Wer auf der SĂŒdsee-Insel Samoa einen Blick ins Telefonbuch wirft, kann sich auf eine Ăberraschung gefasst machen. Nachnamen wie Keil, Thieme und Retzlaff zeugen von einer Zeit, die in Deutschland fast vergessen ist: Einen "Platz an der Sonne" suchte das Deutsche Reich auch auf Neuguinea, Samoa und anderen SĂŒdseeinseln. Die deutsche Kolonialzeit in der SĂŒdsee ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz der Geschichte. Von Klaus Uhrig (BR 2014)
Wer auf der SĂŒdsee-Insel Samoa einen Blick ins Telefonbuch wirft, kann sich auf eine Ăberraschung gefasst machen. Nachnamen wie Keil, Thieme und Retzlaff zeugen von einer Zeit, die in Deutschland fast vergessen ist: Einen "Platz an der Sonne" suchte das Deutsche Reich auch auf Neuguinea, Samoa und anderen SĂŒdseeinseln. Die deutsche Kolonialzeit in der SĂŒdsee ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz der Geschichte. Von Klaus Uhrig (BR 2014)
Credits
Autor: Klaus Uhrig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Joseph Hiery
Besonderer Linktipp der Redaktion:
ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara â und die Toten im Dschungel
Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines auĂergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage fĂŒr Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert GĂŒnther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue IdentitĂ€t als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt âTatunca Naraâ in den Regenwald. FĂŒr einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK
Linktipps:
WDR (2023): Die deutsche Kolonialzeit â Was wir heute ĂŒber sie wissen
Am Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das Deutsche Reich zu den KolonialmĂ€chten Europas. Mit mörderischer BrutalitĂ€t unterdrĂŒckten deutsche Kolonialherren die Bewohner der besetzten LĂ€nder. Ein dĂŒsteres Geschichtskapitel, ĂŒber das bis heute noch wenig bekannt ist. JETZT ANSEHEN
Das Kalenderblatt (2011): Deutsch-Neuguinea wird regulÀre Kolonie (01.04.1899)
Der 1. April 1899 bedeutete fĂŒr die Papua-Bevölkerung den Anbruch einer neuen Zeit, denn Deutsch-Neuguinea wurde regulĂ€re Kolonie des Deutschen Reichs. Bis heute ist es schwer, die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung vor der Kolonisierung zu rekonstruieren. JETZT ANHĂREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:
Im Podcast âTATORT GESCHICHTEâ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime â und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzĂ€hlt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrĂŒhrend, witzig und oft ĂŒberraschend.
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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ErzÀhlerin:
Ob seine melanesischen Diener Otto Ehlers wirklich aufgegessen haben, das lĂ€sst sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Unwahrscheinlich ist es aber nicht. Im tiefen Dschungel Neuguineas gibt es keine groĂen Tiere, die man jagen könnte und ĂŒberhaupt kaum Nahrungsquellen. Wem hier die VorrĂ€te ausgehen, den könnte so ein wohlgenĂ€hrter Deutscher schon in Versuchung bringen.
MUSIK ENDE
ErzÀhler:
Vielleicht haben sie ihn auch einfach nur erschossen, weil sie genug von seinen abstrusen PlĂ€nen hatten. Einmal die gröĂte Insel der SĂŒdsee von Norden nach SĂŒden durchqueren, zu FuĂ, durch den unerforschten, dichten Dschungel. Das wĂ€re selbst heute eine Schnapsidee. Im Jahre 1895 ist es der reinste Selbstmord.
ErzÀhlerin:
Obendrein lĂ€sst sich Ehlers auch noch eine Kiste Gold und ein Stahlrohrbett durch den Urwald tragen. Ein zivilisierter Forschungsreisender schlĂ€ft doch nicht in der HĂ€ngematte. Was er allerdings mit dem Gold vorhatte âŠ. keine Ahnung.
ErzÀhler:
Klar ist nur: Ehlers kommt nie auf der SĂŒdseite der Insel an. Von seinen 40 Dienern ĂŒberleben nur 22. Und als der deutsche Landeshauptmann von Neuguinea, Curt von Hagen, spĂ€ter die Mörder stellen will, wird auch er im Urwald erschossen.
