Alles Geschichte - History von radioWissen   /     VORSTÖSSE - Pickelhaube und Kokosnuss

Description

Wer auf der SĂŒdsee-Insel Samoa einen Blick ins Telefonbuch wirft, kann sich auf eine Überraschung gefasst machen. Nachnamen wie Keil, Thieme und Retzlaff zeugen von einer Zeit, die in Deutschland fast vergessen ist: Einen "Platz an der Sonne" suchte das Deutsche Reich auch auf Neuguinea, Samoa und anderen SĂŒdseeinseln. Die deutsche Kolonialzeit in der SĂŒdsee ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz der Geschichte. Von Klaus Uhrig (BR 2014)

Subtitle
Duration
00:23:06
Publishing date
2024-07-05 12:10
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/vorstoesse-pickelhaube-und-kokosnuss/2095280
Contributors
  Klaus Uhrig
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2095280/c/feed/vorstoesse-pickelhaube-und-kokosnuss.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Wer auf der SĂŒdsee-Insel Samoa einen Blick ins Telefonbuch wirft, kann sich auf eine Überraschung gefasst machen. Nachnamen wie Keil, Thieme und Retzlaff zeugen von einer Zeit, die in Deutschland fast vergessen ist: Einen "Platz an der Sonne" suchte das Deutsche Reich auch auf Neuguinea, Samoa und anderen SĂŒdseeinseln. Die deutsche Kolonialzeit in der SĂŒdsee ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz der Geschichte. Von Klaus Uhrig (BR 2014)

Credits
Autor: Klaus Uhrig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Joseph Hiery

Besonderer Linktipp der Redaktion:

ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel

Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage fĂŒr Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert GĂŒnther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue IdentitĂ€t als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. FĂŒr einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK

Linktipps:

WDR (2023): Die deutsche Kolonialzeit – Was wir heute ĂŒber sie wissen

Am Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das Deutsche Reich zu den KolonialmĂ€chten Europas. Mit mörderischer BrutalitĂ€t unterdrĂŒckten deutsche Kolonialherren die Bewohner der besetzten LĂ€nder. Ein dĂŒsteres Geschichtskapitel, ĂŒber das bis heute noch wenig bekannt ist. JETZT ANSEHEN

Das Kalenderblatt (2011): Deutsch-Neuguinea wird regulÀre Kolonie (01.04.1899)

Der 1. April 1899 bedeutete fĂŒr die Papua-Bevölkerung den Anbruch einer neuen Zeit, denn Deutsch-Neuguinea wurde regulĂ€re Kolonie des Deutschen Reichs. Bis heute ist es schwer, die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung vor der Kolonisierung zu rekonstruieren. JETZT ANHÖREN

Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzĂ€hlt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrĂŒhrend, witzig und oft ĂŒberraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. 

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

ErzÀhlerin:
Ob seine melanesischen Diener Otto Ehlers wirklich aufgegessen haben, das lĂ€sst sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Unwahrscheinlich ist es aber nicht. Im tiefen Dschungel Neuguineas gibt es keine großen Tiere, die man jagen könnte und ĂŒberhaupt kaum Nahrungsquellen. Wem hier die VorrĂ€te ausgehen, den könnte so ein wohlgenĂ€hrter Deutscher schon in Versuchung bringen.

MUSIK ENDE

ErzÀhler:
Vielleicht haben sie ihn auch einfach nur erschossen, weil sie genug von seinen abstrusen PlĂ€nen hatten. Einmal die grĂ¶ĂŸte Insel der SĂŒdsee von Norden nach SĂŒden durchqueren, zu Fuß, durch den unerforschten, dichten Dschungel. Das wĂ€re selbst heute eine Schnapsidee. Im Jahre 1895 ist es der reinste Selbstmord.

