Alles Geschichte - History von radioWissen   /     VERSUNKENE ORTE - Rungholt, das Atlantis der Nordsee

Description

Eine verheerende Stumflut im Jahre 1362 steht am Anfang vieler Mythen und Sagen, die sich um die versunkene Siedlung Rungholt ranken. Der Ort an der Westküste im heutigen Schleswig-Holstein birgt bis heute Rätsel. Seit Beginn seiner Erforschung ist aber schon einiges ans Tageslicht gekommen, was eine ganz andere Geschichte über Rungholt erzählt als vermutet. Von Thomas Samboll (BR 2022)

Subtitle
Duration
00:22:36
Publishing date
2024-03-15 10:10
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/versunkene-orte-rungholt-das-atlantis-der-nordsee/2091147
Contributors
  Thomas Samboll
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2091147/c/feed/versunkene-orte-rungholt-das-atlantis-der-nordsee.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Eine verheerende Stumflut im Jahre 1362 steht am Anfang vieler Mythen und Sagen, die sich um die versunkene Siedlung Rungholt ranken. Der Ort an der Westküste im heutigen Schleswig-Holstein birgt bis heute Rätsel. Seit Beginn seiner Erforschung ist aber schon einiges ans Tageslicht gekommen, was eine ganz andere Geschichte über Rungholt erzählt als vermutet. Von Thomas Samboll (BR 2022)

Credits
Autor: Thomas Samboll
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Meinhardt, Inka Kübel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Tanja Brümmer, Bente Sven Majchczack, Wolf-Dieter Dey, Dirk, Ruth Blankenfeldt, Karina Schnakenberg

Linktipps:

SWR (2024): Hanna Hadler findet versunkene Stadt im Wattenmeer

1362 sorgte eine Sturmflut dafür, dass die Siedlung Rungholt in Nordfriesland verschwand. Ein Forschungsteam, darunter Mainzerin Hanna Hadler, konnten nun die Lage der ehemaligen Kirche nachweisen. JETZT ANSEHEN

Deutschlandfunk Kultur (2024): Auf den Spuren historischer Schätze im Watt

Der Schlick der Nordsee birgt viele Geheimnisse: Erst kürzlich konnten Archäologen die sagenumwobene Hafenstadt Rungholt entdecken, einen bedeutenden Handelsplatz des Mittelalters. Doch sie fanden noch mehr: Antworten auf den Klimawandel.
JETZT ANHÖREN


NDR (2019): Wetter extrem – Zwischen Sturmflut und Dürre

Es ist nicht mehr zu übersehen: Der Norden verändert sich mit dem Klima. Was bedeutet das für die Bewohner an der Nordseeküste und im Hinterland? Philipp Abresch geht dieser Frage in der ersten Folge der NDR Reportagereihe zur Klimakrise nach. Seine Reise führt von den nordfriesischen Inseln über Cuxhaven bis zu den Obstplantagen in der Haseldorfer Marsch. Er trifft dort Landwirte, Geschäftsleute, Lokalpolitiker und den Klimaforscher Prof. Mojib Latif. Alle treibt dieselbe Sorge um: Wie schützen wir uns vor Extremwetter und wie verhindern wir, das alles noch viel schlimmer kommt? Zum Film geht es HIER.


Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN

Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 03:20 – Das konstruierte Leben des Wilhelm
TC 05:35 – Zwischen Sündflut und Riesenfisch
TC 11:34 – Ein florierender Handel
TC 15:59 – „Wer nicht deichen will, muss weichen!“
TC 19:46 – Mythen um Rungholt
TC 22:01 – Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

ATMO 1 Nordseeküste
Meeresrauschen

SPRECHER
Die Nordsee an der Westküste von Schleswig-Holstein. Meistens plätschern die Wellen hier eher ruhig und gemächlich an die Strände und gegen die Deiche. Aber der „Blanke Hans“, wie die Nordsee von den Küstenbewohnern genannt wird, kann auch anders. Ganz anders…