ErzÀhlerin:
SpÀtestens jetzt reibt sich wohl so mancher in der Heimat verwundert die Augen: Was genau wollten wir noch mal auf diesen gottverlassenen Dschungel-Inseln?
MUSIK
ErzÀhler:
Ja genau, was eigentlich?
MUSIK
ErzÀhlerin:
Das deutsche Kolonialreich in der SĂŒdsee wirkt erst mal wie eine Randnotiz der Geschichte. Ein Kuriosum. Reichsdampfer am Korallenriff. Kuckucksuhr an der Kokospalme. Vielen Deutschen ist bis heute völlig unbekannt, dass das Deutsche Reich Kolonien im SĂŒdpazifik hatte. Also ein paar ganz kleine Kolonien.
ErzÀhler:
Die Inseln der SĂŒdsee sind der letzte weiĂe Fleck auf den Landkarten der EuropĂ€er. Erst im 18. Jahrhundert entdecken Handelsschiffe und Weltreisende die weitlĂ€ufigen Inselreiche im SĂŒdpazifik â von den Hawaii-Inseln im Norden, ĂŒber die winzigen Atolle Mikronesiens, bis hin zu den polynesischen Inselgruppen Tahiti und Samoa. Paradiesische Eilande â und dazwischen: Tausende Meilen offene See.
ErzÀhlerin:
Bald stecken EnglĂ€nder und Franzosen ihre Claims ab, Spanier, HollĂ€nder, Portugiesen, Amerikaner. Jeder will ein StĂŒckchen vom Paradies abhaben. Und die Deutschen?
O-Ton Joseph Hiery:
Das ist ne durchaus interessante Geschichte: Was machten die Deutschen da in der Mitte des 19. Jahrhunderts?
ErzÀhlerin:
Professor Joseph Hiery ist einer der wirklich seltenen SĂŒdsee-Kolonial-Experten, die es in Deutschland gibt. Seit Jahrzehnten beschĂ€ftigt sich der Historiker von der UniversitĂ€t Bayreuth mit diesem Thema; diesem kolonialen Spezialfall, der so ganz anders verlief, als die Kolonisierung Afrikas.
O-Ton Joseph Hiery:
Kolonialismus bedeutet normalerweise, dass eine christliche Mission zuerst kommt, und dann ĂŒbernimmt der koloniale Staat. Das haben wir hĂ€ufig auch in der SĂŒdsee. Bei den Deutschen hat die Mission nie eine Rolle gespielt fĂŒr die Kolonialisierung in der SĂŒdsee. Eine Mission kam erst, nachdem das Kolonie war, aber der Handel, der Handel, wenn man will, das Geld.
ErzÀhler:
Statt Soldaten oder Priester sind es nĂ€mlich deutsche HĂ€ndler, die sich zuerst in die SĂŒdsee vorwagen. Und WalfĂ€nger. Zu diesem Zeitpunkt ist Waltran eine unersetzliche Ressource â vor allem fĂŒr die Kerzenherstellung, elektrisches Licht gibt es ja noch nicht. Und die gröĂten Walherden durchstreifen in dieser Zeit eben den SĂŒdpazifik.
ErzÀhlerin:
Immer wieder lassen sich deutsche Matrosen auf den paradiesisch wirkenden Eilanden nieder. Diese sogenannten âBeachcomberâ grĂŒnden Familien mit einheimischen Frauen und gehen ganz in der Kultur der Einheimischen auf.
O-Ton Joseph Hiery:
Und dann kam von SĂŒdamerika Mitte des 19. Jahrhunderts ein deutscher GeschĂ€ftsmann, der in Valparaiso GeschĂ€fte machte fĂŒr ein deutsches Handelshaus, und kam nach Samoa und fand vor Ort auf fast jeder Insel einen Deutschen. Und das waren so die geborenen Agenten fĂŒr seine HandelstĂ€tigkeit, denn ĂŒber diese gemeinsame Zugehörigkeit, es gab ja noch keinen deutschen Nationalstaat, aber ĂŒber die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, lag es nahe, die mit GeschĂ€ften zu beauftragen. Das Wirtschaftsunternehmen wuchs. Und das fiel dann zufĂ€llig mit der Zeit in die ReichsgrĂŒndung durch Bismarck hinein. Dann kam die Idee: Na ja, da, wo die EnglĂ€nder noch nicht sind, da setzen wir uns ein. SchĂŒtzen eigentlich die Wirtschaftsinteressen.