ErzÀhlerin:
Obendrein lÀsst sich Ehlers auch noch eine Kiste Gold und ein Stahlrohrbett durch den Urwald tragen. Ein zivilisierter Forschungsreisender schlÀft doch nicht in der HÀngematte. Was er allerdings mit dem Gold vorhatte 
. keine Ahnung.

ErzÀhler:
Klar ist nur: Ehlers kommt nie auf der SĂŒdseite der Insel an. Von seinen 40 Dienern ĂŒberleben nur 22. Und als der deutsche Landeshauptmann von Neuguinea, Curt von Hagen, spĂ€ter die Mörder stellen will, wird auch er im Urwald erschossen.

ErzÀhlerin:
SpÀtestens jetzt reibt sich wohl so mancher in der Heimat verwundert die Augen: Was genau wollten wir noch mal auf diesen gottverlassenen Dschungel-Inseln?

MUSIK

ErzÀhler:
Ja genau, was eigentlich?

MUSIK

ErzÀhlerin:
Das deutsche Kolonialreich in der SĂŒdsee wirkt erst mal wie eine Randnotiz der Geschichte. Ein Kuriosum. Reichsdampfer am Korallenriff. Kuckucksuhr an der Kokospalme. Vielen Deutschen ist bis heute völlig unbekannt, dass das Deutsche Reich Kolonien im SĂŒdpazifik hatte. Also ein paar ganz kleine Kolonien.

ErzÀhler:
Die Inseln der SĂŒdsee sind der letzte weiße Fleck auf den Landkarten der EuropĂ€er. Erst im 18. Jahrhundert entdecken Handelsschiffe und Weltreisende die weitlĂ€ufigen Inselreiche im SĂŒdpazifik – von den Hawaii-Inseln im Norden, ĂŒber die winzigen Atolle Mikronesiens, bis hin zu den polynesischen Inselgruppen Tahiti und Samoa. Paradiesische Eilande – und dazwischen: Tausende Meilen offene See.

ErzÀhlerin:
Bald stecken EnglĂ€nder und Franzosen ihre Claims ab, Spanier, HollĂ€nder, Portugiesen, Amerikaner. Jeder will ein StĂŒckchen vom Paradies abhaben. Und die Deutschen?

O-Ton Joseph Hiery:
Das ist ne durchaus interessante Geschichte: Was machten die Deutschen da in der Mitte des 19. Jahrhunderts?

ErzÀhlerin:
Professor Joseph Hiery ist einer der wirklich seltenen SĂŒdsee-Kolonial-Experten, die es in Deutschland gibt. Seit Jahrzehnten beschĂ€ftigt sich der Historiker von der UniversitĂ€t Bayreuth mit diesem Thema; diesem kolonialen Spezialfall, der so ganz anders verlief, als die Kolonisierung Afrikas.

O-Ton Joseph Hiery:
Kolonialismus bedeutet normalerweise, dass eine christliche Mission zuerst kommt, und dann ĂŒbernimmt der koloniale Staat. Das haben wir hĂ€ufig auch in der SĂŒdsee. Bei den Deutschen hat die Mission nie eine Rolle gespielt fĂŒr die Kolonialisierung in der SĂŒdsee. Eine Mission kam erst, nachdem das Kolonie war, aber der Handel, der Handel, wenn man will, das Geld.

ErzÀhler:
Statt Soldaten oder Priester sind es nĂ€mlich deutsche HĂ€ndler, die sich zuerst in die SĂŒdsee vorwagen. Und WalfĂ€nger. Zu diesem Zeitpunkt ist Waltran eine unersetzliche Ressource – vor allem fĂŒr die Kerzenherstellung, elektrisches Licht gibt es ja noch nicht. Und die grĂ¶ĂŸten Walherden durchstreifen in dieser Zeit eben den SĂŒdpazifik.

ErzÀhlerin:
Immer wieder lassen sich deutsche Matrosen auf den paradiesisch wirkenden Eilanden nieder. Diese sogenannten „Beachcomber“ grĂŒnden Familien mit einheimischen Frauen und gehen ganz in der Kultur der Einheimischen auf.

