Ex nihilo - Martin Burckhardt   /     Jenseits von Krieg und Frieden

Shownotes

Post mortem

Der folgende Essay gehört ins seltene Register jener Texte, die zu schreiben man mich gebeten hat, die aber, weil sie ganz offenbar dem Geist der Zeit nicht entsprachen1, nicht das Licht der Welt erblickt haben. Dass dieser Text, der gut 20 Jahre alt ist, nun auf ex nihilo erscheint, hat damit zu tun, dass er in mancherlei Hinsicht unsere heutigen Kalamitäten vorwegnimmt: die Aushöhlung der Demokratie, den Relativismus, die Geschichts- und Zeitvergessenheit. All dies hat dazu geführt, dass das Nie wieder! der alten Bundesrepublik der Vergangenheit angehört – und die Gespenster zurückgekehrt sind.

Der Bürgerkrieg ist nur möglich, weil man die Ursachen weder von Krieg noch von Frieden kennt. (Thomas Hobbes)

©ex nihilo. exc.

Architektur des Bürgerkriegs

Von einer Architektur des Bürgerkriegs zu sprechen, scheint paradox, geht man gemeinhin doch davon aus, dass der Bürgerkrieg der Zustand der Anomie, der vollkommenen Gesetzlosigkeit ist. Freilich: schon Thomas Hobbes, Chronist des Bürgerkriegs und Theoretiker des neuzeitlichen Staates gleichermaßen, hat erfasst, dass der Bürgerkrieg nicht Zustand der Gesetzlosigkeit, sondern vielmehr Resultat auseinanderlaufender Gesetzesvorstellungen ist. Der body politic, der doch das Allgemeine darstellen soll, tritt mehr nicht als allgemeinverbindliche Form, sondern als Privation, als Instrument in den Händen der Machthaber in Erscheinung. Aber wenn das Gesetz nicht mehr die Allgemeinheit, sondern nur seinen Verfasser repräsentiert, wird es zum Spielball – kann sich ein jedermann, wie unsere Bundestrainer, als Solon, Damokles oder Berlusconi imaginieren, ist dem any­thing goes Tür und Tor geöffnet. Freilich: hier nimmt die andere, schwarze Seite der Popkultur ihren Lauf, schlägt die Stunde der Fun­da­men­talisten, die sich anschicken, ihre Spielart der Beliebigkeit zu pra­ktizieren. Vor dem Schirm, abgeschirmt von den Zumutungen all dessen, was nicht ins Bild passt, lässt sich der Wirklichkeit umso trefflicher vorwerfen, dass sie kein Himmels­gebäude ist. Dschihad! Hier von Fundamen­talismus zu sprechen, ist eigentlich irreführend – besteht die Vorausset­zung des Fundamen­talismus doch genau darin, dass das Fundament nicht mehr, oder nur mehr als Zei­chen existiert.

Architektur des Imaginären

Nun ist der Staat – auch wenn er, um tragfähig zu sein, architekto­nischen Gesetzen folgen muss – kein Haus, sondern steht auf symbolischem Grund, sind es Grundsätze, die seine Statik ausmachen. Fragt man nach dem Wesen des body politic, so wird man mit der Ver­legenheit konfrontiert, dass das, was uns als real exi­stierendes Wesen gegenübertritt, vom Grundsatz her ein Scheinwesen ist (und darin durchaus dem Herr­schaftsgebäude des untergegangen Kom­munismus vergleichbar). Die Architektur des Staates ist eine Architektur des Imaginären: eine Fahne, ein Geldschein, eine Linie auf einer Landkarte. Was sich hier kreuzt (und sich in den Köpfen der Vorfahren zu einer symbolischen Größe verdichtet hat, für das man zu sterben be­reit war), ist das Für-bare-Münze-Nehmen des Scheins. Etwas zeitgemäßer ausgedrückt: dort, wo es einer Gesellschaft gelungen ist, Staat zu machen, haben die staatlichen Hoheitszeichen eine solche Glaubwürdigkeit angenommen, dass das, was Schein war, sich zu einer realen Macht transformiert hat. Nun beschreibt die Tatsache, dass man es mit einem säkularen Kreditwesen zu tun hat, eine gewisse Peinlichkeit, kollidiert sie doch mit dem sorgsam gehätschelten Vorurteil, dass man es mit einem Vernunftgebilde zu tun habe. Liest man den ganzen Hobbes (und das heißt: bezieht man das architektonische Problem mit ein, auf das die Schein­kon­struktion des Leviathan antwortet), steht man einem sonderbaren Doppelwesen gegenüber. Der Behemoth, dieses biblische Untier, steht für das Flüssige (für das Meer), während der Leviathan, der Landgänger, für das Feste steht. In bildhafter Form fasst Hobbes die beiden Aggregatzustände des Gesellschaftlichen zusammen. Nun ist das Entscheidende, dass er nicht von irgendeinem herbeiphantasierten Naturzustand ausgeht, sondern den body politic kategorisch als Monster erkennt, als Untier, dem man nur in der Fabel begegnet. Damit antwortet seine Gesellschaftstheorie auf eine Ambivalenz, die – als psycho­historische Span­nung, und als beständige Bürger­kriegsdrohung – im Symbolischen haust, nämlich in der Span­nung von sym-bolon und dia-bolon. Meint sym-ballein jenes kol­lek­tive Projekt, das sich im Symbol (in historischer Form: im Opfer, in einer kollektiven Opfer­be­reitschaft) artikuliert, steht das Diabo­lische für den Augenblick des Zerwürfnisses. Die Gesellschaft findet sich nicht mehr in einem kollektiven Symbol, sondern sinkt – heillos flottierend – in die Tiefe. Dieser Untergang freilich ist nicht einem göttlichen Widersacher zuzurechnen, sondern, ebenso wie das Symbol, Menschenwerk. In diesem Sinne wäre der Bür­gerkrieg als eine Krise des Sym­bolischen aufzufassen, als jenes historische Moment, da eine Gesellschaft die Sprache ver­liert, da jenes Minimum an sym­bo­lischem Klebstoff sich auflöst und im Imbroglio der Stimmen untergeht.

