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Russische Unternehmen, die Kosmetik produzieren, mussten sich in den letzten zwei Jahren umstellen. Wegen der westlichen Sanktionen können diese Unternehmen keine Rohstoffe mehr aus der EU beziehen, und Kosmetik aus Russland kann auch nicht mehr in der EU verkauft werden. Das betrifft auch den russischen Kosmetik-Produzenten Arnest. Rohstoffe, die bisher aus der EU kamen, bekommtWeiterlesen

Summary

Russische Unternehmen, die Kosmetik produzieren, mussten sich in den letzten zwei Jahren umstellen. Wegen der westlichen Sanktionen können diese Unternehmen keine Rohstoffe mehr aus der EU beziehen, und Kosmetik aus Russland kann auch nicht mehr in der EU verkauft werden. Das betrifft auch den russischen Kosmetik-Produzenten Arnest. Rohstoffe, die bisher aus der EU kamen, bekommtWeiterlesen

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Russische Unternehmen, die Kosmetik produzieren, mussten sich in den letzten zwei Jahren umstellen. Wegen der westlichen Sanktionen können diese Unternehmen keine Rohstoffe mehr aus der EU beziehen, und Kosmetik aus Russland kann auch nicht mehr in der
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13:42
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2024-04-19 08:00
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  Redaktion NachDenkSeiten
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Russische Unternehmen, die Kosmetik produzieren, mussten sich in den letzten zwei Jahren umstellen. Wegen der westlichen Sanktionen können diese Unternehmen keine Rohstoffe mehr aus der EU beziehen, und Kosmetik aus Russland kann auch nicht mehr in der EU verkauft werden. Das betrifft auch den russischen Kosmetik-Produzenten Arnest. Rohstoffe, die bisher aus der EU kamen, bekommt das Unternehmen jetzt aus Asien, und der Export von Arnest-Kosmetik geht jetzt in Staaten, die entspannte Beziehungen zu Russland haben. Ulrich Heyden berichtet ĂŒber einen Besuch in der in SĂŒdrussland gelegenen Arnest-Fabrik.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfĂŒgbar.

Das Unternehmen mit seinen 1.000 Mitarbeitern produziert in einer steuervergĂŒnstigten Zone in der Stadt Newinnomyssk, im Gebiet Stawropol.

Anatoli Desjatnitschenko ist GeschĂ€ftsfĂŒhrer der Arnest-Fabrik in Newinnomyssk. In der Eingangshalle der Fabrik berichtet der groß gewachsene Mann einer Gruppe auslĂ€ndischer Korrespondenten gutgelaunt, wie man die Folgen der westlichen Sanktionen abgefedert hat. Nach einem Produktionseinbruch im Mai 2022 habe die Produktion „schon fast wieder das Niveau erreicht, welches wir vor 2022 hatten. Unsere Produktionsanlagen werden von mehr und mehr Auftraggebern genutzt.“ Dazu muss man wissen: Arnest produziert nicht nur eigene Marken wie die schon in Sowjetzeiten bekannte Haarlack-Marke „Prelest“ (Lieblichkeit), sondern seit 2000 auch fĂŒr westliche Kosmetik-Konzerne.

Ich gehörte zu der Korrespondenten-Gruppe, die dem GeschĂ€ftsfĂŒhrer zuhörte. Und ich möchte hier darĂŒber berichten, was wir in der Arnest-Fabrik gesehen haben. Denn was erfĂ€hrt man in Deutschland heute schon ĂŒber die reale russische Wirtschaft? Die Reise zur Arnest-Fabrik und anderen Wirtschaftsobjekten im Gebiet Stawropol hatte das russische Außenministerium organisiert. Der GeschĂ€ftsfĂŒhrer erzĂ€hlte, „wir haben das gesamte Spektrum der europĂ€ischen Sanktionen zu spĂŒren bekommen, weil der Großteil der chemischen Stoffe fĂŒr die Produktion aus Europa kam. Jetzt wird ein Teil der chemischen Vorprodukte in Russland hergestellt oder aus Asien importiert.“ Aus Russland kommen fĂŒr die Sprayflaschenproduktion Alkohol, Treibgas und Aluminium. Weitere Rohstoffe – wie Polymere – werden „aus Asien und befreundeten LĂ€ndern“ importiert.