O-Ton Joseph Hiery:
Und dann kam von SĂŒdamerika Mitte des 19. Jahrhunderts ein deutscher GeschĂ€ftsmann, der in Valparaiso GeschĂ€fte machte fĂŒr ein deutsches Handelshaus, und kam nach Samoa und fand vor Ort auf fast jeder Insel einen Deutschen. Und das waren so die geborenen Agenten fĂŒr seine HandelstĂ€tigkeit, denn ĂŒber diese gemeinsame Zugehörigkeit, es gab ja noch keinen deutschen Nationalstaat, aber ĂŒber die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, lag es nahe, die mit GeschĂ€ften zu beauftragen. Das Wirtschaftsunternehmen wuchs. Und das fiel dann zufĂ€llig mit der Zeit in die ReichsgrĂŒndung durch Bismarck hinein. Dann kam die Idee: Na ja, da, wo die EnglĂ€nder noch nicht sind, da setzen wir uns ein. SchĂŒtzen eigentlich die Wirtschaftsinteressen.

MUSIK

ErzÀhler:
Im November 1884 hisst Otto Finsch, der sogenannte „Forschungsagent des Neuguinea-Konsortiums“, im fernen Nordosten Neuguineas die erste deutsche Flagge in der SĂŒdsee. Bis Ende Dezember reklamieren verschiedene KapitĂ€ne dazu noch zahlreiche umliegende Inseln fĂŒr das Deutsche Reich, und dazu die – Zitat – „unbestritten herrenlosen“ Archipele der Marshall-, Providence- und Brown-Inseln.

ErzÀhlerin:
Wobei „unbestritten herrenlos“ sich natĂŒrlich nur auf weiße Kolonialherren bezieht. Die Inseln sind alles andere als unbewohnt. Aber die dunkelhĂ€utigen Melanesier und Mikronesier werden von der Kolonial-Ideologie der Zeit bestenfalls als „edle Wilde“ gesehen – aus der Zeit gefallene Steinzeitvölker, die es zu zivilisieren gilt.

ErzÀhler:
Wohlgemerkt: Es sind HandelskapitĂ€ne, die die deutsche Flagge hissen. Deutsche Kolonie wird Nordost-Neuguinea erst 15 Jahre spĂ€ter. Bis dahin steht dieses sogenannte „Kaiser-Wilhelm-Land“ zwar unter dem Schutz des Reiches. Doch die  Verwaltung liegt in den HĂ€nden der privaten „Neuguinea-Kompagnie“ – ein Konsortium aus Berliner Bankiers und Finanzinvestoren.

ErzÀhlerin:
Lange bleibt das Schutzgebiet die einzige deutsche Besitzung in der SĂŒdsee. Deutsche Missionare versuchen, den Ă€ußerst unwilligen Melanesiern ihre Religion nahezubringen und ihnen den unter wahren Christenmenschen dann doch eher verpönten Kannibalismus auszureden. Deutsche Unternehmer grĂŒnden Kokos-Plantagen und deutsche Verwaltungsbeamte geben den melanesischen Inseln anstĂ€ndige deutsche Namen: Neupommern. Neubrandenburg. Bismarck-Archipel.

ErzÀhler:
Dann, Ende der 1890er Jahre, können die Deutschen ihr Kolonialreich noch einmal entscheidend erweitern. Von den schwĂ€chelnden Spaniern kauft man fĂŒr 25 Millionen Peseten Palau, sowie die Marianen- und Karolineninseln.

MUSIK

ErzÀhlerin:
Und schließlich fĂ€llt der Blick der Deutschen auf ein mögliches Juwel in der kolonialen Perlenkette: das Polynesische Samoa. Ein Archipel aus wunderschönen Inseln, ein zweites Hawaii sozusagen. Offiziell noch keine Kolonie, wirtschaftlich gesehen aufgeteilt zwischen deutschen, englischen und amerikanischen Interessen.