1. O-TON Brümmer
Heute bin ich über Rungholt gefahren. Die Stadt ging unter vor 500 Jahren…

ATMO 2 Nordseeküste
Starker Wellengang, Sturm, auch als Unterleger

MUSIK, bedrohlich

SPRECHER
Ob sie wohl geahnt haben, was da auf sie zukommt? Seit Tagen hatten die Menschen an der Nordsee mit einem heftigen Sturm zu kämpfen. Wie ein eiserner Besen fegte er zunächst über England hinweg, um dann in Richtung Dänemark und das heutige Nordfriesland weiterzuziehen. Es regnete Bindfäden. So ein Wetter ist in der Gegend im Winter nichts Ungewöhnliches. Auch damals nicht, am zweiten Sonntag nach Epiphanias im Jahre des Herrn 1362. Genauer gesagt: Am 16. Januar. Und Warnungen, die viele Menschenleben hätten retten können, gab es im 14. Jahrhundert keine…

ATMO 3 Warnmeldungen im Radio
„Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Durchsage. Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer schweren Sturmflut!“ - „Deutsche Bucht West bis Nordwest, zunehmend 7 bis 8, orkanartige Gewitterböen. See zunehmend 6 Meter.“

SPRECHER
Was sich dann in der Nacht vom 16. auf den 17.Januar 1362 an der Küste abspielte, darüber berichten alte Chroniken: Dort ist von einer gewaltigen Sturmflut die Rede, der „Groten Mandränke“, die das Land mit Mann und Maus überrolte und 100 000 Menschen das Leben kostete. Neuere Schätzungen gehen allerdings eher von 10 000 Toten aus. Sicher ist aber, dass die Wassermassen die Region zwischen Sylt und der Halbinsel Eiderstedt förmlich zerrissen haben. Ganze Landstriche wurden überflutet und weggespült. Aus Festland wurden Inseln und Halligen. In dieser Schreckensnacht soll auch Rungholt untergegangen sein, das alten Dokumenten zufolge der Hauptort der Edomsharde gewesen sein soll, einem Verwaltungsbezirk in Nordfriesland. Wahrscheinlich lag die Siedlung in der Nähe der heutigen Hallig Südfall westlich von Nordstrand. Dort gibt es besonders viele Funde aus dieser Zeit. Aber, so Tanja Brümmer vom Nordfriesland-Museum Nissenhaus in Husum:

2. O-TON Brümmer
Wir sagen zwar immer Rungholt. Aber wir haben ja kein Ortsschild, was uns irgendwie dahin weist. Wir wissen in etwa, wo die Edomsharde war. Aber wo in dieser Edomsharde Rungholt lag, ist halt immer noch so die ganz, ganz große Frage.
 
TC 03:20 – Das konstruierte Leben des Wilhelm

SPRECHER
Einer, der bestimmt genau Bescheid wüsste, ist Wilhelm, ein junger Mann mit markantem Kinnbart. Tanja Brümmer stellt den Star ihrer Rungholt-Ausstellung vor:

3. O-TON Brümmer
Wilhelm ist die Gesichtsrekonstuktion eines Rungholters. Wir hatten im Hahre 2016 eine große Sonderausstellung zum Thema Rungholt, wo wir eben einen bestimmten Schädel rausgesucht haben bei uns aus der Sammlung, wo wir auch sicher sein konnten, dass er tatsächlich im Siedlungsgebiet von Rungholt gefunden worden ist. Und anhand dessen wurde dann mit einer Gerichtsmedizinerin eine Gesichtsrekonstruktion hergestellt. Und anhand von DNA-Analysen konnten wir dann auch wirklich sagen, welche Augenfarbe er in etwa hatte und welche Haarfarbe. Ich nenn´ ihn immer liebevoll Wilhelm. Ein halbes Jahr lang hat sein Schädel bei mir auf dem Schreibtisch gestanden. Ich hab´ ihn jeden Tag angeguckt. Und irgendwann hab´ ich gesagt: Guten Morgen, Wilhelm! Und dann war der Name da…“

MUSIK kurz

SPRECHER
Wilhelm war Mitte bis Ende 20, als er kurz vor oder während der großen Sturmflut um´s Leben kam. Er hatte helle Haare und helle Augen. Auffällig sind auch seine ausgeprägten Gesichtszüge…:

