gewaltaktionen im ganzen Land, organisiert von der NS Führung, getarnt als spontaner Ausbruch des Volkszorns gegen die jüdischen Nachbarn: In Zivil gekleidete Mitglieder von NS Organisationen zerstörten Synagogen, jüdische Geschäfte, Wohnungen, verprügelten die Bewohner, töteten viele und verschleppten Tausende in Konzentrationslager. Die Historikerin Edith Raim zur Bedeutung des inszenierten Gewaltausbruches.

O7 Edith Raim
Die Pogromnacht vom November 1938 ist der Auftakt eigentlich des Holocaust, weil es der Schritt in die Gewalt ist. Also vorher sind es Maßnahmen, Verordnungen, Gesetze, der Versuch, einfach die Juden aus Deutschland zu vertreiben. Es hat – das muss man auch sagen –
 bereits vorher natürlich gewalttätige Maßnahmen gegeben. Also es gibt, diese sogenannten Prangermärsche, wo zum Beispiel Juden, die Beziehungen zu nichtjüdischen Frauen, hatten durch den Ort geführt worden sind, geschlagen, bespuckt und verhaftet worden sind. Die Gewalt hat's natürlich vor 1938 auch gegeben, aber diese massive und umfassende Gewalt reichsweit – das ist wirklich was ganz ganz Neues gewesen.

ERZÄHLERIN:
Viele der jüdischen Männer, die in der Pogromnacht in Konzentrationslager gebracht wurden, überlebten die Haft nicht, andere kamen erst frei, nachdem sie eine Auswanderungserklärung unterschrieben hatten. Die Kosten für die Schäden der Novemberpogrome musste die jüdische Bevölkerung selbst übernehmen und eine Geldbuße in Höhe von einer Milliarde Reichsmark leisten. Die jüdischen Vermögen waren ja bereits im Frühjahr 1938 qua Gesetz erfasst worden. Nun mussten alle, die mehr als 5000 Reichsmark besaßen, 20 Prozent davon an ihr Finanzamt abführen. Wieder gab es eine Flut von diskriminierenden Regelungen.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.35)

TC 10:46 – Ausgestoßen aus Gesellschaft und Wirtschaft

SPRECHER
Eine der wichtigsten war die sogenannte "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938. Juden durften keinen Handel, kein Handwerk, kein Gewerbe mehr treiben. Sie durften keine Theater, Museen, Kinos, Freibäder und sonstige öffentliche Einrichtungen mehr betreten. Jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Juden durften keine Autos mehr besitzen und keinen Führerschein mehr haben.

O8 Edith Raim
Und es gibt noch jede Menge Schikanen, die dann da kommen. Also die dürfen dann keine Fotoapparate mehr, keine Radio Apparate und so weiter, sogar Fahrräder, dürfen sie nicht mehr haben, Führerscheine nicht mehr haben. Und ab dem 1.1.1939 werden sie gezwungen, diese Zwangsvornamen anzunehmen, also Israel und Sarah, und das wird auch in die Pässe vermerkt. Also sie sind sozusagen damit als Juden gekennzeichnet.

MUSIK Scarfaced C1568790 120 (1.05)

TC 11:47 – Das grausame System

ERZÄHLERIN:
Anfang September 1939 begann die NS Diktatur mit dem Einmarsch in Polen den Zweiten Weltkrieg, einen rassenideologischen Vernichtungskrieg – mit dem Ziel, die osteuropäischen Gebiete bis zum Ural zu erobern, dort sogenannte "arische" Deutsche anzusiedeln, die einheimische slawische Bevölkerung teils zu vertreiben, teils zu versklaven oder zu töten und die jüdische Bevölkerung auszulöschen. Dazu wurde in Berlin das Reichssicherheitshauptamt gegründet, in dem nachrichten- und sicherheitsdienstliche Organisationen von SS, Gestapo und Kripo zusammengeführt wurden. Dieses RSHA stellte ideologisch geschulte Spezialeinheiten auf, sogenannte Einsatzgruppen, die in den besetzten Gebieten Führungseliten und Widerstandsgruppen verfolgten, die jüdische Bevölkerung in Ghettos zwangen und verantwortlich für Massenmorde waren. Währenddessen spitzte sich die Situation der jüdischen Deutschen im Reichsgebiet bedrohlich zu.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.25)

SPRECHER:
Für die in München noch ansässigen Juden würden zur Zeit in Milbertshofen Baracken gebaut, schrieb im Oktober 1941 der Münchner Stadtrat Harbers in einem Bericht betreffend "Umsiedlung der hiesigen Juden". Damit würden dann rund 300 Wohnungen frei, die an Wohnungssuchende vergeben werden könnten.