ErzÀhler:
An dieser Stelle kommt wieder Otto Ehlers ins Spiel. Der exzentrische Reisende mit dem Stahlrohrbett, der einige Zeit spĂ€ter im Dschungel Neuguineas mutmaßlich ein unrĂŒhmliches Ende als Abendessen finden wird.

MUSIK ENDE

ErzÀhlerin:
1894 ist eben dieser Otto Ehlers noch wohlauf, und widmet sich fleißig seinem liebsten Hobby, der Fernreise. Genauer gesagt: Der patriotischen Fernreise. Joseph Hiery:


O-Ton Joseph Hiery:
Ja, also Otto Ehlers ist so ein deutscher Dandy-Reisender, der relativ wohlhabend ist, wohl nichts arbeitet, weil er so viel Geld hat, und meint, er mĂŒsse die Welt sehen und dann auf den Spuren der deutschen Flaggenhissungen in die Welt reist und als erster da sein will, wenn da die deutsche Fahne gehisst wird. Und glaubt, er kommt nach Samoa, und die deutsche Fahne wird gehisst, und er kann da Beifall klatschen.

ErzÀhler:
In dieser Hinsicht ist Samoa eine EnttĂ€uschung fĂŒr Ehlers: Das Deutsche Reich denkt zunĂ€chst gar nicht daran, auf Samoa irgendeine Fahne aufzuziehen. Zu fragil scheint das MĂ€chtegleichgewicht mit Amerikanern und EnglĂ€ndern. Zu unsicher der Nutzen eines solchen Unternehmens.

ErzÀhlerin:
Dass sich das keine fĂŒnf Jahre spĂ€ter Ă€ndert, ist dann allerdings wohl auch Ehlers zu verdanken. Genauer gesagt: Dem Buch, das Ehlers nach seiner RĂŒckkehr nach Deutschland schreibt: Samoa – Perle der SĂŒdsee.

MUSIK

Zitator Ehlers:
Im Westen tauchte die matt leuchtende Scheibe des Vollmonds in die Wogen, wĂ€hrend im Osten ein rosiger Schein das Nahen der Sonne verkĂŒndete. Und in diesem zauberhaften Zwielicht aus opalfarbig schillernder Flut sich erhebend, lag vor mir, vom Fuße zum Gipfel in dem ĂŒppigen TropengrĂŒn prangend, die Insel Upolu. Wo soll ich armer Reisender Worte hernehmen, den wunderbaren Reiz dieses Bildes zu schildern, wie in trockener Prosa den Zauber eines lyrischen Gedichts, den Duft eines BlĂŒtenstraußes wiedergeben.

MUSIK ENDE

ErzÀhler:
Zusammengefasst: Die Samoa-Inseln sind das reinste Paradies. In ihm leben besonders edle und schöne Menschen mit bronzefarbener Haut – kein Vergleich zu anderen Wilden. Und die Deutschen sollten sich diese Inseln unbedingt holen, bevor jemand anders schneller sein könnte.

ErzÀhlerin:
Eine exotistische SchwĂ€rmerei eben. In einer an SchwĂ€rmereien nicht eben armen Zeit. Nichts Besonderes, dieser Bericht – könnte man meinen. Doch dann wird Ehlers‘ Reisebericht ĂŒberraschend zum Bestseller.

O-Ton Joseph Hiery:
Und dann wird das im Reichstag zitiert in der Debatte, ob man Samoa Geld geben soll. Das Geld sei doch alles ins Meer geschmissen, argumentieren die Linksliberalen und die Sozialdemokraten, Taifun geht regelmĂ€ĂŸig darĂŒber, alles geht wieder kaputt. Und dann zitiert damals der Gouverneur Deutsch-Neuguineas das Buch – ja und: Das mĂŒssen sie doch kennen! Wie toll! Und wir haben solche prĂ€chtigen Menschen da. Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Deutschen, diese prĂ€chtigen Menschen zu schĂŒtzen vor den bösen Franzosen, den bösen EnglĂ€ndern, den bösen Amerikanern und keiner kann’s so gut machen wie wir!