MUSIK
ErzÀhler:
Im November 1884 hisst Otto Finsch, der sogenannte âForschungsagent des Neuguinea-Konsortiumsâ, im fernen Nordosten Neuguineas die erste deutsche Flagge in der SĂŒdsee. Bis Ende Dezember reklamieren verschiedene KapitĂ€ne dazu noch zahlreiche umliegende Inseln fĂŒr das Deutsche Reich, und dazu die â Zitat â âunbestritten herrenlosenâ Archipele der Marshall-, Providence- und Brown-Inseln.
ErzÀhlerin:
Wobei âunbestritten herrenlosâ sich natĂŒrlich nur auf weiĂe Kolonialherren bezieht. Die Inseln sind alles andere als unbewohnt. Aber die dunkelhĂ€utigen Melanesier und Mikronesier werden von der Kolonial-Ideologie der Zeit bestenfalls als âedle Wildeâ gesehen â aus der Zeit gefallene Steinzeitvölker, die es zu zivilisieren gilt.
ErzÀhler:
Wohlgemerkt: Es sind HandelskapitĂ€ne, die die deutsche Flagge hissen. Deutsche Kolonie wird Nordost-Neuguinea erst 15 Jahre spĂ€ter. Bis dahin steht dieses sogenannte âKaiser-Wilhelm-Landâ zwar unter dem Schutz des Reiches. Doch die Verwaltung liegt in den HĂ€nden der privaten âNeuguinea-Kompagnieâ â ein Konsortium aus Berliner Bankiers und Finanzinvestoren.
ErzÀhlerin:
Lange bleibt das Schutzgebiet die einzige deutsche Besitzung in der SĂŒdsee. Deutsche Missionare versuchen, den Ă€uĂerst unwilligen Melanesiern ihre Religion nahezubringen und ihnen den unter wahren Christenmenschen dann doch eher verpönten Kannibalismus auszureden. Deutsche Unternehmer grĂŒnden Kokos-Plantagen und deutsche Verwaltungsbeamte geben den melanesischen Inseln anstĂ€ndige deutsche Namen: Neupommern. Neubrandenburg. Bismarck-Archipel.
ErzÀhler:
Dann, Ende der 1890er Jahre, können die Deutschen ihr Kolonialreich noch einmal entscheidend erweitern. Von den schwĂ€chelnden Spaniern kauft man fĂŒr 25 Millionen Peseten Palau, sowie die Marianen- und Karolineninseln.
MUSIK
ErzÀhlerin:
Und schlieĂlich fĂ€llt der Blick der Deutschen auf ein mögliches Juwel in der kolonialen Perlenkette: das Polynesische Samoa. Ein Archipel aus wunderschönen Inseln, ein zweites Hawaii sozusagen. Offiziell noch keine Kolonie, wirtschaftlich gesehen aufgeteilt zwischen deutschen, englischen und amerikanischen Interessen.
ErzÀhler:
An dieser Stelle kommt wieder Otto Ehlers ins Spiel. Der exzentrische Reisende mit dem Stahlrohrbett, der einige Zeit spĂ€ter im Dschungel Neuguineas mutmaĂlich ein unrĂŒhmliches Ende als Abendessen finden wird.
MUSIK ENDE
ErzÀhlerin:
1894 ist eben dieser Otto Ehlers noch wohlauf, und widmet sich fleiĂig seinem liebsten Hobby, der Fernreise. Genauer gesagt: Der patriotischen Fernreise. Joseph Hiery:
O-Ton Joseph Hiery:
Ja, also Otto Ehlers ist so ein deutscher Dandy-Reisender, der relativ wohlhabend ist, wohl nichts arbeitet, weil er so viel Geld hat, und meint, er mĂŒsse die Welt sehen und dann auf den Spuren der deutschen Flaggenhissungen in die Welt reist und als erster da sein will, wenn da die deutsche Fahne gehisst wird. Und glaubt, er kommt nach Samoa, und die deutsche Fahne wird gehisst, und er kann da Beifall klatschen.