Initiale

Die Frage ist: wie überhaupt hat ein sym­bolischer Monster wie der Nationalstaat entstehen können? Tatsächlich ist ein Großteil der Verwun­derung, wie sie sich im Gefolge des 11. September artikuliert hat, Beleg für eine tiefsitzende Naivität: als ob die symbolische Ordnung des Nationalstaats eine Naturtatsache sei, als ob es von Natur ein Gewaltmonopol gäbe, Uniformträger, Gesetze der regulären Kriegs­führung, allgemeine Steuer, Wehrpflicht usf.. Über asymmetrische Kriegsführung verwundern kann sich nur, wer das Tragen von Uniformen verinnerlicht hat. Dass, wie im jugoslawischen Bürgerkrieg, die Gesetze der Dissmulation und der Mimikry herrschten, dass serbische Soldaten beispiels­weise in französischer Uniform aufmarschierten, markiert nicht den Ausnahme-, vielmehr den ursprünglichen Zustand (erst Cromwell stattete seinen Freischärler mit Uniform aus). So besehen ist die historische Rück­besinnung auf vorneuzeitliche Macht­konfigurationen eine Art Erwachensprozess. In diesem Prozess ist die Frage, was es mit der Genese des neuzeitlichen Staates auf sich hat, alles andere als akademisch. Denn setzt man hier eine historische Initiale, so benennt man die apriorische Struktur, oder deutlicher, das Triebwerk dieses symbolischen Körpers – und dies wiederum stellt eine Aussage dar, die Rückwirkungen auch auf den zeit­genössischen Politik­begriff hat. Gemeinhin wird der Nationalstaat mit dem 17. Jahrhundert, und hier vornehmlich mit dem Leviathan des Thomas Hobbes assoziiert. Diese Deutung kann insoweit eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, als die zweite Hälfe des 17. Jahrhunderts sich mit den Insignien des Nationalstaates ausrüstete (als man ein stehendes Heer, eine Theorie des allge­meinen Steuer, den Prototyp einer Zentralbank aufbot). Allerdings sollte der gebets­mühlenartig Verweis auf Hobbes schon dem Zweifel Raum geben, ob die Architektur des Nationalstaat tatsächlich aus dem Nichts geboren, genauer: als Kopfgeburt dem Denken des Philosophenkönigs entsprungen sein kann. Setzt man voraus, dass die Strukturen der Macht träge und schwer­beweglich sind, erscheint diese Fertighaus­theorie so unwahr­scheinlich wie eine creatio ex nihilo. In der Tat offenbart der Rückstieg ins historische Weichbild dieser Zeit, dass man es hier mit einem retroaktiven Aberglau­ben der Politischen Theorie, nicht aber mit einer adäquaten Be­schrei­bung der historischen Entwicklung zu tun hat. Dieser Aberglaube suggeriert, dass der National­staat ein Vernunft­produkt ist, also eine Setzung darstellt, vor allem, dass er auf dem Gewaltmonopol beruht. Keineswegs jedoch ist der Nationalstaat eine plötzliche Emanation – vielmehr der Abschluss einer schmerzhaften, mehrere Jahrhunderte umfassenden Trans­formation. Geht man dieser Vorgeschichte nach, wird die Architektur des Nationalstaats lesbar als Antwort auf ein Dilemma, das die mittelalterliche Gesellschaft heim­gesucht und in geistige Verwirrung, Bürgerkriege etc. gestürzt hat. Nun wäre der allerberedtste Zeuge gegen den Hobbes des Leviathan niemand anderes als Hobbes selbst, hat er mit dem Behemoth ein nach wie vor unerreichtes Soziogramm, ja geradezu eine Dekonstruktion des Bürgerkriegs aufgeboten. Wenn der Behemoth ein Leit­motiv hat, so ist es die Tatsache, dass die Diskurswirklichkeit der Kombattanten nicht das Mindeste mit ihren Taten gemein hat. Man beginnt die Schizologik dieser Zeit zu erahnen, wenn man sich vor Augen hält, dass Charles I., der König, im Namen des Königs hingerichtet wurde, während das Parlament sich seinerseits zum wahren König proklamierte – bis Cromwell schließlich, mit nackter Gewalt, auch diese Prätention auffliegen ließ.