ErzÀhlerin:
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das Argument, das schließlich den Reichstag zur Bewilligung der Gelder fĂŒr eine Kolonie bringt, ist nicht etwa das deutsche Handelsinteresse, und auch kein militĂ€risches KalkĂŒl. Es ist der ebenso arrogante wie naive Wunsch, den edelsten aller edlen Wilden vor der Inkompetenz der anderen KolonialmĂ€chte zu schĂŒtzen.

ErzÀhler:
Diese Reichstagsdebatte ist dabei alles andere als eine besonders kuriose Episode innerhalb des deutschen Kolonialbetriebs. Sie ist vielleicht der SchlĂŒssel zu dem, was in den nĂ€chsten Jahren entstehen sollte: der „Sonderfall Samoa“, die mit Abstand ungewöhnlichste aller deutschen Kolonien.

O-Ton Joseph Hiery:
ZunĂ€chst einmal ist’s ein, wenn man so will, klingt merkwĂŒrdig, ein positiver Rassismus hier zu erkennen. Das heißt, das Kolonialamt und seine VorlĂ€uferbehörde im AuswĂ€rtigen Amt haben mal festgelegt, die SĂŒdsee-Insulaner sind anders zu behandeln als die Afrikaner.

ErzÀhler:
Konkret heißt das: keine PrĂŒgelstrafe. Keine Eisenkette. Keine Sklavenarbeit auf den Plantagen wie in den deutschen Kolonien in Afrika.

ErzÀhlerin:
Zumindest nicht fĂŒr die Samoaner. Bei den deutlich dunkelhĂ€utigeren Bewohnern Neuguineas ist die Kolonialverwaltung weniger zimperlich.

O-Ton Joseph Hiery:
Bei den Samoanern heißt es dann sogar: Das sind eigentlich Arier. Die sind mit uns verwandt. Und vielleicht jetzt nicht so ganz auf unserer Stufe, aber da bringen wir sie ja da hin. Und sie sind alle besser als die anderen, die da rumwohnen.

ErzÀhler:
Samoa wird eine Art Modell-Kolonie. Aber nicht im Sinne einer effizienten Ausbeutung, ganz im Gegenteil. Gouverneur wird Wilhelm Solf, ein BĂŒrgerssohn und Schöngeist, der in der Heimat zunĂ€chst Literatur und Sanskrit studiert hatte.

ErzÀhlerin:
Solf lĂ€sst die gesellschaftlichen Strukturen der Samoaner weitgehend weiterbestehen – unter deutscher Oberherrschaft, versteht sich. Und versucht, sich ansonsten möglichst wenig in ihre Angelegenheiten einzumischen. WĂ€hrend sich andere Kolonialbeamte verwundert die Augen reiben, verkĂŒndet Solf: Eigentlich sei doch Samoa primĂ€r das Land der Samoaner. Joseph Hiery:

O-Ton Joseph Hiery:
WĂ€hrend es Deutsch-Neuguinea hieß und Deutsch-Westafrika und Deutsch-SĂŒdwestafrika, hieß das Samoa, es hieß nicht Deutsch-Samoa offiziell, und die Deutschen, die da waren, mussten gemĂ€ĂŸ Diktion des Gouverneurs „Fremde“ genannt werden.

ErzÀhler:
Vielleicht trÀgt diese Haltung der Deutschen zu der SouverÀnitÀt bei, mit der die Samoaner auf die koloniale Situation reagieren: Sie bewahren, was sie bewahren wollen, und nehmen begierig alles auf, was ihre Lebenssituation verbessern könnte.