FrĂŒher hat man nach Europa und SĂŒdamerika exportiert. „Heute exportieren wir nach Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Aserbaidschan. Und wir beginnen jetzt mit dem Export auf den afrikanischen Markt.“

Auftragsproduktionen fĂŒr 20 verschiedene Kunden

Das 1971 gegrĂŒndete Unternehmen Arnest hat einen fĂŒhrenden Platz am russischen Kosmetik-Markt. 1993 wurde das Unternehmen privatisiert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Ab 2000 produzierte Arnest den Haarlack „Taft“ von Henkel. Nach Angaben russischer WirtschaftsprĂŒfer produzierte Arnest 2023 noch fĂŒr die Firmen Procter & Gamble, Unilever, Beiersdorf und Colgate-Palmolive.

GeschĂ€ftsfĂŒhrer Desjatnitschenko erklĂ€rt uns, dass man jetzt fĂŒr 20 Kunden Auftragsproduktionen ausfĂŒhre. Um die Kunden nicht zu schĂ€digen, bittet man uns, in den Produktionshallen nur an genehmigten Stellen zu fotografieren.

Bei unserem Rundgang durch das BetriebsgelĂ€nde besuchen wir eine Halle, in der Stoffe fĂŒr die Kosmetik-Produktion gewogen und gemixt werden. Es steigt kein Dampf auf. Alles sieht steril und sehr gepflegt aus. Der GeschĂ€ftsfĂŒhrer berichtet, „die Auftraggeber kommen mit ihrem Design und ihrer Marke. Der Auftraggeber stellt uns seine Idee vor und wir setzen diese Idee um“.

2023 produzierte Arnest noch fĂŒr Beiersdorf

In einer der Produktionshallen kommen wir an einem Informationstand vorbei, dessen glĂ€serne Regale mit Sprayflaschen europĂ€ischer Firmen wie Beiersdorf, L‘Oreal und Oriflame gefĂŒllt sind.

Als ich nach meiner Reise in den SĂŒden Russlands bei der Beiersdorf-Zentrale in Hamburg nachfragte, ob es noch Auftragsproduktionen in Newinnomyssk gibt, erklĂ€rte die Unternehmenssprecherin Karolin Köhler, „in 2023 hat Arnest fĂŒr Beiersdorf Deosprays und RasierschĂ€ume produziert. Der Vertrag lief im August 2023 aus“.

Beiersdorf ist durch die Sanktionen gegen Russland in eine schwierige Situation gekommen. Das Unternehmen will seine starke Position am russischen Markt nicht aufgeben, musste aber im Russland-GeschĂ€ft einen Gang zurĂŒckschalten. Wie die Unternehmenssprecherin mitteilte, wurden „seit Anfang MĂ€rz 2022 unsere GeschĂ€ftsaktivitĂ€ten von La Prairie und tesa in Russland komplett eingestellt“. Das Produktportfolio von NIVEA und Eucerin habe man um 65 Prozent reduziert.

GegenĂŒber der WirtschaftsWoche erklĂ€rte Beiersdorf Anfang 2023: „Wir halten die Sanktionen in vollem Umfang ein und verfĂŒgen ĂŒber die geeigneten Arbeitsmethoden, um unsere GeschĂ€fte in Russland im Rahmen der Sanktionen und trotz des sehr schwierigen Umfelds zu fĂŒhren.“

In Russland ist Beiersdorf mit der in Moskau registrierten Handelsfirma „OOO Beiersdorf“ registriert. „OOO“ bedeutet „Gesellschaft mit beschrĂ€nkter Haftung“. Die Firma hatte 2023 nach Angaben russischer WirtschaftsprĂŒfer Einnahmen in Höhe von 193 Millionen Euro. Die Einnahmen seien 2023 um 35 Prozent höher gewesen als im Vorjahr.

Um Argumente fĂŒr das Russland-GeschĂ€ft nicht verlegen

Das Handelsblatt kommt in einer Analyse vom Februar 2024 zu dem Schluss, dass „die meisten deutschen Unternehmen, die vor Kriegsbeginn Verbindungen zu Russland hatten“, dort „noch immer GeschĂ€fte“ machen.