Im Omnibus

Freilich: die Machtfrage, die auf diese Weise entschieden wird, geht sehr viel weiter zurück, vor allem aber hat sie einen anderen Hintergrund. Eine der bemer­kenswertesten Schriften in diese Zusammen­hang ist das Traktat eines Scholasten, der sich anschickte, im 14. Jahr­hundert eine Geldtheorie zu entwerfen (Nicole Oresme: De mutatione monetarum / Traktat über Geldabwertungen ). In dieser Zeit ist zwar von einem Nationalstaat im Hobbesschen Sinne nichts zu sehen, gleichwohl wird hier eine Theorie eines zentral­perspektivischen Staates ent­worfen. Oresmes Leitgedanke besteht nicht darin, dass es eine Instanz gibt, welche die Bürgerkriegsparteien befrieden und ein­hegen soll, sondern in der Frage, wie eine Gesellschaft be­schaffen sein könne, die die Bürger mit dem allgemeinen De­siderat, einer stabilen Währung, ausrüsten könne. Wem gehört, so lautet die Frage, das Geld? Bis ins 14. Jahrhundert hinein war es allge­meine Übereinkunft, dass das Geld im Besitz des Sou­veräns war, dessen Gesicht der Münze aufgeprägt war. Dies korrespondierte mit der Vorstellung, dass Geld als solches keinen Wert darstelle, vielmehr die Funktion eines Eichinstrumentes habe, mit dem man den Wert einer Sache messen könne. Freilich war dies eine Lehrmeinung, die schon zu dieser Zeit nicht mehr mit der Wirklichkeit in Deckung zu bringen war. Als Europa sich anschickte, Goldwährungen zu emittieren, als darüberhinaus das Wucherwesen den Zins hervorbrachte, als man sich schließlich (um sich mit diesem geistigen Fremdkörper zu arrangieren) zur Erfindung des Fegefeuers und damit zu einem Umbau des Himmels versteigen musste – war das Gold selbst zu einem begehrten Wert ge­worden.

Unter der Hand hatte sich ein neues Kreditwesen entwickelt, das, ganz im Sinne von Schum­peters kreativer Zerstörung die mittelalterlichen Ge­meinwesen umcodierte. Um ihren progredienten Machtverlust aufzuhalten, verwandelten sich die Fürsten des Mittelalters zunehmend zu Warlords, vor allem aber verlegten sie sich auf Falsch­münzer­operationen. Das 14. Jahrhundert kann als das Jahrhundert der Falschmün­zerkriege aufgefasst werden. Vor diesem Prospekt ist die Frage danach, wem das Geld gehöre, nichts anderes als eine Re­volution: steht hier doch nicht bloß die Souveränität des Feudalherren selbst zur Disposition. Oresme beantwortet sie schlankweg und mit jener Rücksichts­losigkeit, die nicht dem politischen Kalkül, sondern der Logik der Sache entspringt: Weil Geld dem Wohle aller diene (also dem commonwealth zuarbeite), müsse es allen gehören. Damit ist der Omnibus des Nationalstaates entworfen, ist die nächste Frage, wie die Gemeinschaft denjenigen, den sie ans Steuer setzt (und seinerseits mit dem Recht ausstattet, Steuern zu erheben) ihrerseits kontrollieren kann. Das Modell, zu dem Oresme hier kommt (ein zentralperspektivischen Staatswesen, bei dem der Souverän nur als Repräsentant des volonté génerale wirkt) ist eine Vorwegnahme des Hobbes­schen Leviathans, der ja gleichfalls eine Maschinerie der Stellvertretung dar­stellt.

Double talk

Liest man diese Vorgeschichte, so kann von einem Primat der Politik nicht die Rede sein. Tatsächlich müsste man das Gebäude, das im 17. Jahrhundert Gestalt annimmt, als Symptom des kapitalistischen Tauschwesens lesen, als viel zu spät be­griffene Notwendigkeit, ein innerweltliches Kreditwesen zu etablieren. Denn zwischen dem Denker des 14. Jahrhunderts und Hobbes liegen drei Jahrhunderte Bürger­krieg, bricht jenes Gehäuse zusammen, das man als scholastische Denkweise kennt. Genau dies ist ja das Szenario, das Hobbes in seinem Behemoth schildert. Was er anprangert, ist nun keineswegs neu, sondern identisch mit jenem Lamento, das seit dem 14. Jahrhundert allüberall anschwillt: Es ist der Vorwurf, dass die politische Rede (die stets in religiöser Form sich artikuliert) nur eine Camouflage niederer Beweggründe ist. Wenn Hobbes die Scholastik denunziert, so wird eigentlich die Doppelgestalt des euro­päischen Kreditwesens denunziert, das zwischen Geld und Gott nicht zu unterscheiden weiß. Man bewegt sich im Diskurs der Scholastik, aber untergründig sind die Interessen diesseitig. Dieser double talk, bei dem die reli­giöse Rede, aber auch das Triebwerk der Gemeinschaft, das Geld, nur in camouflierter Form erscheinen können, lässt sich als eine Form der kollektiven Schizophrenie lesen. Hier liegt der tiefste Grund für das Gespenstische, den durchaus theatralischen Cha­rakter dieser Zeit: hat man es stets mit Masken, Larven, Täuschungsmanövern zu tun. Am deutlichsten ist diese Spaltung in einem Diktum jenes Mannes überliefert, der den englischen Bürgerkrieg entscheiden konnte, dessen Urteilsvermögen jedoch mit seiner Entscheidungsfähigkeit nicht Schritt halten kann. Weil Cromwell genau weiß, was er nicht will, aber nicht weiß, was er will, versammelt er seine Uniformträger (die ersten Uniform­träger der Geschichte) auf einem Feld, zu einem zweitägigen Gebet und erfleht – in impro­visierter Rede, die Erleuchtung des Himmels. Gott soll richten, was man doch selber in Szene gesetzt hat. Diese Schizophrenie aber – und das ist die Leistung des Thomas Hobbes – wird im Bauplan des neuzeitlichen Staates zu Ende gedacht, zur Konstitution, die es, über die institutionelle Spaltung von Kirche und Staat – erlaubt, dass die beiden Sphären (Geld und Gott) sich in gesonderter, entmischter Form ausbilden können.