ErzÀhlerin:
Vor allem in der Medizin und der Landwirtschaft sind die Deutschen den Samoanern so weit voraus, dass jedes Dorf einen riesigen Vorteil hat, wenn ein Weißer dort lebt. Möglicherweise liegt darin auch die Ursache fĂŒr den phĂ€nomenalen Erfolg der christlichen Missionare bei den Samoanern.

O-Ton Joseph Hiery:
Die wollten Weiße haben – sag ich jetzt mal platt – weil der „Besitz“ eines Weißen aus einheimischer Sicht bedeutete Zugriff auf dessen Wissen und die Verbesserung der eigenen LebensverhĂ€ltnisse. Und den, den man am ehesten haben konnte, der lĂ€nger da blieb, das war ein Priester oder ein Pastor.

MUSIK

ErzÀhler:
WĂ€hrend in Samoa einzelne Dörfer regelrecht darum kĂ€mpfen, wer denn nun einen Missionar bekommen wĂŒrde, fĂŒhren deutsche Missionare auf der melanesischen Insel Neupommern ĂŒber 4.000 Kilometer westlich von Samoa einen ganz anderen Kampf.

MUSIK ENDE

ErzÀhlerin:
Den ums nackte Überleben.

MUSIK

ErzÀhler:
Am 13. August 1904 richten Melanesier vom Volk der Baining unter den katholischen Missionaren der Missions-Station St. Paul ein Massaker an. Der fieberkranke Missionschef Pater Rascher wird im Bett liegend erschossen, die Missionsschwester Angela am Fuß des Altars mit einer Axt erschlagen.

ErzÀhlerin:
Was war geschehen? Woher kam dieser grenzenlose Hass?

MUSIK ENDE

ErzÀhler:
Den hatten sich die Missionare wohl weitgehend selbst zuzuschreiben. St. Paul war keine einfache Missionsstation. Hier sollte eines von vielen sogenannten „Christendörfern“ entstehen, in denen umerzogene Melanesier ein christliches Leben fĂŒhren sollten – völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Kultur, die die Missionare regelrecht verteufelten. Vor allem den allesbestimmenden Ahnenkult der Melanesier wollten die Missionare rigoros ausmerzen

ErzÀhlerin:
Pater Raschert hatte sogar das erste Gebot extra fĂŒr seine melanesischen SchĂ€fchen umgeschrieben.

Zitator Pater Raschert:
Ich bin der Herr, dein Gott – du sollst keinen Totenkult treiben!

ErzÀhlerin:
Hinzu kam die strenge Sexualmoral – den Melanesiern völlig fremd – und ihre rigide Durchsetzung mit PrĂŒgelstrafen und Predigten vom Höllenfeuer – sowie ein völliges UnverstĂ€ndnis der Missionare fĂŒr die politischen VerhĂ€ltnisse unter den Einheimischen.

MUSIK

ErzÀhler:
Als die Gewalt schließlich nach einer besonders brutalen PrĂŒgel-Orgie in der Missionsstation eskaliert, sind kurze Zeit spĂ€ter alle zehn deutschen Missionare von St. Paul tot.

ErzÀhlerin.
Es ist eine ganz Ă€hnliche Gemengelage aus Arroganz, Selbstherrlichkeit und der unseligen PrĂŒgelstrafe, die sechs Jahre spĂ€ter zum grĂ¶ĂŸten Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in der SĂŒdsee fĂŒhrt. Ort des Geschehens: Ponape, eine mikronesische Insel, auf der fĂŒnf Völker in winzigen Stammes-Staaten leben.

ErzÀhler:
Am 18. Oktober 1910 wird Gustav Boeder, Leiter des Verwaltungsbezirks Ostkarolinen, durch einen Gewehrschuss in den Bauch niedergestreckt und von einem aufgebrachten Einheimischen schließlich durch einen weiteren Schuss in den Kopf getötet (MUSIK ENDE). Auch zwei weitere deutsche Kolonialbeamte und fĂŒnf Mikronesier in deutschen Diensten werden von AufstĂ€ndischen ermordet, die allesamt dem Volk der Sokehs angehören. Ein Blutvergießen mit Ansage.

