Die Kunstfaser war zunächst Verheißung - anschmiegsam, elastisch, glänzend versprach sie erschwinglichen Glamour. Im vorindustriellen Märchen sollte noch Stroh zu Gold gesponnen werden: In den Chemiefaseranlagen der globalen Textilproduktion laufen heute Endlosfäden durch die Maschinen - und tragen damit zu einer jährlich anwachsenden "fast fashion" bei. Von Barbara Knopf (BR 2020)
Die Kunstfaser war zunächst Verheißung - anschmiegsam, elastisch, glänzend versprach sie erschwinglichen Glamour. Im vorindustriellen Märchen sollte noch Stroh zu Gold gesponnen werden: In den Chemiefaseranlagen der globalen Textilproduktion laufen heute Endlosfäden durch die Maschinen - und tragen damit zu einer jährlich anwachsenden "fast fashion" bei. Von Barbara Knopf (BR 2020)
Credits
Autorin: Barbara Knopf
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Johannes Hitzelberger, Christian Schuler, Julia Cortis
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Klaus Meier, Karl Borromäus Murr
Besonderer Linktipp der Redaktion:
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 - Intro
TC 01:47 – Das Chamäleon Chemiefaser
TC 04:45 – Unendliche Transformation
TC 10:05 – Kulturelle Umerziehung durch Kleidung
TC 14:18 – Ein dreckiges Geschäft
TC 17:20 – Zurück zur Natur
TC 22:15 - Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 - Intro
MUSIK
ERZĂ„HLERIN:
Tentakel. Oder Spinnenbeine. Sehr langgezogen ragen sie von der Wandbefestigung aus hinein in den Raum. Im Mittelpunkt dieser Installation, tatsächlich wie eine Spinne im Netz, eine schwarzgekleidete Tänzerin: Kontrolliert wirkt sie und zugleich verstrickt, fast verheddert mit ihren ausschwingenden Armen und Beinen in dieses zum Zerreißen gespannte hochelastische Material: Nylonstrümpfe. Dunkelgetönte, bereits gebrauchte Nylonstrümpfe, mit denen die afroamerikanische Künstlerin Senga Nengudi seit den 1970er Jahren von Rassismus erzählt und von Emanzipation. Die Nylonstrümpfe, klischeebeladen mit stereotyper Weiblichkeit, werden plötzlich mit politischem Widerstand aufgeladen. Surreal und poetisch ist das, und ganz im Wortsinn: eine Kunst-Faser.
MUSIK
ERZĂ„HLER:
Seit Anbeginn der Menschheit erzählen wir uns Geschichten in Bildern, die wir weben. In den griechischen, römischen und nordischen Schöpfungsmythen wird der Lebensfaden von den Moiren, Parzen und Nornen gesponnen. Am Faden hängt unser menschliches Schicksal. Der Faden der Ariadne sichert Theseus den Weg zurück aus dem Labyrinth des Minotaurus. Und im Märchen soll Stroh zu Gold gesponnen werden. Eine erste alchemistische Metamorphose.
MUSIK
TC 01:47 – Das Chamäleon ChemiefaserÂ
ERZĂ„HLERIN:
In der globalen Industrieproduktion des 20. Jahrhunderts wurde aus der Imagination Wirklichkeit: Hochtechnologieanlagen spinnen kĂĽnstlich herstellbare Fasern aus:Â
ZSP: Meier
Bei Polyester und Polyamid, das sind ja Thermoplaste, also Kunststoffe, die sich aufschmelzen lassen und wieder verfestigen. Das heißt, wir schmelzen das Material auf, wir ziehen es durch ´ne Düse durch und kriegen dann ja auch erst mal diese Endlosfasern. Das ist vergleichbar mit der Spätzlesherstellung.
ERZĂ„HLER:
Erklärt Klaus Meier. Er forscht und lehrt an der Universität Reutlingen Textiltechnologie.
ZSP: Meier
Sie drücken erstmal eine Masse durch eine Düse, erst mal ganz wichtig ist, dass die Masse gewisse Konsistenz hat, das ist wie beim Spätzles-Teig, wenn er zu dünnflüssig ist, gibt´s Tropfen, wenn es zu dickflüssig ist, dann krieg´n Sie´s nicht durch die Düse gepresst. Also so ´ne Faser hat dann ´nen Durchmesser, der ist dann kleiner als 60 Mykrometer, mit relativ hoher Geschwindigkeit werden die ausgesponnen, das sind dann so Geschwindigkeiten, die liegen dann um die 3000 Meter pro Minute. Das sind ungefähr 180 km/h. Das ist ´ne ganz faszinierende Technologie, wie man da voran gekommen ist.