Pseudomorphose

Nimmt man diese Vorgeschichte in den Blick, so wird deutlich, dass die Zeit der Bürgerkriege einer kulturellen Transformation zuzuschreiben ist: dass die Herrschaftssprache, die die Wirklichkeit antreibt, nicht zur Diskurswirklichkeit werden kann, ja, mehr noch, dass gerade in dem Maße, in dem das Triebwerk des Kapitalismus sich herausbildet, religiöse Wahnvorstellungen die Bühne beherrschen. Man könnte, um dieses Geschehen zu charakterisieren, von einer kulturellen Pseudomorphose sprechen. Neues bildet sich heraus, aber weil es sich nicht als solches zu behaupten vermag, kommt es nicht zu einer Metamorphose (also einem vollendeten Gestaltwandel), sondern nur zu einer Pseu­domor­phose – muss sich der neue Wein in alte Schläu­che ergießen. Nun ist, wie man gerechterweise sagen muss, dieses kulturelle Larvenstadium nicht trotz, sondern gerade wegen seiner struk­turellen Zwiespältigkeit überaus fruchtbar, haben doch die avanciertesten Körperschaften, die bis heute das Antlitz Europas prägen, hier ihren Ursprung: der Fiskus, die Universität, die GmbH. Jedoch: der Preis, der dafür zu entrichten ist, ist hoch. Denn indem man, um die Illusion aufrecht­zuerhalten, es habe sich nichts Grundlegendes geändert, eine überlebte Formensprache weiterverwendet, verwandelt sich das Denken seinerseits zu einer Illusionstechnik – geht es nicht mehr um die Sache (die zu benennen ohnehin tabu ist), sondern nurmehr darum, wie etwas adäquat in Szene gesetzt wird (eben so, dass es nicht als solches, sondern etwas anderes erscheint). – Architektonisch gedacht: hat man es mit Blenden und Vorbauten zu tun, deren einziger Sinn darin liegt, das Innenleben des Gehäuses zu cachieren.

Krise der Souveränität

Nun ist, wie die rasante Karriere des Simulationsbegriffs zeigt, diese Beschreibung des vorneuzeitlichen Dilemmas bezeichnend auch für die unmittelbare Gegenwart – scheint auch der body politc, das Monster der Gegenwart, von einer neuerlichen Systemkrise heimgesucht. Dass es des 11. Septembers bedurfte, um ein Sensorium für die Anfälligkeit des Nationalstaates zu erwecken, ist nur ein weiterer Beleg für die These, dass der Diskurs mit der Sachlage nicht Schritt gehalten hat. In der Tat ist es die Logik der Massenvernichtungswaffen selbst, die die Frage der Souveränität ins Spiel bringt. Denn der Besitz eines Massenvernichtungsmittels oder die Vortäuschung, im Besitze desselben zu sein, verbunden mit der glaubhaften Drohung, es im Zweifelsfall auch einsetzen zu können, bietet das Entréebillet, in den Kreis der Groß­mächte aufge­nommen zu werden. Weil diese Würdigung im Extremfall einer einzelnen Person (oder einer kleinen Gruppe) zuteil werden kann, stellt diese Konstel­lation die Karikatur der herkömmlichen Souveränität dar – insoweit jedenfalls, als sich diese über das Gewalt­monopol definiert.

Retrospektiv könnte man sagen, dass die Atombombe für den modernen Staat das ist, was der ontologische Gottbeweis für das Mittelalter war. Wurde Gott im Mittelalter zu einem Ding (einem Räderwerkautomaten), so nimmt der Nationalstaat in der Atom­bombe, dieser verdinglichten Souveränität, greifbare Form an (nicht zufällig wird die Bombe von ihren Erbauern, nüchternen, eher agnostischen Wissenschaftler, Trinity getauft). Was als Apotheose des Staates erscheint, ist im Wort­sinn, seine Kernspaltung. Denn jeder, der sich in den Besitz dieses Ding zu bringen vermag, kann sich auf eine unerhörte, monströse Art ermächtigen. Von nun an lebt man buchstäblich in einer Atmosphäre des Schreckens, geht es darum, in den Himmelsbewegungen jenes unbekannte feindliche Flugobjekt zu orten, indem das Ding des anderen sich befinden könnte. Zum Teil sind es dieselben Figuren, die, nachdem sie an der Konstruktion des Dings gearbeitet haben, nun mit seiner Prophylaxe beschäftigt sind. Das Verteidigungssystem, der erste Groß­computer, heißt treffenderweise Whirlwind, Wirbelwind, das Luft­verteidi­gungssystem SAGE. In diesem »elektronischen Gehirn« kreuzen sich die Daten verschiedener Radar­stationen, Flug­pläne, Seefunk, Radiowellen, glaubt man einen Paravent gegen den Eintritt des Dings zu besitzen. Freilich ist auch SAGE nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn so sehr sich das Monster auch vor jenem Undenk­baren schützen mag, das seine Existenz im Innern be­gründet, so ist die Politik des Himmels doch fragil. Es ist das Ding selbst, das die Super­macht mit ihrem Zersetzungsprinzip konfrontiert. Erstaunlicherweise, obwohl man sie sehr viel früher hätte stellen können, taucht die Frage erst im Jahr 1957 auf, als das Luftverteidigungssystem installiert und in Betrieb genommen worden ist. Die Frage lautet: wie weiß das Monster, dass es verletzt ist? Wie kann man verhindern, dass das Monster, aufgrund einer System- oder Kommunikationsstörung, sich irrtümlich zu einem Gegenschlag entscheidet oder ihn, obschon er geboten wäre, aus nämlichen Gründe unterlässt? Tatsächlich ist der Souverän, wie Hobbes gelehrt hat, nur der Schnittpunkt einer kollektiven Imagination, sind es immer wieder Einzelpersonen, die, an verschiedenen Posten des Großraumes befindlich, zu einer gemeinsamen Entscheidung finden müssen. Insofern der Souverän symbolisches Wesen ist, kann das Wissen über ihn nur in symbolischer Form über­mittelt werden, über Telefon oder Funk. Nein, letzteres genau geht nicht, und zwar infolge der Wirkung des Dinges selbst. Denn hat sich das Ding realisiert, hat es also jene kritische Masse überschritten, wo die Spaltung des Kerns eine Kettenreaktion verursacht (und zwar, weil mehr Energie produziert wird als austreten kann), so hat dies atmosphärische Störungen zur Folge, die es über Stunden hinweg unmöglich machen, den Äther zu nutzen. So wird jener Paravent, der den Eintritt des Dings anzeigen soll, zwangsläufig ausfallen. Bleibt als einzige Kommunikationsform, um die Katastrophe zu melden, der Weg über die Telefonleitungen. Aber auch diese sind hoch anfällig, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Atomschlag unbeschadet überstehen, extrem gering. Dies ist die Fragestellung, die, zumindest von Regierungs­seite aus, dem Internet zugrunde liegt. Wie kann man, so lautet das Desiderat, dem Blackout der Kommunikation entgehen? Wie kann man ein Kommunikationsnetz bauen, das, selbst wenn große Teile ausfallen, noch immer das Wissen über das Trauma zu transportieren vermag? Der allgemeine Entwurf einer solchen Überlebensmaschine ist relativ einfach zu beschreiben: ein dezentriertes Kommuni­kationsnetzwerk, das, wie ein zerteilter Regenwurm, immer wieder zu seiner endgültigen Gestalt finden kann. Mag dieses Netz auch in zwei Teile gerissen werden, so geht, solange ein einzelner Faden intakt bleibt, der Gesamtzustand nicht verloren.