ErzÀhlerin:
Auf Ponape gibt es da bereits seit einigen Jahren große Spannungen zwischen einzelnen Völkern der Insel und den deutschen Kolonialherren. Sie beginnen im Jahr 1901, als der Ă€ußerst diplomatische und friedliebende Gouverneur Hahl abberufen und durch Victor Berg ersetzt wird. Berg hatte zuvor in den deutsche Kolonien in Afrika gedient - wo ein deutlich brutaleres Kolonialregime gefĂŒhrt wurde.

ErzÀhler:
Bereits 54 Tage nach seiner Ankunft schickt Berg ein Memorandum nach Berlin, in dem er die „energische wirtschaftliche Erschließung“ der Insel fordert und fĂŒr den Fall eines Aufstandes eine „schonungslose Strafexpedition“ vorschlĂ€gt.

MUSIK

ErzÀhlerin:
1907 schÀndet Berg persönlich eine GrabstÀtte, als er im Auftrag des Leipziger Völkerkundemuseums Ausgrabungen vornimmt. Einen Tag spÀter stirbt Berg. Sonnenstich, sagt der Arzt. Die Rache der Geister, sagen die Ponapesen.

ErzÀhler:
Es folgt eine Zeit der Unruhe. Lange bleibt der Posten vakant. Gouverneur eines potentiellen Pulverfasses am Ende der Welt zu werden, ist fĂŒr deutsche Beamte nicht unbedingt ein Traumjob (MUSIK ENDE). Schließlich wird Gustav Boeder Inselchef. Wie Berg ist auch er Afrika-erprobt. Und ein großer Freund der PrĂŒgelstrafe. Joseph Hiery:

O-Ton Joseph Hiery:
Der hat gemeint, er mĂŒsse hier afrikanische Methoden einfĂŒhren. Daraufhin hat eine Ethnie, oder wie wir deutsch sagen: Stamm, revoltiert und es gab einen Aufstand. Der hat allerdings nur diese eine Ethnie betroffen. Das ist ohnehin schon ne kleine Insel mit sehr vielen anderen Ethnien, die haben sich nicht dem angeschlossen.

ErzÀhlerin:
Die völlig ĂŒberrumpelten Deutschen verschanzen sich nach dem Beginn des Aufstands in ihrer Hauptstadt Kolonia und fordern Hilfe aus der Heimat an - die nach langen Wochen des zermĂŒrbenden Wartens tatsĂ€chlich auch kommt.

O-Ton Joseph Hiery:
Das Kaiserreich hat relativ brutal reagiert – Schiffe hingeschickt und dann die AufstĂ€ndischen exekutiert, die Ethnie weggebracht von der Insel auf ne andere Insel exiliert, wenn man so will.

MUSIK

ErzÀhler:
Es bleibt die einzige grĂ¶ĂŸere Kriegsaktion der Deutschen in der SĂŒdsee. Das allerdings liegt vielleicht auch daran, dass die Zeit des deutschen Kolonialreiches vier Jahre spĂ€ter schon wieder vorĂŒber ist.

MUSIK ENDE

ErzÀhlerin:
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, sind die Deutschen in der SĂŒdsee völlig chancenlos. Und das Reich denkt gar nicht daran, die dann doch ziemlich unbedeutenden Kolonien zu unterstĂŒtzen. KĂ€mpfe gibt es nur – ganz kurz – auf Neuguinea, das aber innerhalb von kĂŒrzester Zeit von australischen Truppen eingenommen wird.
ErzÀhler:
Auf Samoa ergeben sich die deutschen kampflos einer neuseelĂ€ndischen Flotte. Die NeuseelĂ€nder – als sogenanntes britisches „Dominion“ selbst noch eine halbe Kolonie – ĂŒbernehmen die Kolonialverwaltung.