MUSIK
ERZĂ„HLERIN:
Das Traumgewebe der Moderne bezieht seinen Stoff aus einem Reich mit exotisch klingenden Namen:
ERZĂ„HLER: Polyester, Polyamid, Polypropylen, Polyethylen, Polybutylenterephthalat und Polyethylenterephthalat, - kurz- PET. Ihre - etwas zungenfreundlicheren - Handelsnamen lauten Nylon, Perlon, Dederon, Acryl, Dralon, Lycra, Tergal. Und viele mehr.
ERZĂ„HLERIN:
So unterschiedlich die chemische Zusammensetzung auch ist – Erdöl ist die gemeinsame Basis vieler synthetischer Kunstfasern, oder, wie Klaus Meier sie nennt:
Â
ZSP: Meier
Also wir benützen den Begriff Chemiefasern. Was ich halt bei der Chemiefaser so faszinierend finde, ist wie vielfältig man diese Fasern bearbeiten kann, wie man da aus demselben Material, wenn wir mal nur bei Polyester bleiben, sehr unterschiedliche Fasern gewinnen kann. Also ich kann da ´ne hochfeste Faser machen für die Reifenkarkasse oder für den Sicherheitsgurt, das ist dann eigentlich genau dasselbe Material wie das, was ich dann in meinem Sporttrikot habe. Ich find das superfaszinierend.
MUSIK
ERZĂ„HLER:
Bekanntestes Beispiel für den chamäleonhaften Einsatz der Kunstfaser ist Nylon: Zarte Damenstrümpfe ließen sich daraus stricken, die zu hysterischen Kaufräuschen führten, als sie 1940 in den USA in die Auslagen kamen. Während in Deutschland das zeitgleich entwickelte Perlon, wie die Faser hier hieß, zunächst ausschließlich kriegsrelevant war: Seile für die Wehrmacht, waffenreinigende Bürsten und Fallschirme wurden aus dieser äußerst reißfesten Faser gemacht. Denn wie bewarb wiederum der amerikanische Chemiehersteller DuPont sein Wundermaterial?
ZITAT
„Stark wie Stahl, fein wie Spinnweben“
TC 04:45 – Unendliche Transformation
ERZĂ„HLER:
Heute, in der Dämmerung des fossilen Zeitalters, lässt sich die Aufbruchsstimmung in eine fortschrittsgläubige Moderne kaum mehr nachvollziehen.
1957 schrieb der französische Philosoph Roland Barthes in seinem Essayband „Mythen des Alltags“ über Plastik:
ZITATOR:
„So ist Plastik nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation“.
ZSP Murr:
In dem Material steckt Politik drin, da steckt Gesellschaft drin und Wirtschaft gleichermaßen. Gesellschaft im Sinn einer synthetischen Gesellschaft oder einer Plastikweltgesellschaft. Es ist ja nichts anderes als Plastik - Nylon und Perlon. Und Plastik war das Wundermaterial schlechthin, das eben in der Nachkriegszeit für Fortschritt stand. Die Formbarkeit des Plastiks, die Formbarkeit auch des Körpers – das ist schon so eine kulturelle Metapher für die Machbarkeit und Planbarkeit der Welt.
ERZĂ„HLERIN:
Erläutert Karl Borromäus Murr. Er leitet das TIM, das Textil- und Industriemuseums in Augsburg. Ein Material mit der Potenz zur permanenten Metamorphose – wie geschaffen für die Mode!
ERZĂ„HLER:
Noch bevor wir also in den 60er Jahren in wogend geschwungenem buntem Plastikmobiliar lümmelten und durch autogerechte Städte düsten, trugen wir das Material, das aus Erdöl gewonnen wurde, schon direkt auf der Haut. Die Kunstfaser hatte einen unglaublichen Vorteil: Sie war erschwinglich. Und sie sah gut aus. Mode war nicht mehr nur ein Distinktionsmerkmal der Reichen und Schönen. Das Cocktailkleid aus Synthetik wurde für eine wachsende Mittelschicht das Luxushäppchen, das man sich leisten konnte:
05 ZSP Murr:
Das ist eben die Frage, wer eben wen imitieren will. Das ist auch eine soziologische Frage. Während früher das Bürgertum den Adel imitierte, auch im 19. Jahrhundert noch, war es dann die Angestelltenschaft, die Arbeiter vielleicht sogar, die dann das Bürgertum imitierten. Natürlich oft mit billigeren Ersatzstoffen, Imitaten, auch mit künstliche Perlen, später der Modeschmuck, das sind ja alles solche Nachahmungseffekte, aber es hat immer ein soziales Motiv.