Overkill

Im Jahr 1961 wird ein junger Ingenieur, Paul Baran mit Namen, im Auftrage der RAND-Corporation, damit betreut, ein solches Netz zu entwerfen. »Ich begann zu untersuchen, welche militärischen Kommunikations­bedürfnisse wesentlich waren... Je tiefer ich in die Materie eindrang, desto länger wurde die Liste. Ich sagte mir: ›Wenn man nicht herausfinden kann, welche Bedürfnisse essentiell sind, werde ich den Spieß einfach umdrehen. Ich werde diesen Typen soviel verdammte Bandbreite geben, dass sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.‹ .. Ein Projekt, wie wenn man zum Mond fliegen will.« In dem imaginären Netzwerk, das Baran nun entwarf, war vorgesehen, dass jeder Netzknoten mit beliebig vielen anderen Netzknoten in Kommunikation treten würde, nicht zuletzt deswegen, weil der Informationsfluss über die verbleibenden, sozusagen »überlebenden« Pfade gehen musste. Hier stellte sich ihm ein fundamentales Problem, ein Problem, was die materielle Seite der Übertragung anbelangt. Ein analoges Signal läuft schon bei fünf­maliger Weiterleitung Gefahr, im Rauschen unterzugehen (wie bei einer Kassettenkopie, wo bei jeder Überspielung das Bandrauschen zunimmt). In Anbetracht dieser Verlegenheit war Baran klar, dass das zu entwerfende Netz nicht mehr auf analoger Basis, sondern allein auf digitale Ebene operieren müssen. Denn der Vorteil der digitalen Codierung besteht darin, dass das Signal, solange es nicht im Rauschen untergeht, kenntlich bleibt, dass es immer wieder zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückgeführt werden kann: forever young. Die Folgerung war klar: »

Das künftige Überlebenssystem musste vollkommen digital sein.« [Paul Baran im Gespräch mit David Hoch­felder, 24.10.1999]

Ein zweites Moment war die Modularisierung der Übertragung. Insofern der Gesamtzustand des Systems nicht mehr als solcher übermittelt, sondern in einzelne, handliche Pakete zerlegt oder worden war, hatte man es nicht mehr einer Botschaft, sondern mit einem Kompositum zu tun, das sich am Bestimmungsort, aus verschiedenen Quellen stammend, zusammensetzen konnte. In gewisser Hinsicht ist dies das genaue Gegenstück zur Atombombe. Ein Overkill an partikularer, atomisierter, modularisierter Information, mit dem Ziel, das Partikulare jederzeit und überall wieder zusammensetzen zu können. Drohte das Ding damit, alles zu atomisieren, so bestand die Antwort darin, das symbolisch atomisierte wieder zu einem Ding werden zu lassen. Mit der Entscheidung, das künftige Überlebenssystem als digitales Netzwerk zu entwerfen, ließen sich auch andere Schwierigkeiten, die ansonsten unüberwindbar gewesen wären, aus der Welt schaffen. So konnte man den Informationspartikeln nicht nur das Wissen über sich selbst, sondern auch das Wissen über den zurückgelegten Pfad mitgeben. Dazu war es lediglich nötig, das Netzwerk nach dem Muster eines Post­leitzahlensystems zu numerieren. So konnten die Partikel, ohne einen Masterplan und Königsweg gehen zu müssen, gleichsam chaotisch nach allen Seiten hin ausschwärmen. »Stellen Sie sich einen Postmann vor, der aus verschiedenen Himmelsrichtungen Post bekommt. Ange­nommen, er befindet sich in Chicago, so wird ihn die Post aus Philadelphia, die aus dem Osten kommt, statisch be­trachtet, ihn am schnellsten erreichen. Unter dem Gesichts­punkt der Störung des Systems jedoch kann es passieren, daß ein anderer Kommunikationsweg zuverlässiger und schneller läuft, ersichtlich am Poststempel. Jeder Netz­knoten operiert wie ein solcher Postmann, und zwar, indem er, anhand der Poststempel, die Kommunikations­wege analysiert. Immer die Suche nach dem kürzesten Weg.«