ErzÀhler:
In dieser Hinsicht ist Samoa eine EnttĂ€uschung fĂŒr Ehlers: Das Deutsche Reich denkt zunĂ€chst gar nicht daran, auf Samoa irgendeine Fahne aufzuziehen. Zu fragil scheint das MĂ€chtegleichgewicht mit Amerikanern und EnglĂ€ndern. Zu unsicher der Nutzen eines solchen Unternehmens.
ErzÀhlerin:
Dass sich das keine fĂŒnf Jahre spĂ€ter Ă€ndert, ist dann allerdings wohl auch Ehlers zu verdanken. Genauer gesagt: Dem Buch, das Ehlers nach seiner RĂŒckkehr nach Deutschland schreibt: Samoa â Perle der SĂŒdsee.
MUSIK
Zitator Ehlers:
Im Westen tauchte die matt leuchtende Scheibe des Vollmonds in die Wogen, wĂ€hrend im Osten ein rosiger Schein das Nahen der Sonne verkĂŒndete. Und in diesem zauberhaften Zwielicht aus opalfarbig schillernder Flut sich erhebend, lag vor mir, vom FuĂe zum Gipfel in dem ĂŒppigen TropengrĂŒn prangend, die Insel Upolu. Wo soll ich armer Reisender Worte hernehmen, den wunderbaren Reiz dieses Bildes zu schildern, wie in trockener Prosa den Zauber eines lyrischen Gedichts, den Duft eines BlĂŒtenstrauĂes wiedergeben.
MUSIK ENDE
ErzÀhler:
Zusammengefasst: Die Samoa-Inseln sind das reinste Paradies. In ihm leben besonders edle und schöne Menschen mit bronzefarbener Haut â kein Vergleich zu anderen Wilden. Und die Deutschen sollten sich diese Inseln unbedingt holen, bevor jemand anders schneller sein könnte.
ErzÀhlerin:
Eine exotistische SchwĂ€rmerei eben. In einer an SchwĂ€rmereien nicht eben armen Zeit. Nichts Besonderes, dieser Bericht â könnte man meinen. Doch dann wird Ehlersâ Reisebericht ĂŒberraschend zum Bestseller.
O-Ton Joseph Hiery:
Und dann wird das im Reichstag zitiert in der Debatte, ob man Samoa Geld geben soll. Das Geld sei doch alles ins Meer geschmissen, argumentieren die Linksliberalen und die Sozialdemokraten, Taifun geht regelmĂ€Ăig darĂŒber, alles geht wieder kaputt. Und dann zitiert damals der Gouverneur Deutsch-Neuguineas das Buch â ja und: Das mĂŒssen sie doch kennen! Wie toll! Und wir haben solche prĂ€chtigen Menschen da. Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Deutschen, diese prĂ€chtigen Menschen zu schĂŒtzen vor den bösen Franzosen, den bösen EnglĂ€ndern, den bösen Amerikanern und keiner kannâs so gut machen wie wir!
ErzÀhlerin:
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das Argument, das schlieĂlich den Reichstag zur Bewilligung der Gelder fĂŒr eine Kolonie bringt, ist nicht etwa das deutsche Handelsinteresse, und auch kein militĂ€risches KalkĂŒl. Es ist der ebenso arrogante wie naive Wunsch, den edelsten aller edlen Wilden vor der Inkompetenz der anderen KolonialmĂ€chte zu schĂŒtzen.
ErzÀhler:
Diese Reichstagsdebatte ist dabei alles andere als eine besonders kuriose Episode innerhalb des deutschen Kolonialbetriebs. Sie ist vielleicht der SchlĂŒssel zu dem, was in den nĂ€chsten Jahren entstehen sollte: der âSonderfall Samoaâ, die mit Abstand ungewöhnlichste aller deutschen Kolonien.
O-Ton Joseph Hiery:
ZunĂ€chst einmal istâs ein, wenn man so will, klingt merkwĂŒrdig, ein positiver Rassismus hier zu erkennen. Das heiĂt, das Kolonialamt und seine VorlĂ€uferbehörde im AuswĂ€rtigen Amt haben mal festgelegt, die SĂŒdsee-Insulaner sind anders zu behandeln als die Afrikaner.
ErzÀhler:
Konkret heiĂt das: keine PrĂŒgelstrafe. Keine Eisenkette. Keine Sklavenarbeit auf den Plantagen wie in den deutschen Kolonien in Afrika.