ErzÀhlerin:
Dabei stellen sie sich so ungeschickt und arrogant an, dass sie innerhalb von kĂŒrzester Zeit die Ablehnung der einheimischen Samoaner provozieren.

ErzÀhler:
Als die NeuseelĂ€nder 1918 ein Seuchenschiff im Hafen von Apia anlegen lassen, stirbt ein Drittel der gesamten Bevölkerung an der spanischen Grippe. SpĂ€testens jetzt setzt auf Samoa eine VerklĂ€rung der deutschen Herrschaft ein. Im Gegensatz zur neuseelĂ€ndischen Verwaltung sei das „die gute alte Zeit“.

O-Ton Joseph Hiery:
Als ich da hinkam, lebten ja noch Leute, ich hab viele befragt aus der deutschen Kolonialzeit. Und dann hört man dann Stereotype, die positiv sind ĂŒber Deutsche. Die haben die besten Ärzte und so weiter und so weiter. Das ist relativ stark verankert, aber im Kontrast zur Erfahrung mit den NeuseelĂ€ndern.

MUSIK

ErzÀhlerin:
Deutschland und die SĂŒdsee – das bleibt ein kurzes Abenteuer. Allzu prĂ€gend ist die deutsche Zeit fĂŒr viele der Kolonien nicht. Dazu ist die Kolonialzeit zu kurz und die Zahl der Deutschen zu gering. Zu keinem Zeitpunkt leben viel mehr als 4.000 von ihnen in der SĂŒdsee.

ErzÀhler:
Allerdings: Wenn man genau hinsieht, kann man schon noch einige deutsche EinflĂŒsse erkennen. Zum Beispiel in der Mischsprache „Tok Pisin“, die heute noch in Papua-Neuguinea gesprochen wird. In ihr finden sich zahlreiche, hĂ€ufig verfremdete, deutsche Lehnworte – „spaisesima“ zum Beispiel, also „Speisezimmer“. Oder, selbsterklĂ€rend: „saiskanake“.

MUSIK ENDE

ErzÀhlerin:
Den stĂ€rksten Einfluss hatte Deutschland sicherlich auf Samoa. In Apia steht bis heute ein GerichtsgebĂ€ude im Kolonialstil, es gibt eine zu deutscher Marschmusik paradierende Polizei-Kapelle und eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes – ehemaliger Vizepremier und Autor eines eher mĂ€ĂŸigen Liebesromans – hört auf den illustren Namen Misa Telefoni Retzlaff...

ErzÀhler:

 wobei Misa ein traditioneller Samoanischer WĂŒrdentitel ist, und der Retzlaff von seinem Großvater Erich Retzlaff stammt, einem deutschen Kolonialbeamten. Telefoni schließlich heißt die ganze Familie ehrenhalber, (MUSIK: C1205330 012 [00‘43‘‘]) seitdem eben jener Erich Anfang des 20. Jahrhunderts in Samoa das Telefon eingefĂŒhrt hatte.

ErzÀhlerin:
Und was wurde eigentlich aus Wilhelm Solf, dem deutschen Gouverneur Samoas?

ErzÀhler:
Der wird 1918 kurz deutscher Außenminister, 1920 dann schließlich deutscher Botschafter in Tokio. Dort erreicht ihn 1923 ein Brief aus Samoa. Ob es nicht irgendwie möglich wĂ€re, dass er zurĂŒckkĂ€me und wieder Gouverneur in Apia werde. Noch heute hat Solf in Samoa einen ausgezeichneten Ruf.

MUSIK

ErzÀhlerin:
Gustav Boeder dagegen, der prĂŒgelnde Inselchef Ponapes, hat da wohl andere Spuren in der Erinnerung hinterlassen. 1983 stĂŒrzen Unbekannte seinen Grabstein um und schĂ€nden seine letzte RuhestĂ€tte.