4. O-TON Brümmer
Also er hat ´n ganz, ganz starkes Kinn. Man sieht auch schon anhand der Konochenstruktur, dass er ´ne relativ große Nase hatte. Der Unterkiefer und Oberkiefer samt Zähne sind noch erhalten. Und er hat auch eine sehr, sehr ausgeprägte Wangenknochen-Struktur. Natürlich ist da auch immer ein Stückchen weit Interpretation dabei. Er hat ´n sehr freundliches, sehr lachendes Gesicht, weil wir auch gesagt haben: So´n Mensch, der muss ja jetzt nicht griesgrämig gucken. Also deswegen ist es auch so, dass man das Gefühl hat: Ja, das ist irgendwie ´n junger Mann von nebenan! 

ATMO 4 Pferdegetrappel, Kutsche

SPRECHER
Wihelm´s Schädel ist ein Fundstück von Andreas Busch. Der Hobby-Archäologe ist so etwas wie der „Vater“ der wissenschaftlichen Rungholtforschung. Alles begann im Mai 1921 mit einem ziemlich ungewöhnlichen Pfingst-Ausflug: Mit Pferd und Wagen fuhr Andreas Busch bei Ebbe von der Halbinsel Nordstrand nach Westen Richtung Südfall. Was wie eine kleine Spritztour ins Watt wirkte, war tatsächlich der Anfang der Suche nach dem sagenhaften Rungholt. An der Nordseeküste war der Ort schon lange ein Mythos:

TC 05:35 – Zwischen Sündflut und Riesenfisch

5. O-TON Majchczack
Man könnte das ja als „Urkatastrophe der Nordfriesen“ bezeichnen. Der Untergang dieser Landschaft!
 
Sprecher
Sagt Dr. Bente Sven Majchczack von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, einer der „modernen“ Rungholtforscher. Diese „Urkatastrophe“ hatte Ende des 19. Jahrhunderts auch den Dichter Detlef von Liliencron dazu inspiriert, sich erstaunliche Dinge über Rungholt zusammenzureimen. Dem wollte Andreas Busch nun auf den Grund gehen, erzählt Wolf-Dieter Dey, der das Inselmuseum auf Nordstrand leitet:

6. O-TON Dey (Anf.)
“Heute bin ich über Rungholt gefahren“, so fängt dieses Gedicht an, „die Stadt ging unter vor 500 Jahren“…

SPRECHER
… neuere Versionen sprechen hier von 600 Jahren …

6. O-TON Dey (Forts.)
Dieses Gedicht von Detlef von Liliencron hat den Mythos und die Legende von Rungholt ganz entscheidend geprägt! Er stellt Rungholt in seinem Gedicht als einen großen, mächtigen, stadtähnlichen Ort dar, der also von vielen tausenden von Menschen bewohnt war. Er vergleicht Rungholt mit dem alten Rom und hebt es in seiner Bedeutung in die Nähe des Ortes Atlantis, des sagenumwobenen, nachdem man ja immer noch sucht. Dieses Bild entspricht natürlich in keiner Weise der Wirklichkeit!

SPRECHER
Und Tanja Brümmer vom Nordfrieslandmuseum Nissenhaus in Husum ergänzt:

7. O-TON Brümmer
Diese Geschichte von Detlef von Liliencron bietet sich natürlich auch unglaublich an, weil da einfach sehr, sehr viele Symbole sind. Mit der „Sündflut“, also wirklich eben die Menschen, die waren böse, haben Sünde begangen, letztendlich dann zu erklären, warum es zu dieser großen Katastrophe gekommen ist. Das große Monster, was wie ein riesiger Fisch über der Welt liegt und einmal tief einatmet und dann die große Welle wieder herausläuft beim Ausatmen. Das sind natürlich auch unglaublich schöne Symbole!