ERZĂ„HLERIN:
Was bereits erkennbar wird bei der Mutter aller Kunstfasern: der Kunstseide.
ERZĂ„HLER:
1890 gelang es, den Faden, mit dem sich Seidenspinnerraupen oft mehrere hundert Meter lang verpuppen, industriell herzustellen. Das bislang edelste Material, Seide, konnte nun kopiert werden.
ERZĂ„HLERIN:
Ein bisschen kratzig war die Kunstseide, aber glänzend. Man gewann sie aus der Cellulose von Pflanzen, aus Baumholz. Noch weit entfernt von der Eleganz des Vorbilds, der echten Seide, und der Anschmiegsamkeit des späteren Nylons. Kunstseide-Strümpfe beulten am Knie und wellten sich am Bein wie Wasser, in das ein Stein geworfen wird. Aber: Kunstseide war ein erstes Versprechen für einen glanzvollen Auftritt und damit auch einen sozialen Aufstieg – so ließ die Schriftstellerin Irmgard Keun 1932 in ihrem Bestsellerroman „Das kunstseidene Mädchen“ die Stenotypistin Doris wiederholt - und doch vergeblich - seufzen:
ZITATORIN:
„Ich will so ein Glanz werden, der oben ist.“
ERZĂ„HLER:
Kleine Nachfrage in der Faserstoffkunde, bevor man sich in den Zuschreibungen völlig verheddert: Wenn die Kunstseide aus Cellulose gewonnen ist, also einer pflanzlichen Faser, wieso zählt sie dann nicht zu den Naturfasern?
ERZĂ„HLERIN:
Es gibt eine klare Orientierung: Einerseits sind da Chemiefasern wie Polyester oder auch Polyamide wie Nylon oder Perlon; sie werden aus synthetischen Polymeren, also im Labor entwickelten Molekülketten, hergestellt. Andererseits können klassische Naturfasern wie Wolle, Hanf, Leinen, Kokos und viele mehr chemisch behandelt sein, und dann zählen sie eben zu den Chemiefasern. Nicht jede Socke, an der ein Bambus-Etikett hängt, ist ein reines Naturprodukt, erläutert Textiltechnologe Klaus Meier:
06 ZSP Meier:
Ich kann Bambus zweierlei verarbeiten. Ich kann entweder den Bambus nehmen und wirklich aus dem Bambusstock ´ne Faser gewinnen, dann hab ich aber eine Faser, die sich so leinenmäßig anfühlt, relativ rau; Sie können aus so was Socken stricken, hab ich sogar mal gemacht –ich sag mal so: Sie haben danach keine Hornhaut mehr. Das was aber heutzutage so als Bambussocke verkauft wird, das ist dann eine Viskosefaser, wo ich eben den Zellstoff aus dem Bambus gewonnen habe.
ERZĂ„HLER:
FĂĽr Geschmeidigkeit sorgt in vielen Fällen Viskose, die Nachfolgerin der Kunstseide, eine der weltweit meist verarbeiteten und beigemischten Fasern.Â
07 ZSP: Meier
Das ist ´ne Faser, die eben in chemischen Prozessen gewonnen wird. Das läuft schon durch einige Bottiche durch, Sie müssen da einige Chemikalien wiederaufbereiten. Man muss sich da schon von der Illusion lösen, das ist ja eine Fast-Naturfaser - es ist eine Chemiefaser! Auch wenn das grundlegende Polymer natürlichen Ursprungs ist. Aber wenn man´s genau nimmt, ist das Erdöl ja auch natürlichen Ursprungs… Also das is´ immer die Frage, wie man was definiert.
TC 10:05 – Kulturelle Umerziehung durch KleidungÂ
ZSP Ergee-Werbung & MUSIK
08 ZSP Murr:
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Konsum allenthalben –also spätestens seit der Währungsreform- so zugenommen: Der Komfort, die Entlastung der Frau im Haushalt durch Waschmaschine, durch Haushaltsgeräte, dadurch ist mehr Freizeit, dadurch will man vielleicht mal ins Theater gehen. Man hat dann das Perlonkleid, das man einfach in den Koffer quetschen kann, und man holt es raus und -bing! - die Plisseefalten sind wieder wie vorher oder die Betonbügelfalten des Treviraanzuges. Das wurde alles eben mit der Konnotation Funktionalität und Komfort verbunden.