ErzÀhlerin:
Zumindest nicht fĂŒr die Samoaner. Bei den deutlich dunkelhĂ€utigeren Bewohnern Neuguineas ist die Kolonialverwaltung weniger zimperlich.
O-Ton Joseph Hiery:
Bei den Samoanern heiĂt es dann sogar: Das sind eigentlich Arier. Die sind mit uns verwandt. Und vielleicht jetzt nicht so ganz auf unserer Stufe, aber da bringen wir sie ja da hin. Und sie sind alle besser als die anderen, die da rumwohnen.
ErzÀhler:
Samoa wird eine Art Modell-Kolonie. Aber nicht im Sinne einer effizienten Ausbeutung, ganz im Gegenteil. Gouverneur wird Wilhelm Solf, ein BĂŒrgerssohn und Schöngeist, der in der Heimat zunĂ€chst Literatur und Sanskrit studiert hatte.
ErzÀhlerin:
Solf lĂ€sst die gesellschaftlichen Strukturen der Samoaner weitgehend weiterbestehen â unter deutscher Oberherrschaft, versteht sich. Und versucht, sich ansonsten möglichst wenig in ihre Angelegenheiten einzumischen. WĂ€hrend sich andere Kolonialbeamte verwundert die Augen reiben, verkĂŒndet Solf: Eigentlich sei doch Samoa primĂ€r das Land der Samoaner. Joseph Hiery:
O-Ton Joseph Hiery:
WĂ€hrend es Deutsch-Neuguinea hieĂ und Deutsch-Westafrika und Deutsch-SĂŒdwestafrika, hieĂ das Samoa, es hieĂ nicht Deutsch-Samoa offiziell, und die Deutschen, die da waren, mussten gemÀà Diktion des Gouverneurs âFremdeâ genannt werden.
ErzÀhler:
Vielleicht trÀgt diese Haltung der Deutschen zu der SouverÀnitÀt bei, mit der die Samoaner auf die koloniale Situation reagieren: Sie bewahren, was sie bewahren wollen, und nehmen begierig alles auf, was ihre Lebenssituation verbessern könnte.
ErzÀhlerin:
Vor allem in der Medizin und der Landwirtschaft sind die Deutschen den Samoanern so weit voraus, dass jedes Dorf einen riesigen Vorteil hat, wenn ein WeiĂer dort lebt. Möglicherweise liegt darin auch die Ursache fĂŒr den phĂ€nomenalen Erfolg der christlichen Missionare bei den Samoanern.
O-Ton Joseph Hiery:
Die wollten WeiĂe haben â sag ich jetzt mal platt â weil der âBesitzâ eines WeiĂen aus einheimischer Sicht bedeutete Zugriff auf dessen Wissen und die Verbesserung der eigenen LebensverhĂ€ltnisse. Und den, den man am ehesten haben konnte, der lĂ€nger da blieb, das war ein Priester oder ein Pastor.
MUSIK
ErzÀhler:
WĂ€hrend in Samoa einzelne Dörfer regelrecht darum kĂ€mpfen, wer denn nun einen Missionar bekommen wĂŒrde, fĂŒhren deutsche Missionare auf der melanesischen Insel Neupommern ĂŒber 4.000 Kilometer westlich von Samoa einen ganz anderen Kampf.
MUSIK ENDE
ErzÀhlerin:
Den ums nackte Ăberleben.
MUSIK
ErzÀhler:
Am 13. August 1904 richten Melanesier vom Volk der Baining unter den katholischen Missionaren der Missions-Station St. Paul ein Massaker an. Der fieberkranke Missionschef Pater Rascher wird im Bett liegend erschossen, die Missionsschwester Angela am FuĂ des Altars mit einer Axt erschlagen.
ErzÀhlerin:
Was war geschehen? Woher kam dieser grenzenlose Hass?
MUSIK ENDE
ErzÀhler:
Den hatten sich die Missionare wohl weitgehend selbst zuzuschreiben. St. Paul war keine einfache Missionsstation. Hier sollte eines von vielen sogenannten âChristendörfernâ entstehen, in denen umerzogene Melanesier ein christliches Leben fĂŒhren sollten â völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Kultur, die die Missionare regelrecht verteufelten. Vor allem den allesbestimmenden Ahnenkult der Melanesier wollten die Missionare rigoros ausmerzen
ErzÀhlerin:
Pater Raschert hatte sogar das erste Gebot extra fĂŒr seine melanesischen SchĂ€fchen umgeschrieben.