Bekannte deutsche Automobilmarken haben zwar ihre Produktion in Russland gestoppt, aber ein großer Teil der Unternehmen, die fĂŒr den alltĂ€glichen Bedarf produzieren, sind noch im Russland-GeschĂ€ft aktiv, wie die WirtschaftsWoche im Februar 2023 berichtete. Nur Werbung im russischen Fernsehen werde nicht mehr geschaltet.

Um Argumente, warum man im viel gescholtenen „Reich des Bösen“ weiterhin GeschĂ€fte machen kann, sind die westlichen Unternehmer nicht verlegen. Der Chef des deutschen KĂ€se-Produzenten „Hochland“, Peter Stahl, erklĂ€rte gegenĂŒber dem Handelsblatt: „Aus unserer verantwortungsethischen Sicht hat der Verbleib eines deutschen Nahrungsmittelunternehmens in Russland aber keinerlei Einfluss auf den Kriegsverlauf oder Putins Entscheidungen.“

Der Nahrungsmittelkonzern NestlĂ© erklĂ€rte gegenĂŒber Medien, der Konzern habe sein Portfolio „drastisch reduziert“. Die verbleibenden GeschĂ€fte konzentrierten sich darauf, „die Menschen vor Ort mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen“.

Der Chef des deutschen Großhandel-Konzerns Metro, Steffen Greubel, erklĂ€rte im Februar 2024 gegenĂŒber der DPA, es sei nicht im eigenen Interesse, „das GeschĂ€ft Oligarchen aus dem Umfeld der russischen Regierung zu ĂŒberlassen“. Metro gehören in Russland 89 GroßhandelsmĂ€rkte.

Meterhohe Stapel von Aluminium-Barren

Doch zurĂŒck zur Kosmetik-Fabrik Arnest in SĂŒdrussland. Ein Bus, der uns ĂŒber das 25 Hektar große WerksgelĂ€nde bringt, stoppt an einer Halle, vor der meterhoch Aluminiumbarren gestapelt sind. Sie kommen von dem russischen Produzenten Rusal. In der Halle steht ein riesiger Schmelzofen, in dem die Aluminium-Barren bei 1.000 Grad Hitze geschmolzen werden. Mit dem flĂŒssigen Aluminium werden kleine, drei Zentimeter große Taler gepresst, aus denen dann in einer Presse mit einem Druck von 400 Tonnen Sprayflaschen gepresst werden.

Metallbörse in London bestimmt Aluminiumpreis

Ich frage einen unserer Begleiter, wie der Preis fĂŒr Aluminium heute ermittelt wird. Der Mitarbeiter antwortet, der Preis von Aluminium in Russland werde durch die Rohstoffbörse in London bestimmt. Russland ist also wirtschaftlich nicht autonom.

In der nĂ€chsten Halle werden die Rohkörper der Spray-Flaschen beschnitten, gereinigt und von außen bedruckt. In der Halle sind moderne Maschinen von den baden-wĂŒrttembergischen Herstellern „Hinterkopf“ und „mall herlan“ sowie Maschinen aus den USA, der Schweiz und Italien zu sehen.

Arnest-GeschĂ€ftsfĂŒhrer: „Westliche Produktionsanlage selbst montiert“

Kurz vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine wurde noch eine neue Produktionslinie von einer westlichen Firma geliefert, berichtet einer der Mitarbeiter, die unsere Gruppe begleiten. „Wir haben die Produktionslinie dann ohne die Hilfe des Lieferanten aufgebaut.“ Wie das denn möglich war, fragte ich nach. „Wir haben schon zehn solche Produktionslinien mit jeweils 20 Maschinen verschiedener Hersteller. Wir haben in den letzten zehn Jahren jedes Jahr eine neue Produktionslinie gekauft.“ Bei der Aufstellung der ersten Produktionslinie hĂ€tten noch Mitarbeiter der deutschen Firma die Aufsicht gefĂŒhrt.