Free floating

Stellt die Atombombe eine Art Verdinglichung, einen Fetisch der nationalstaatlichen Souveränität dar, so erzeugt sie, indem sie zur Entwicklung einer dezentrierten Herrschaftssprache zwingt, unversehens jenen Rivalen, dem der Nationalstaat nicht standhalten kann und wird: das Gespenst der Globalisierung. Man mag das Er­scheinen dieser Weltmacht nennen, wie man will, man könnte von einem Volk ohne Raum, von einer Internationale der Konsumenten oder einem Weltbürger Geld sprechen – aber derlei Beschreibungsversuche zerschellen an der Tatsache, dass dieses neuartige Monster, obschon im Weltmaßstab und als Weltmacht tätig, nicht in gestalteter Form (als Institution) in Erscheinung tritt. Tatsächlich hat es vielmehr mit dem kapitalen ES gemein, das auch den Fluss des Weltkapitals charakterisiert – könnte man von einer frei flot­tierenden Souveränität sprechen. Mag diese Macht ortlos sein, so sind ihre Wirkun­gen allüberall spürbar. Denn das Gewicht der Welt lastet auf jedem einzelnen Punkt. Dass dieses Gewicht in vergleichsweise zurückgebliebenen Weltgegenden drückender erlebt wird, als eine Form der kulturellen Deterritorialisierung, ist verständlich, nicht minder aber betrifft es die Gebilde, denen man gemeinhin Souveränität unterstellt hat. Hält man sich vor Augen, dass die Grundfrage des Nationalstaates die Bereitstellung und Sicherung des Geldes war, so wird klar, dass die unfreiwillige Preisgabe des Geld­mono­pols, zu der man sich in Bretton Woods veranlasst sah, im Grunde eine Ban­krott­erklärung darstellt. Wo ehedem die Repräsentanten staat­licher Macht thronten, herrscht nunmehr ein gesichtsloser, weltumspannender Markt – und dort, wo einst eine etatistische oder nationale Rhetorik gepflegt wurde, kursieren die Zauberworte des Marktes: Service, Dienst­leistung, Mobilität. Kein Staat dieser Welt wird an den internationalen (oder genauer: postnationalen) Geldmärkten vorbei Politik machen können. Im free floating verflüssigen sich die herkömmlichen Strukturen, ist, was ehedem firm und Firma war, der Sphäre des Behemoth geweiht.

Aus dem Nichts

Seit Bretton Woods läuft ein merkwürdiger Kampf der Systeme, dessen Ausgang durchaus voraussagbar ist. In dieser Auseinandersetzung zersetzen die flüssigen, flüchtigen Körper die bestehenden trägen Körper­schaften, machen die Techniken der Simulation dem Stehenden und Stän­dischen den Garaus. Zweifellos hat das ortlose Kapital hier eine sehr viel bessere Ausgangsposition (wenn man denn das Atopische in einen räumlichen Begriff kleiden möchte) – ist der Staat, als bodenständiges Wesen, das zudem für die Sozialab­sicherung zur Verantwortung gezogen wird, notorisch erpressbar. Soll er sich all der Opfer des Globalisierungsprozesses annehmen, kann er sich der Früchte der Globalisierung nicht sicher sein. Denn das Kapital, anders als Karl Marx weiland gemutmaßt hat, trägt weder Landesfarbe noch Uniform, sondern ist atopisch und vaterlandslos, wenn man so will: kapital-flüchtig. So besehen ist es nicht einmal Böswilligkeit, sondern nur ein ökonomisches Rationale, wenn die Arbitrage­gewinne (die sich aus der Differenz der wirtschaftlichen Systeme ergeben) realisiert werden. Was sich hier realisiert, ist nichts anderes als das Potentialgefälle zweier unvereinbarer Ordnungen (zwischen dem Festen und Landgängerischen einerseits, dem Flüssig-Atopischen andererseits).

Was die Effekte anbelangt, so sind die malignen Züge unübersehbar. Denn die Volkswirtschaften können sich, um ihren wachsenden Verpflichtungen nachzu­kommen, nur zwischen Abschottung oder Abwertung der Sozialsysteme entscheiden. Die erste Option ist – in Anbetracht der ökonomischen Verflechtung – illusorisch, die zweite ein Präludium des Bürgerkriegs. In diesem Sinn stellen die Kapitalbewegungen für den sozialen Raum dar, was der Terror für den politischen Raum darstellt: ein An­griff aus dem Nichts. Freilich treffen all diesen Attacken ins Schwarze, zeigen sie doch, dass der Souverän nicht derjenige ist, für den er sich ausgibt. Zudem bezeugen die Wanderungsbewegungen (die, mit gewisser Verzögerung, den Geldflüssen folgen), dass man es längst nicht mehr mit nationalstaatlichen Aggregaten, sondern mit trans­nationalen Gebilden, ja, man könnte sagen: mit Multis zu tun hat. Aus diesem Grunde (auch aus innenpolitischen Gründen) erweist sich die vormalige Scheidung von Innen und Außen als Chimäre, droht jeder außenpo­litische Störung auch zu einer innenpolitische zu werden. Und vice versa.

Forza Italia!