MUSIK Achim Reichel „Heute bin ich über Rungholt gefahren“, 3. Strophe:
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
Ein Ungeheuer tief auf dem Grunde
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand
Die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand
Es zieht sechs Stunden den Atem nach innen
Und treibt ihn sechs Stunden wieder von hinnen
Trutz, blanke Hans

SPRECHER
So die Version von Achim Reichel

Was aber hat sich dann wirklich zugetragen in Rungholt? Oder anders gefragt: Was würde Wilhelm wohl erzählen, wenn er könnte - der Zeitgenosse aus dem Nordfrieslandmuseum Nissenhaus in Husum, der womöglich in der ersten „Groten Mandränke“ 1362 umkam? Die Funde von Andreas Busch und die aktuelle Forschung geben Antworten. Demnach wird Wilhelm mit Sünde und Gotteslästerung wahrscheinlich genauso wenig zu tun gehabt haben wie die meisten seiner Mitbewohner, meint Archäologin Tanja Brümmer:

8. O-TON Brümmer
Nee, das waren halt ganz, ganz normale Menschen des 14. Jahrhunderts, die sehr, sehr religiös waren. Und das zeigen letztendlich ja auch einfach die Objekte, die wir haben: Eine Fibel, wo wirklich „Ave Maria Gratia“ draufsteht. Pilgermarken, die sind auch gerade erst gefunden worden in einem außerordentlich großartigen Zustand. Man muss sich vorstellen: Die Menschen, die sind damals ja zu unterschiedlichen Wallfahrtsorten gepilgert. Und da geht´s tatsächlich um Aachen! Den großen Marien-Wallfahrtsort. Und pilgern von Rungholt nach Aachen, das ist schon ´n ordentlicher Weg! Also da sieht man einfach: Das waren sehr, sehr gläubige Menschen.

SPRECHER
Steinfunde im Watt deuten auch daraufhin, dass Rungholt wohl mehr hatte als nur eine einfache Holzkirche:

9. O-TON Brümmer 
Wir sehen auch hier Steine, die also wirklich im Kloster-Format sind! Es wird ganz, ganz stark vermutet, dass es eine Kollegiats-Kirche in Rungholt gegeben hat. Das ist sozusagen die Zwischenstufe zu einem Kloster hin. Wo man dann auch fragen muss: Naja, okay, ´n Kloster gründet sich aber ja auch nicht einfach nur so, sondern da gehören auch schon ´n paar Menschen dazu. Und da gehört auch ´ne gewisse Wichtigkeit dazu.

Sprecher
Aber diese Wichtigkeit hatte auch ihre Grenzen. Die Friesen, die die feuchte Marsch- und Moorlandschaft an der Nordsee entwässert und urbar gemacht hatten, wohnten auf Warften, also kleinen Erdhügeln, die man heute noch von den Halligen kennt und die Schutz vor Überflutungen bieten sollten. Insgesamt waren dort wohl etwa 1000 bis 2000 Menschen zuhause. Von einer mittelalterlichen Metropole wie Hamburg, Lübeck oder dem alten Rom also keine Spur, so Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand:

10. O-TON Dey
„Das ist Rungholt nie gewesen. Sondern es war halt ein Marschendorf. Es war ein großes Marschendorf! Aber es war eben keine große und mächtige Stadt, wie Herr von Liliencron es in dichterischer Freiheit eben versucht hat darzustellen.“

SPRECHER
Wenn alles gut läuft, beschert einem der fruchtbare Marschboden allerdings auch reiche Erträge. So war es wohl auch in Rungholt, erklärt Bente Majchczack von der Uni Kiel. Mit Hilfe von Drohnen, Satellitentechnik und Metalldetektoren haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nördlich der Hallig Südfall Reste von Warften, Entwässerungsgräben, Brunnen und Deichen sichtbar gemacht.

11. O-TON Majchczack
Wenn man das alles richtig schön unter Kontrolle hat, dann sind das ganz tolle Böden für Getreideanbau. Und man konnte da große Überschüsse erwirtschaften. Und das Ganze hat wahrscheinlich auch ´ne politische Dimension gehabt: Also das ganz gezielt von der Oberhoheit, damals dänisches Königtum, diese Friesen wahrscheinlich auch angeworben sind bzw. Vergünstigungen erhalten hatten, ´n gewissen Schutz auch. So dass die das stemmen konnten, diese Landschaft zu erschließen. Und dann hatte man da auch ´n hartes, aber gutes Leben. Da gab´s richtig viel zu essen!  Wieviele fette Ochsen die da essen konnten, und was die da für Feste feiern konnten, das ist in diesen Zeiten einfach keine Selbstverständlichkeit!