ERZÄHLERIN:
Bereits ab Mai 1939 hatten die Nationalsozialisten die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und Häusern gesetzlich vorbereitet und betrieben. NS Organisationen wie die Gestapo arbeiteten dabei eng mit den örtlichen Wohnungsämtern zusammen. Tausende Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen, in engen Sammelunterkünften hausen, ab Mitte September 1941 schließlich den Gelben Stern tragen. Zum Teil waren die Menschen in normalen Wohnhäusern zusammengepfercht, die im NS Verwaltungsapparat "Judenhäuser" hießen. Teilweise wurden auch größere Anlagen von jüdischen Gemeinden wie Altersheime oder Synagogen umfunktioniert und teilweise wurden auch Barackenlager wie im Münchner Stadtteil Milbertshofen gebaut. Die jüdische Bevölkerung war sozial völlig isoliert. Den Deportationen stand nichts mehr im Wege. Sie wurden zentral vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin organisiert.

O9 Edith Raim
Und vor Ort ist es dann jeweils die Gestapo, die die Federführung bei den Deportationen hat. Gleichzeitig sind die Deportationen ein wahnsinnig arbeitsteiliger Prozess. Also, man kann nicht sagen: ja, die Gestapo organisiert jetzt alles, sondern das sind natürlich Dutzende von Ämtern beteiligt: Steuerbehörden, Finanzämter und teilweise natürlich auch der Zoll, die Reichsbahn. Also, es kommen sehr viele andere Behörden mit ins Spiel, die benötigt werden.

ERZÄHLERIN:
Auf Anweisung der Gestapo mussten die jüdischen Gemeinden Listen mit den Namen der Menschen erstellen, die unter dem Vorwand der "Evakuierung" oder "Umsiedlung" abtransportiert werden sollten –
 und die Betroffenen dann auch darüber informieren.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.45)

SPRECHER:
Unter dem Betreff "Evakuierung" informierte die Israelitische Kultusgemeinde München im Vorfeld der ersten Deportation im November 1941 die Betroffenen brieflich darüber, dass zufolge einer Anordnung der Geheimen Staatspolizei die Personen, die zum Transport eingeteilt worden sind, sich in ihren Unterkünften bereitzuhalten hätten. Jeder Versuch, sich der Umsiedlung zu widersetzen oder zu entziehen, sei zwecklos und könne für die Betroffenen schwere Folgen haben. Jeder Transportteilnehmer darf 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, Kleidung und Bedarfsgegenstände. Außerdem muss jeder ein ausgefülltes Vermögensverzeichnis mitbringen.

ERZÄHLERIN:
Das Barackenlager in Milbertshofen diente als Sammelunterkunft. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft der Siedlung am Hart, wurde unter Beteiligung von jüdischen Zwangsarbeitern errichtet, bestand aus zwölf großen und sechs kleinen Holzbaracken und war für etwa 800 Personen geplant, hatte aber zeitweise weit über 1000 Insassen.

MUSIK Tango defect 2 C1482730 025 (1.10) 

ERZÄHLERIN
Wenige Wochen vor der ersten Deportation aus München wurden alle Betroffenen, die noch nicht im Lager waren, aus ihren Unterkünften nach Milbertshofen gebracht. Alle wurden bei Ankunft durchsucht, nicht erlaubte Gegenstände wurden abgenommen, ebenso Ausweispapiere und Lebensmittelmarken. Jeder musste 50 Reichsmark für die Transportkosten bar bezahlen. Der Rest des Bargeldes musste mit eventuell vorhandenen Wertpapieren, Depotscheinen abgegeben werden, ebenso Vermögenserklärungen, Formulare, in denen detailliert Auskunft über Vermögens- und Besitzverhältnisse verlangt wurde. Damit waren alle Unterlagen für eine spätere Enteignung komplett.
Vom Güterbahnhof in Milbertshofen aus wurden dann in den frühen Morgenstunden des 20. November 1941 etwa tausend Menschen in die besetzten Ostgebiete gebracht – unter ihnen auch Kinder aus dem jüdischen Kinderheim in Schwabing. Sie wurden direkt mit dem Bus zum Bahnhof gebracht. Ernst Grube erinnert sich.

O10 Ernst Grube
In dem Heim waren etwa 40, 50 Kinder, Jugendliche, und davon sind, ich weiß nicht, wieviel, aber so ein gutes Drittel, wenn nicht mehr auf Transport gekommen. Wir wussten natürlich nicht, was das sollte und wohin das ging. Aber allein dieser Zwang der Trennung. Wir haben alle geweint.

ERZÄHLERIN:
"Verzogen, unbekannt wohin" vermerkten die Einwohnermeldeämter in den Akten der Deportierten. Mit dem Abtransport in die besetzten Ostgebiete wurde die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes wirksam.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.15)

SPRECHER:
Diese besagte: Juden verlieren die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn sie das Reichsgebiet verlassen. Eigentum und Vermögen fällt an das Deutsche Reich. 