Nun hat das Bewusstsein dieser ero­dierenden Macht längst die Sachwalter des Be­stehenden erfasst, lässt sich verfolgen, dass die Körperschaften sich ihrerseits der Simulationstechniken be­dienen. So wie die mittelalterlichen Könige sich nicht zu fein waren, als Falsch­münzerkönige in Erscheinung zu treten oder Adelstitel zum Kauf feilzubieten, hat man es mit einem progredienten Ausverkauf des Nationalstaates zu tun, betrieben, sinnigerweise, von den Sachwaltern dieser Körperschaft (man denke nur an die europaweit betriebene Privatisierung der Telekommunikationsapparate). Im Grunde haben wir es seit Bretton Woods nicht mehr mit Nationalstaaten, sondern mit der Simulation von Nationalstaaten zu tun. Indes wäre es töricht anzu­nehmen, dass diese altehrwürdigen Gebilde einfach so aus der Welt scheiden werden, ist vielmehr anzunehmen, dass sie – sozusagen als eingeführte Markenprodukte – über lange Zeit noch die politische Arena mitgestalten werden. Forza Italia lässt grüßen! Tatsächlich lohnt es sich, hier einen Blick auf das Schicksal der mittelalterlichen Feudalwesen zu werfen. Waren sie ideologisch längst entkernt und zunehmend von Zahlungsun­fä­higkeit und anderen haus­ge­machten Missständen bedroht, so war das Anpassungs- und Einverleibungsvermögen dieser Gebilde doch überaus erstaunlich. Es ist kein Zufall, dass mit den Falschmünzerkriegen des 14. Jahrhunderts auch ein massiver Anti­semitismus anhebt (auf diese Weise etwa konnte man das Kunststück verbringen, die jüdischen Wucherer in Eng­land zugleich enteignen und vertreiben, darüberhinaus ein Vetorecht des Parlaments zu erlangen). Die Erfindung der Hexerei, die Gräuel der Inquisition, aber auch der jäh erwachenden Nationalismus – all dies sind gleichsam die Aphrodisiaka, die sich der ermattete body politic des Mittelalters zuführte. Schon ein flüchtiger Blick in die Zeitung genügt, um sich darüber klar zu werden, dass die der­zeitige Weltlage in eine ähnliche Richtung sich neigt, dass man im Krieg gegen den Terror vor allem Souveränität zu behaupten sucht. Schon die bedenkliche Kon­struktion des Schläfers (der als unsichtbarer Fremdkörper unter uns weilt, zu einem bestimmten Zeitpunkt aber zur Killermaschine mutiert) markiert die Leerstelle, die sich künftig mit anderen Feinden besetzen lässt. – Überhaupt ist das Moment das Camouflage das Bemer­­kens­werteste an der zeitgemäßen Form der Auseinandersetzung. Ging es früher um ideologische Differenzen, so geht es nunmehr (da sich der Generalverdacht der Inszenierung ins Spiel gemengt hat) politische Haltung des Gegenüber als eine Form der Camou­flage zu begreifen, hinter die geheime Machi­na­tionen, Winkelzüge zu kommen, die Inszenierung zu dechiffrieren. Folgerichtig ist die Ideologiekritik der verschwörungstheoretischen Spekulation gewichen.

Krieg und Frieden

Wenn eine Kriegshandlung ein symbolischer Akt ist, wo beginnt dann eine krie­gerische Aktion? Und vor allem: wer sind die Kombattanten? Dass mit den Terroristen eine neue Species auf den Plan getreten ist, ist bekannt, was aber hat es mit jener Supermacht auf sich, die man einst die »schweigende Mehrheit« genannt hat? Ist es nicht so, dass auch derjenige, der eine Fernbedienung (also eine kleine telematische Guillotine) in der Hand hält, seinerseits an der allgemeinen Mobil­machung teilhat? Und ist seine Stimme nicht längst schon mächtiger ist als die Meinung der sogenannten Eliten? Tatsächlich ist das Votum des Zappers Gesetz, verschwinden die Repräsen­tanten, die sein Missfallen erregen, früher oder später vom Schirm. Nein, mehr noch: die Logik der po­litischen Repräsen­tation selbst fällt dem viszerären Neugierdetrieb des Zappers zum Opfer. Damit aber höhlt sich der body politic weiter noch aus, kommt es dazu, dass auch die bestehenden Institutionen (die nach dem Gesetz der Repräsentation verfasst sind) sich beeilen, diesem gesichtslosen Monster vorauszukommen – oder wie es heißt: den Gesetzen der Demoskopie Tribut zu zollen. Dieser Prozess ist so wenig zufällig wie das rhizomartige Wuchern der Netz­gemein­schaften. Denn die Gesetze der reprä­sen­tativen Demokratie sind, wie die politischen Termini von Standpunkt, Perspektive verraten, zentralperspektivischer Natur. Damit aber gehören sie einer Epoche an, die mit dem Fernsehbild (diesem ephemeren, flüchtigen Bild) überflüssig geworden ist. Unter Echt­zeit­­be­dingungen vermag Volkes Stimme unmittelbar auf den politischen Prozess einzuwirken. Folglich sind es die Phyiso­gnomien der Populisten, die auf den Schirm erscheinen. Mithin ist es das Projektionsfläche selbst (also die ideologie­produzie­rende Welt­bild­maschine), welches von der allgemeinen Mobilmachung erzählt.