TC 11:34 – Ein florierender Handel

Sprecher
Offenbar hatten viele Menschen in Rungholt aber auch deshalb gut zu essen, weil sie gute Geschäfte machen konnten. Der Boden in dieser Gegend war nämlich nicht nur gold wert für den Anbau von Nutzpflanzen, betont Ruth Blankenfeldt vom Zentrum für baltische und skandinavische Archäologie auf Schloß Gottorf in Schleswig. Er enthielt auch noch einen ganz anderen Schatz, der im Mittelalter äußerst begehrt war: Salz!

14. O-TON Blankenfeldt
Dass man hier Salz-Torf abgebaut hat, daraus Salz gewonnen hat. Und dieses schwarze Salz, wie man sich das vorstellen muss, verhandelt hat. Diese Torfe baut man ab, dann werden die sehr, sehr lange gesiedet und so. Und was zurückbleibt, ist natürlich nicht so´n reines Salinensalz, wie wir´s heute kennen. Und schmeckt auch laut Berichten relativ bitter. Aber ist natürlich das „Gold des Nordens“, weil man´s in unheimlichen Mengen brauchte zum Konservieren.

Sprecher
Wie gut die Geschäfte offenbar liefen, zeigen auch die beiden wenige Zentimeter großen Waagschalen aus Messing, die Jahrhunderte lang von Sand und Schlick bedeckt waren und nun von der Nordsee bei Südfall freigespült worden sind. Karina Schnakenberg untersucht die neuesten Fundstücke aus dem Watt für ihre Magister-Arbeit an der Uni Kiel:

15. O-TON Schnakenberg
Die haben jeweils drei kleine Löcher an den Rändern, womit sie dann aufgehangen wurden an einer Waage. Also es war nicht nur eine reine bäuerliche Region, die quasi keine Außenkontakte hatte, sondern eben auch Handel betrieben hat. Man hat Geld damit gewogen. Das heißt, man konnte damit auch ganz gut überprüfen, ob der Metall-, Bronze-, Silber-, was auch immer Gehalt eben stimmt. Ob diese Münzen eben echt sind, ob sie genug Anteil des jeweiligen Metalls in sich tragen oder ob sie zu leicht sind, was eben darauf hindeutet, dass sie unecht und einfach gefälscht sind.

SPRECHER
Mit ziemlicher Sicherheit waren also Münzen ganz unterschiedlicher Herkunft im Umlauf. Ein Dolch aus Spanien, Schmuck aus England, maurische Keramik aus dem Süden Spaniens – all diese Funde zeigen, dass Rungholt ein wahrhaft internationaler Handelsort gewesen sein muss. Tanja Brümmer vom Nordfrieslandmuseum in Husum:

16. O-TON Brümmer
Insgesamt sind es halt fünf spanisch-maurische Krüge, die im Rungholt-Gebiet gefunden worden sind. Und wir haben also wirklich islamische Ikonographien und Symboliken auf diesen Keramiken. Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man z.B. hier direkt am Ausguss so die Hände der Fatima wirklich als Glückssymbol für denjenigen, der daraus trinkt. Und das ist natürlich irgendwie ´n besonders schöner Gedanke, wenn man sich vorstellt: lslam, Katholizismus gemeinsam auf Rungholt.

MUSIK, kurz

SPRECHER
Ohne einen Hafen als „Tor zur Welt“ wären aber wohl weder Mauren noch andere weitgereiste Besucher in die Marschen und Moore der Edomsharde gekommen, und aus Rungholt wäre nicht viel geworden. Doch auch damit konnte der legendäre Ort auftrumpfen. Und das kam so, erklärt Bente Majchczack von der Uni Kiel:

18. O-TON Majchczack 
Dass muss man sich so vorstellen, dass es da Sielhäfen gegeben hat. Also wo vom Binnenland das ganze Wasser rausgeführt werden musste durch den Deich, wurden diese Sieltore gebaut. Und dahinter bildet sich dann im Vorland ´n breiter Priel, also diese Gezeitenströme im Watt, den man dann mit Schiff gut erreichen kann. Und deswegen sind diese Siele immer die bevorzugten Hafenplätze, weil man da mit´m Boot sehr dicht an die Siedlungsplätze rankommt. Und dann hat man wahrscheinlich auch im Bereich dieser Siele hinterm Deich denn die entsprechenden Siedlungen, die dann mehr auf den Hafen ausgerichtet sind.