ERZĂ„HLERIN:
So Karl Borromäus Murr vom TIM in Augsburg.
09 ZSP Murr
Es war ja auch ein fundamentaler Wechsel der Geisteshaltung vom Nationalsozialismus zu einer liberalen Ordnung. Das war also kulturelle Umerziehung auch in der Kleidung. Perlons verhieĂźen Freiheit.
ERZĂ„HLERIN:
Ein Leben mit der Kunstfaser verhieĂź eine Erotik, die ins Familienidyll passte, vor allem aber eine pflegeleichte Zukunft, so wie es sich die kriegstraumatisierte deutsche Nachkriegsgesellschaft wĂĽnschte, knitterfrei, praktisch, modern, allerdings leider auch: weitgehend atmungs-inaktiv. Was man durchaus roch.
10ZSP Murr:
Später hat man die Nase gerümpft, weil man sehr schwitzte in Treviraanzügen oder in anderen Kunstfasern. Da müssen wir noch auf die Kulturgeschichte des Schweißes gucken: Das war damals oft gar nicht so schlimm empfunden worden, weil Schweiß, das riecht nach Arbeit und ist eine ehrliche Beschäftigung. Erst die späteren Jahrgänge sind da empfindlicher geworden.
ERZĂ„HLER:
Doch man wurde ja eleganter, sah den american way of life in Hollywoodfilmen, packte Butterstullen in Tupperware, linste auf die Pariser Haute-Couture-Kollektionen von Christian Dior, trug aber Heinz Oestergaard, der „Mode für Millionen“ schneiderte unter Einsatz der neuen Chemiefasern: Tragbare, fließende Kleider, Dessous aus Stretchmaterial - und im Übrigen auch die nicht immer wertgeschätzten grünen Polizeiuniformen der Bundesrepublik. Bis weit in die 1960er Jahre dauerte die Ära des Nylon-Zeitalters. In Deutschland hieß die Faser Perlon, vor allem aus Patentrechtsgründen. Paul Schlack hatte sie zeitgleich zu seinen Kollegen in den USA entwickelt.
ERZĂ„HLERIN:
Das Perlon der DDR hieß übrigens, im lautmalerischen Anklang an den Staatsnamen: Dederon. Und auch sonst gab es in der DDR eigene Kunstfaser-Schöpfungen, von Acetat bis Zellwolle, von Borkenkrepp bis Malimo. Lederol war beispielsweise ein oberseitig gummiertes Baumwollgewebe, das lederartig aussah und aus dem man Jacken, Mäntel und Taschen schneiderte. Ein Werbeslogan der Zeit bewarb es in der DDR so:
ZITATOR:
Gehst du „Lederol“ bekleidet, jeder Westler dich beneidet“
ERZĂ„HLER:
Der Westen war ohnehin schon auf einem neuen Weg, Flowerpower, Hippieprotest, der sich in Folklore kleidete oder in Anti-Mode: Klavierdecken, die als Fransenoberteile ein zweites Leben führten oder gehäkelte Hot Pants. Obwohl häufig genug noch aus Polyester, sah es lässiger aus – und wurde auch immer raffinierter. Schließlich sollten die synthetischen Stoffe nicht mehr wirken als wohnte man hinter dem Mond - man war ja schon auf ihm gelandet! -, sondern als stammten sie aus den silberflimmernden Space Age-Kollektionen französischer Couturiers wie Pierre Cardin und Paco Rabanne.
ERZĂ„HLERIN:
Und dann kam, 1972: die erste Ă–lkrise. Das Waldsterben. Die Ă–kobewegung. Die Sehnsucht nach der Natur. Nach Naturstoffen wie Leinen, Hanf und Biobaumwolle.