ERZÄHLERIN:
Es waren die Oberfinanzpräsidien, die mit der „Verwaltung und Verwertung jüdischen Eigentums“ beauftragt wurden. So die Sprache der NS-Bürokratie. Alle Bankkonten und alle Wertpapierdepots wurden zugunsten des Reiches eingezogen ebenso Wertgegenstände wie Schmuck, Teppiche oder Gemälde, die dann bei öffentlichen Versteigerungen unters Volk gebracht wurden. Dazu Edith Raim.

O11 Edith Raim 25''
Also man hat dann zum Beispiel Mobiliar von Wohnungen genommen, und es wurde dann auf Auktionen versteigert, also der ganze Hausrat, also Töpfe und Geschirr, und was man sich alles an Trivialitäten noch vorstellen mag, das wurde alles versteigert zugunsten des Reiches, und das Interessante ist das natürlich, da viele viele Deutsche sich daran auch bereichert haben, also das war so ein bisschen 'ne Schnäppchenjagd.

MUSIK Scarfaced C1568790 120 (0.55)

TC 18:55 – Massenmorde

ERZÄHLERIN:
Die erste Deportation aus München sollte ins lettische Riga gehen, wurde aber kurzfristig umgeleitet in die litauische Stadt Kaunas. Dort hatte der SS-Standartenführer Karl Jäger als Führer des Einsatzkommandos 3 im Juli 1941 die sogenannten „sicherheitspolizeilichen Aufgaben“ übernommen. Mit Hilfe von einheimischen Kollaborateuren waren bis November 1941 bereits Tausende von litauischen Juden ermordet worden. Nach ihrer Ankunft mussten die aus München Deportierten in ein Fort aus der Zarenzeit marschieren, das etwas außerhalb der Stadt lag. Zwei Tage später wurden sie dort zusammen mit Deportierten aus Berlin und Frankfurt am Main von Angehörigen des Einsatzkommandos 3 ermordet.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.35)

SPRECHER:
Die Durchführung solcher Aktionen sei in erster Linie eine Organisationsfrage, schrieb SS Standartenführer Karl Jäger am 1. Dezember 1941 in seinem Abschlussbericht. Die Juden mussten an einem Ort gesammelt, Plätze für die erforderlichen Gruben ausgesucht und ausgehoben und die Juden an den Exekutionsplatz transportiert werden.

ERZÄHLERIN:
Auf sechs Seiten präsentierte Karl Jäger eine brutale Todesbilanz. Er listete alle Massenmorde tabellarisch auf: Datum, Ort, Anzahl der ermordeten Männer, Frauen und Kinder, schließlich Gesamtzahl der Ermordeten. Unter Monat November sind die Männer, Frauen und Kinder erfasst, die bei der ersten Deportation aus München verschleppt wurden.

MUSIK Prisma CD847090 001 (0.25)

SPRECHER:
Am 25.11.41 sind unter Kaunas, Fort IX – 1159 Juden aufgeführt, 1600 Jüdinnen, 175 Judenkinder – insgesamt 2934 Umsiedler aus Berlin, München und Frankfurt am Main.

ERZÄHLERIN:
Die deutschen Besatzer bauten in den Ostgebieten ein dichtes Netz an Lagern auf: Ghettos, Arbeitslager, Durchgangslager, Vernichtungslager … Die meisten der deportierten Deutschen wurden bei Ankunft im Osten nicht sofort getötet, sondern kamen zuerst in Arbeitslager oder Ghettos, wo sie gemeinsam mit der ostjüdischen Bevölkerung und Deportierten aus ganz Europa auf engstem Raum eingesperrt waren. Wer die schlechten Lebensbedingungen überlebte, wurde später in Vernichtungslager gebracht wie Sobibor, Treblinka oder Auschwitz – und dort ermordet. Bei der zweiten Deportation aus München im April 1942 wurden 774 Menschen ins ostpolnische Piaski verschleppt, einem ehemaligen jüdischen Schtetl, das in ein Ghetto umfunktioniert worden war. Auch von ihnen hat keiner überlebt. Während der nächsten Jahre gingen noch 42 Deportationen aus München weg, die meisten von ihnen ins tschechische Theresienstadt. Ernst Grube und seine Geschwister blieben lange von der Deportation verschont.

MUSIK Nostalgia motif 1 M0010633 037 (0.50)

O12 Ernst Grube
Der Vater als Nichtjude war für uns die Garantie, die vorläufige Garantie des Überlebens. Er hat sich nicht scheiden lassen. Er hat dem Druck standgehalten, den er immer wieder hatte, von der Gestapo durch Vorladung, sich doch von der Saujüdin scheiden zu lassen. Er hat das nicht gemacht.

ERZÄHLERIN:
Trotzdem wurden die Kinder mit ihrer Mutter im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert. Sie haben überlebt und kehrten nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach München zurück.

TC 22:48 - Outro