MUSIK, kurz

19. O-TON Majchczack
So können wir uns vielleicht diesen Handelsplatz Rungholt vorstellen: Dass es da hinterm Deich in Hafenlage Siedlungen gab, die so´n bisschen mehr auf den Handel fokussiert waren und ´n bisschen weniger auf die Landwirtschaft. Aber ich denke, das gehört alles halt zu diesem Siedlungsbereich, wo auch diese reichen, bäuerlichen Siedlungen überall verteilt waren. Und die haben so ´ne Einheit und so´n Netzwerk gebildet.  Das ist wahrscheinlich das, wo der Mythos der Wahrheit am nächsten kommen wird. Also denen ging´s da im Grunde richtig gut. Solange es lief. Und dann kommt irgendwann das Meer…

ATMO 2 Nordseeküste
Starker Wellengang, Sturm, auch als Unterleger

Musik bedrohlich

TC 15:59 – „Wer nicht deichen will, muss weichen!“

Sprecher
„Keen nich will dieken, de mutt wieken“ – so heißt es seit je her an der Nordseeküste: Wer nicht deichen will, muss weichen! Auch die Rungholter hatten damals zum Schutz gegen den „Blanken Hans“, also die Nordsee, die ersten Deiche gebaut. Und das war auch bitter nötig, denn heute weiß man, dass weite Teile des Marschlandes, in dem sie sich niedergelassen hatten, unter dem Meeresspiegel lagen. Andreas Busch hatte die Reste eines solchen Bauwerks in der Nähe von Südfall entdeckt. Ob es der Deich von Rungholt war? Das wird jetzt gerade genauer untersucht.

20. O-TON Majchczack
Das ist ein sehr großer Deich. Da sind wir jetzt sehr zuversichtlich, dass das tatsächlich ein Seedeich war. Und der könnte durchaus auch ´ne Höhe von drei Metern gehabt haben. Aber es war am Ende nicht genug für das, was kam…

MUSIK Achim Reichel „Trutz blanke Hans“, letzte Strophe:

Ein einziger Schrei, die Stadt ist versunken
und Hunderttausende sind ertrunken
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch
schwamm andern Tags der stumme Fisch

SPRECHER
Vermutlich haben die Rungholter also nicht geahnt, was da auf sie zukommt. Sonst hätten sie die Deiche verstärkt. Oder gab es Gründe dafür, dass sie sich nicht mehr ausreichend um die Schutzbauten kümmern konnten? Krankheiten wie die Pest zum Beispiel, die damals vielerorts grassierten? Auch darüber wird vielfach spekuliert. Tanja Brümmer hat ihren Wilhelm und andere menschliche Knochenfunde ebenfalls auf bestimmte Erkrankungen hin untersuchen lassen. Aber:

21. O-TON Brümmer
Wir hatten so´n bisschen gehofft, dass wir den Nachweis auf „Malaria“ finden in Anführungsstrichen. Und zwar gab es eigentlich über viele, viele Jahrhunderte hier oben das Marschenfieber. Das ist im Endeffekt, wenn man so möchte, die nordeuropäische Malaria. Das gab´s auch tatsächlich noch bis zum 2. Weltkrieg. Und eigentlich war so´n bisschen die Hoffnung, dass wir sozusagen den frühesten Nachweis finden auf das Marschenfieber. Und das haben wir leider nicht. Also wir haben wirklich nur schriftliche Zeugnisse aus dem 18. Jahrhundert, aber halt leider nicht aus dem 14. oder aus dem 15. Jahrhundert.