TC 14:18 – Ein dreckiges Geschäft
MUSIK
ERZĂ„HLER:
Aber bald trat auch ein neuer Global Player auf: die Outdoor-Industrie. Insbesondere Deutschland wurde zum Hightech-Faserland. Führend in allen Fragen zur Funktionskleidung, von der Unterwäsche über die Socken bis zum Sporttrikot und der Globetrotter-Jacke. Wärme- und Feuchtigkeitsströme wurden aneinander vorbei geleitet: Körpertemperatur sollte gespeichert, Schweiß ausgedünstet, Nässe abgehalten werden. Wasserabweisend und atmungsaktiv hießen die neuen Schlagworte der Goretex- und Sympatex- Generation, und um sie effektiv zu unterfüttern, wurden spezialentwickelte Fasergewebe und Membrane geschichtet wie in einer Prinzregententorte.
ERZĂ„HLERIN:
Kleidung in unseren zivilisatorisch sicheren Zeiten scheint mehr denn je als Ăśberlebensschutz dienen zu mĂĽssen.
ERZĂ„HLER:
Oder als riesige Komfortzone, als wohnte man in ihr.
ERZĂ„HLERIN:
Oder als Freizeitperformance: Man gleitet in Schwimmanzügen, die Haifischhäuten nachempfunden sind.
ERZĂ„HLER:
Großartig natürlich, aber - vorsichtig gesagt: könnte es sein, dass da ein wenig übertrieben wird? Die ausgetüftelte Freizeit- und Outdoor-Kleidung - ein Spiegelbild der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft: Schneller-Höher-Weiter?
ERZĂ„HLER/IN 1:
Schneller-Mehr-Billiger ist das größere Problem: Konsum und Mode umarmen sich in der Fast Fashion: der durch digitalen Handel hyperbeschleunigten Produktion von Kollektionen - nicht nur übrigens von Billigklamotten. Produziert in Niedrigstlohnländern, meist in Asien. Ausbeuterisch wird mit Erde und Mensch umgegangen, die Ware dann chemikaliengetränkt um den Erdball verschickt, verramscht, weggeworfen, verbrannt. Textilproduktion ist ein dreckiges Geschäft.
ERZĂ„HLER/IN 2:
Hinzukommen: Chemikalienrückstände in Bergseen, Plastikmüll im Meer, Mikroplastik im Abwasser.
ERZĂ„HLER/IN 1:
Aber das kann man nicht alles der Kunstfaser anlasten! Und es gibt auch Hoffnung! Umweltschutz und Nachhaltigkeit in der globalen Textilindustrie hängen, so realistisch muss man sein, vermutlich am Hightech-Faden! Meint zumindest Faserexperte Klaus Meier.
11 ZSP Meier
Wenn wir einfach mal schauen, wie das Bevölkerungswachstum ist. Bei den natürlichen Fasern sind wir im Maximum, wir können nicht noch mehr Weidefläche schaffen, wir können nicht noch mehr Anbaufläche schaffen; das können wir nicht mehr steigern. Also wir können tatsächlich den zusätzlichen Bedarf an Faser, den es gibt, nur über Chemiefasern decken.
MUSIK
ERZĂ„HLER/IN 2
Also dann her mit den Chemiefasern aus natürlichen Polymeren! Klingt, als stünden sie auf unserm Einkaufszettel: Kaffee, Mais, Reis, auch Ananasblätter und Bananenstauden, oder, ja, Chitinpanzer von Insektenflügeln oder Krebsschalen.
ERZĂ„HLER/IN 1:
Vermarktet als Pinatex, Bananatex oder Chitosan.
TC 17:20 – Zurück zur Natur
ERZĂ„HLER:
Zurück zur Natur heißt letztlich für die globale Textilproduktion: Mehr Kunststoffe als bisher, aber mit besseren Eigenschaften als die Natur sie bietet. Zum Beispiel synthetische Isoliermaterialien wie Thermoplume statt Gänsedaune.
ERZĂ„HLERIN:
Und viel Recycling. Mode aus Ozeanplastik. Oder aus MĂĽll. Klingt schick. Und ist vermutlich oft gut. Abe was ist hier mit dem Greenwashing, dem modernen Ablasshandel der Modekonzerne gegen ihr schlechtes Image als Dreckschleudern?
MUSIK
ERZĂ„HLERIN:
Jedenfalls ergibt das Ganze nicht immer Sinn. Die Fasern bereits gebrauchter Textilien oder von PET-Flaschen werden bei jeder Wiederverwertungsrunde oft kürzer und damit instabiler. Irgendwann lässt sich nur noch Malervlies draus machen.