Ich fragte den Arnest-GeschĂ€ftsfĂŒhrer, wie es mit den Ersatzteilen fĂŒr die aus Europa importierten Maschinen aussieht. Desjatnitschenko antwortete, damit habe man keine Probleme. Der Maschinenpark sei auf dem neuesten Stand und Ersatzteile habe man genug. „Außerdem stellen wir selbst Ersatzteile her. Elektronik bekommen wir aus Asien. FĂŒr die Programmierung gibt es genug russische Spezialisten.“

Produktion rund um die Uhr

Die Produktion in der Arnest-Fabrik lĂ€uft rund um die Uhr. Eine Arbeitsschicht ist zwölf Stunden und die Wochenarbeitszeit 36 bis 40 Stunden lang. Der Durchschnittsverdienst fĂŒr die 1.000 Mitarbeiter liegt bei durchschnittlich 550 Euro. Das ist nicht viel. Allerdings liegen die Lebenshaltungskosten in der russischen Provinz niedriger als in den russischen GroßstĂ€dten.

Der GeschĂ€ftsfĂŒhrer berichtet, dass es in der Fabrik eine Gewerkschaft gibt, welche einen Tarifvertrag ausgehandelt hat. FĂŒr die Arbeiter an ArbeitsplĂ€tzen mit erhöhter gesundheitlicher Belastung gĂ€be es zahlreiche VergĂŒnstigungen.

Arnest kaufte Fabriken und Brauereien westlicher Firmen

Die Firma Arnest machte in den letzten zwei Jahren Schlagzeilen weit ĂŒber SĂŒdrussland hinaus. Die Kosmetik-Firma kaufte Fabriken und Brauereien auslĂ€ndischer Firmen auf. 2023 kaufte Arnest fĂŒr 25 Millionen Euro die nahe Moskau gelegene Fabrik der schwedischen Kosmetikfirma Oriflame.

Arnest-Chef Aleksej Sagal kann es sich leisten, Fabriken zu kaufen. Er steht auf der Liste der Russen mit den höchsten Einkommen an Dividenden auf Platz 34. Im Jahr 2022 hatte Sagal EinkĂŒnfte an Dividenden in Höhe von umgerechnet 86 Millionen Euro. „Durch die geopolitische Situation“ habe sich das GeschĂ€ftsfeld der Gruppe Arnest seit 2022 ausgeweitet, schreibt das russische Wirtschaftsportal RBK.

Die Gruppe Arnest habe von der US-amerikanischen Ball Corporation das grĂ¶ĂŸte Unternehmen in Russland zur Herstellung von Aluminiumdosen gekauft.

Dem niederlĂ€ndischen Unternehmen Heineken kaufte Arnest alle seine sieben Brauereien in Russland mit 1.800 BeschĂ€ftigen ab. Der Kaufpreis lag bei einem Euro. Allerdings ĂŒbernahm Arnest beim Kauf der Heineken-Brauereien auch die Schulden des Unternehmens in Russland in Höhe von 100 Millionen Euro.

Bundesregierung lieferte falsche Prognosen

Dass sich westliche Kosmetik-Unternehmen aus dem russischen Markt zurĂŒckziehen, hat – so der Arnest-Chef Sagal gegenĂŒber dem russischen Business-Portal RBK – zu einer Ausweitung des russischen Markanteils gefĂŒhrt. Der Anteil russischer Firmen, die bei Arnest ProduktionsauftrĂ€ge fĂŒr russische Kosmetik aufgeben, sei von 30 Prozent (2021) auf 70 Prozent (2023) gestiegen.

WÀhrend der Marktanteil russischer Kosmetikmarken in Russland 2022 bei 20 Prozent und der Anteil auslÀndischer Marken bei 80 Prozent lag, liege der russische Marktanteil heute bei 50 Prozent.

Wie auch in anderen Wirtschaftsbereichen haben die russischen Unternehmer im Bereich der Kosmetik-Produktion trotz Sanktionen einen Ausweg gefunden, setzen die Produktion fort und weiten ihre GeschĂ€ftsbereiche sogar noch aus. Von so einer Möglichkeit wollte die Bundesregierung im FrĂŒhjahr 2022 nichts wissen. Aber um die Deutschen gegen Russland aufzubringen, waren einfache, furchterregende Schwarz-Weiß-Bilder nötig.

Titelbild: Ulrich Heyden