SPRECHER
Ein wichtiger Faktor für den legendären Untergang Rungholts dürfte aber auf jeden Fall hausgemacht sein: Möglicherweise haben sich die Menschen dort mit der Entwässerung der Marsch ihr eigenes Grab geschaufelt, weil der Boden dadurch immer weiter absackte. Schlimme Folgen wird auf jeden Fall der Salz-Torf-Abbau gehabt haben, meint Rungholtforscherin Ruth Blankenfeldt, die von einem „extremen Eingriff in die Natur“ spricht:

22. O-TON Blankenfeldt
Man hat erstmal den oberen Teil, die Kleie, abnehmen müssen. Ist dann nochmal tiefer gegangen, hat den Torf abgenommen, hat so halt künstlich einen, eineinhalb bis zwei Meter die Landschaft tiefer gelegt. Und das ist natürlich fatal, wenn dann wirklich mal ´ne Sturmflut kommt. Also das, womit man sich seinen Reichtum erwirtschaftet hat, ist zugleich aber auch der Sargnagel gewesen für viele Landschaftsteile.

Sprecher
Tatsächlich stand Rungholt aber ohnehin schon auf ziemlich wackeligen Beinen, erklärt Küstenärchäologe Dirk Meier. Was die Bewohner nicht wissen konnten: Sie hatten ihre Siedlung zwar nicht völlig auf Sand gebaut. Wirklich guten Halt bot der Tonboden in einem eiszeitlichen Schmelzwassertal aber auch nicht:

23. O-TON Meier
Der Untergrund war nicht fest. Der ist richtig weggerissen worden. Das merken Sie heute, wenn Sie ´ne Wattwanderung machen. Es gibt immer so richtige Schlicklöcher, wo man so richtig wegsackt! Das ist da sehr stark verbreitet. Also der Untergrund war nicht stabil. Und das Meer hat sich genau diese alten Schwächezonen gesucht und ist genau in diese Schwächezonen eingebrochen.

ATMO 2 Nordseeküste
Starker Wellengang, Sturm

TC 19:46 – Mythen um Rungholt

SPRECHER
Hatte Rungholt also überhaupt eine Chance? Wohl kaum, angesichts der Wucht und Gewalt einer bis dahin noch nie dagewesenen Sturmflut. Andere Orte an der Küste wurden jedoch genauso von der Katastrophen-Flut weggeschwemmt. Warum wurde also gerade Rungholt zum Mythos? Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand hat eine Vermutung:

24. O-TON Dey
In einer Zeit, in der der Deichbau erst am Anfang war und so ein Deich mit Sicherheit etwas ganz Besonderes gewesen ist, hat der Ort Rungholt im Verhältnis zu anderen Orten eine Sonderstellung eingenommen. Das hat vielleicht die Menschen von Rungholt dazu verführt, etwas hochmütig zu werden gegenüber der Nordsee. „Trutz, Blanke Hans“, dieser Ausruf steht dahinter. Und vielleicht haben die anderen Bewohner den Rungholtern diese Arroganz etwas übelgenommen. Und so hat sich aus dieser Haltung heraus dann die Sage entwickelt, die heute Rungholt umgibt. Diese Sage könnte ein Hinweis darauf sein, dass Rungholt einer der ersten Orte war, der an unserer Küste einen Deich um seine Gemeinde gezogen hat…

SPRECHER
In den uralten Geschichten über Rungholt könnte also doch ein Körnchen Wahrheit stecken. Vieles ist aber auch Fiktion. Dabei spielt auch die einzigartige Natur des Wattenmeers eine Rolle. Dort gibt es z.B. immer wieder Luftspiegelungen, die einem versunkene Städte vorgaukeln können. Und, so Tanja Brümmer, wenn man nur ganz genau die Ohren spitzt, kann man an windstillen Tagen zwischen Nordstrand, Pellworm und Hallig Südfall immer noch die Glocken eines von Gott verfluchten Ortes läuten hören…:

25. O-TON Brümmer
Also die Glocken der Rungholter Kirche, die hört man natürlich immer um die Mittagszeit. Und nicht zu vergessen ist es ja so, dass, wenn eine Jungfrau, die an einem Sonntag geboren worden ist, am zweiten Johannistag um die Mittagszeit über Rungholt hinwegfährt, dass sie ja dann die Stadt wieder erlösen kann von ihrem Fluch! (lacht)

ATMO 6 als Outro Wattenmeer, verschiedene Vögel

TC 22:01 – Outro