ERZĂ„HLER:
Mehr Vertrauen genießt da momentan Econyl: Polyamid 6, also Perlon, das nicht einfach aufgeschmolzen, sondern wieder zerlegt wird in seine Grundbestandteile. Man gewinnt dabei also wieder den ursprünglichen Kunststoff, der sich dann wieder neu polimerisieren, im Grunde also unbegrenzt recyceln läßt. so Textiltechnologe Klaus Meier von der Universität Reutlingen:
12 ZSP Meier
Das ist natürlich eine Form, wo ich wieder eine 1a Qualität bekomme. Man sieht da so schön immer in den Bildern die Fischernetze, die dann in die Fabrik wandern und die Damenstrumpfhosen, die dann hinten rauskommen, das sieht natürlich alles so hochglanzmäßig aus. Ich weiß aber zum Beispiel nicht, wie die Energiebilanz für diesen Prozess aussieht.
ERZĂ„HLER
Die Erzählung lässt sich noch endlos weiterspinnen: Wir werden in Zukunft in smarter Kleidung stecken, in der sensorische Garne sich passgenau an unseren vermessenen Körper anschmiegen.
ERZĂ„HLERIN:
Oder in Klamotten, die kompostierbar sind. Die Frage wird sein: inwiefern ist eine Jacke, die sich nach kurzer Zeit selbst entsorgt, nachhaltiger als ein normales Wegwerfprodukt?Â
ERZĂ„HLER
Es bleibt ambivalent. Wie die Mode selbst. Die sich mit dem nächsten Flügelschlag des Schmetterlings schon wieder verwandeln wird, ersonnen, gesponnen, verworfen, gealtert in nur einer kurzen Saison.
Werden und Vergehen ist ihr schillerndes Geschäft. Der Mode-Avantgardist und Dekonstruktivist, Martin Margiela, experimentierte mit der Vergänglichkeit des Materials, als in der Haute Couture der 90er Jahre noch ein Revival der Synthetik gefeiert wurde, zwischen Latex-Rokoko und Nylon-Minimalismus: Margiela setzte eine Bakterienkultur auf seine Kollektion. Und die löste sich ganz friedlich auf.
ERZĂ„HLERIN
Ästhetisch gesehen neigt man da eher einer experimentellen Designerin wie Iris van Herpen zu. Sie arbeitet interdisziplinär. Entwickelt mit Naturwissenschaftlern Textilien, die die veränderliche Hautfarbe eines Oktopus nachahmen. Entwirft mit Hilfe eines Wind-Skulpteurs ein kinetisches Kleid, das mit jeder Bewegung eine andere Form annimmt. Utopie, Spielerei oder, wie die Designerin hofft: Anstoß für eine andere Philosophie des Besitztums, weil ein Kleid dann viele andere überflüssig macht?
ERZĂ„HLER:
Wenn es einen roten, rettenden Faden durch die fabelhafte Welt der Kunstfaser gibt, dann diesen, sagt sogar der begeisterte Fasermann, Universitätsprofessor Klaus Meier:
ZSP Meier:
Wenn Sie wirklich richtig umweltfreundlich arbeiten oder handeln wollen, heißt das: die Kleidung so lang wie möglich tragen und auch mal reparieren! Das ist eigentlich so das Nachhaltigste, was Sie überhaupt machen können.
MUSIK
ERZĂ„HLERIN:
Trennen wir also zum Ende dieser Geschichte das Gewebe auf, Faden für Faden, so wie es die Künstlerin Kaoru Hirano in einer Ausstellung im Textil- und Industriemuseum in Augsburg gemacht hat. Was dabei entstehen kann? Erinnerung, sagt Karl Borromäus Murr, der Leiter des TIM:
ZSP Murr:
Das war eine japanische Künstlerin, die Kaoru Hirano, die alte Kleider aufgelöst hat–dann waren das so transparente ätherische Wesen. Natürlich stecken da ganz viele Erinnerungen drin, auch materielle Erinnerungen, weil die Fasern, wenn sie aufgelöst sind, ganz widerspenstig sind. Also da ist eine eigene Dynamik oder Eigenleben im Textilen da. Und das ist wieder wie die Alchemie des Herstellens, quasi in Rückwärtsrolle, in der Revolution könnte man sagen.
ERZĂ„HLER:
Wie umwälzend wäre das tatsächlich, ihn wieder wertzuschätzen, den Faden, aus dem sich wertvolle Geschichten weben ließen. Hauptsache, wir schneiden ihn nicht einfach ab - so wie die letzte der drei Schicksalsgöttinnen.
TC 22:15 - Outro