Machen die Bilder mobil, so ersehnt sich die couch potatoe doch nichts sehnlicher, als dass die Erzählungen, die auf der Oberfläche stattfinden, den realen Heimatverlust kom­­pensieren. In diesem Sinne kommt es auch hier zu jener Pseudo­morphose, wie sie bereits der Faschismus zur politischen Strategie gemacht hat: Verkitschung und Sentimentalisierung der Oberfläche, bei gleichzeitiger medialer Aufrüstung. Wer Augen hat zu sehen, der weiß, dass dem Frieden nicht zu trauen ist – dass nicht die Oberfläche zählt, sondern nur das, was unter der Hand, mit dem Druck des Fingers, entschieden wird. In diesem Sinne (auch wenn diese Front unsichtbar bleibt und bleiben muss) werden Positionen eingenommen, Strukturen geschaffen, versucht man, das Monster auf eine solche Weise zu penetrieren, dass man seinerseits nicht vom Schirm gefegt wird. Nun muss man nicht bloß das Vo­kabular des Wirt­schaftsmagazine analysieren, um zu erfassen, dass die öko­nomischen Denkfiguren zunehmend – wie es heutzutage verniedlichend heißt – bellizistische Form ange­nommen haben. Mehr oder minder schleichend hat sich ein Kriegszustand der Köpfe bemächtigt, geht es um strategisches Denken, Positionierung, Geländegewinn. Hier imperiale Ge­lüste zu unterstellen, ist jedoch allzu naiv: eher hat man es mit einem Abwehr­kampf zu tun, einem Krieg, der sich vor allem aus Selbstverteidigungsimpulsen gespeist wird. In der Gewissheit, dass die all­durch­dringende Macht der Glo­balisierung bestehenden Pri­vilegien schleift, im Gefühl der daraus resultierenden Weltangst, besinnt man sich darauf, Bastionen und Schutzvorkehrungen zu errichten. Im Grunde nötigt be­reits die Logik der Glo­balisierung zu einem fortgesetzten Prä­ventivkrieg, nur dass dieser nach innen wie nach außen geführt wird (wovon die Ar­meen der Arbeits­losen, die an Zahl das militärische Aufgebot weit überwiegen, Zeugnis ablegen). Viel­leicht stärker noch als die soziale Ersetzbarkeit wirkt die technologische Demütigung: das Gefühl, der heillos pro­liferierenden, ubiquitären Maschine unterlegen zu sein. Dass ES geschieht, so oder so.

Architektur des Bürgerkriegs

Der Bürgerkrieg, so sagt Hobbes, beginne just in dem Augenblick, da man weder den Grund noch den Grund für den Krieg kenne – und wie es zweifelhaft wird, dass unsere Staaten, handlungsmächtig, den Grund für den Frieden legen können, so beginnt sich der Unterschied von Krieg und Frieden aufzulösen. Was aber könnte man unter der Architektur des Bürger­kriegs verstehen? Wenn man aus dem Weichbild der Gegenwart heraustritt – und einen ungerührten, histori­schen Blick einnimmt, so wird deutlich, dass man es mit einer Systemkrise zu tun hat, genauer: einer Ablösung zweier grundlegender, grund­stür­zender Systembegriffe. Folglich ist diese Krise am präzisesten in Gestalt jener beiden Universalmaschinen auszumachen, die nicht nur die politische Metaphorik, sondern auch die Wirklichkeit des Kapitalismus gestalten: Räderwerk und Computer. So vehement, wie der Räder­wer­kautomat in das Denken des Mittelalters eingeschlagen ist (wie ein Komet), so erleben auch wir eine Erschüt­terung unserer Grundfeste, werden wir mit der Zumutung konfrontiert, un­sere po­litische Theologie und unser säkulares Kreditwesen den digitalen Realitäten an­zupas­sen. Dieser Kultur­schock trifft uns so unvorbereitet wie die Gesellschaft des Mittelalters von den Zumutungen der Kapitalis­mus heimgesucht wurde. In gewisser Hinsicht ist diese Verwunderung mit dem Nots­tands­wort der Globalisierung ausgedrückt, das seit geraumer Zeit die Debatten beherrscht. Sich auf die Zwänge der Globalisierung zu berufen, heißt, ein Ross ohne Reiter, eine Revolution ohne Revolutionär, einen Weltgeist ohne Kopf und Adresse ins Kalkül einzubeziehen. Dass dieses Wesen gleichwohl die politische Debatte beherrscht, bezeugt die Wirkmacht, die ES auf unser politisches Denken ausübt, ist folglich als Indikator für die fortschreitende Eva­kuierung des Politischen zu lesen. Nun bleibt, wie man weiß, ein politisches Vakuum niemals leer, sondern ruft an­dere Mächte auf den Plan (die sich am Leichnam des Leviathan gütlich tun). Dass diese Mächte der Vernunft zuarbeiten, ist wenig wahrscheinlich. Sehr viel wahrscheinlicher hingegen ist, dass das Po­litische zu einem Pandä­monium der toten Götter, untergegangener Reiche degeneriert, dass jeder Plunder gut genug sein wird, um wiederbelebt zu werden. Dabei ist der arabische Fundamenta­lismus, der sich aus einer tiefsitzenden kulturellen Idiosynkrasie speist, nur ein Vorbote künf­tiger Gräuel, werden neue Gruppen mit neuen Ver­schwörungs­­theorien auf den Plan treten. All diese Gruppen werden, wie Cromwell, genau wissen, was sie nicht wollen – aber sie werden das, was sie wollen, nicht in der angemessener Form artikulieren können. Mögen wir auf der Diskursebene allerlei blauen Wundern und Heilsversprechungen entgegensehen, so ist doch vor­hersagbar, dass die Mittel, derer man sich dabei bedient, keinesfalls beliebig sein werden. Wäre man ein Stoiker, so könnte man sicher sein, dass am Ende – wie in den Zeit des Leviathan – die Vernunft den Sieg davontragen wird. Aber was wäre das Ende? Und wann? Und worin bestünde der Sieg? Bestimmt nicht, dass irgendeine Gruppierung das Gewaltmonopol usurpierte, sondern dass der Weltbürger Geld die Gesellschaft und die Institutionen vorfände, die er verdient, und dass wir, anderseits, diesen Omnibus als unser Gemeinschaftsgefährt ansehen.


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