Zitator Pater Raschert:
Ich bin der Herr, dein Gott â du sollst keinen Totenkult treiben!
ErzÀhlerin:
Hinzu kam die strenge Sexualmoral â den Melanesiern völlig fremd â und ihre rigide Durchsetzung mit PrĂŒgelstrafen und Predigten vom Höllenfeuer â sowie ein völliges UnverstĂ€ndnis der Missionare fĂŒr die politischen VerhĂ€ltnisse unter den Einheimischen.
MUSIK
ErzÀhler:
Als die Gewalt schlieĂlich nach einer besonders brutalen PrĂŒgel-Orgie in der Missionsstation eskaliert, sind kurze Zeit spĂ€ter alle zehn deutschen Missionare von St. Paul tot.
ErzÀhlerin.
Es ist eine ganz Ă€hnliche Gemengelage aus Arroganz, Selbstherrlichkeit und der unseligen PrĂŒgelstrafe, die sechs Jahre spĂ€ter zum gröĂten Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in der SĂŒdsee fĂŒhrt. Ort des Geschehens: Ponape, eine mikronesische Insel, auf der fĂŒnf Völker in winzigen Stammes-Staaten leben.
ErzÀhler:
Am 18. Oktober 1910 wird Gustav Boeder, Leiter des Verwaltungsbezirks Ostkarolinen, durch einen Gewehrschuss in den Bauch niedergestreckt und von einem aufgebrachten Einheimischen schlieĂlich durch einen weiteren Schuss in den Kopf getötet (MUSIK ENDE). Auch zwei weitere deutsche Kolonialbeamte und fĂŒnf Mikronesier in deutschen Diensten werden von AufstĂ€ndischen ermordet, die allesamt dem Volk der Sokehs angehören. Ein BlutvergieĂen mit Ansage.
ErzÀhlerin:
Auf Ponape gibt es da bereits seit einigen Jahren groĂe Spannungen zwischen einzelnen Völkern der Insel und den deutschen Kolonialherren. Sie beginnen im Jahr 1901, als der Ă€uĂerst diplomatische und friedliebende Gouverneur Hahl abberufen und durch Victor Berg ersetzt wird. Berg hatte zuvor in den deutsche Kolonien in Afrika gedient - wo ein deutlich brutaleres Kolonialregime gefĂŒhrt wurde.
ErzÀhler:
Bereits 54 Tage nach seiner Ankunft schickt Berg ein Memorandum nach Berlin, in dem er die âenergische wirtschaftliche ErschlieĂungâ der Insel fordert und fĂŒr den Fall eines Aufstandes eine âschonungslose Strafexpeditionâ vorschlĂ€gt.
MUSIK
ErzÀhlerin:
1907 schÀndet Berg persönlich eine GrabstÀtte, als er im Auftrag des Leipziger Völkerkundemuseums Ausgrabungen vornimmt. Einen Tag spÀter stirbt Berg. Sonnenstich, sagt der Arzt. Die Rache der Geister, sagen die Ponapesen.
ErzÀhler:
Es folgt eine Zeit der Unruhe. Lange bleibt der Posten vakant. Gouverneur eines potentiellen Pulverfasses am Ende der Welt zu werden, ist fĂŒr deutsche Beamte nicht unbedingt ein Traumjob (MUSIK ENDE). SchlieĂlich wird Gustav Boeder Inselchef. Wie Berg ist auch er Afrika-erprobt. Und ein groĂer Freund der PrĂŒgelstrafe. Joseph Hiery:
O-Ton Joseph Hiery:
Der hat gemeint, er mĂŒsse hier afrikanische Methoden einfĂŒhren. Daraufhin hat eine Ethnie, oder wie wir deutsch sagen: Stamm, revoltiert und es gab einen Aufstand. Der hat allerdings nur diese eine Ethnie betroffen. Das ist ohnehin schon ne kleine Insel mit sehr vielen anderen Ethnien, die haben sich nicht dem angeschlossen.
ErzÀhlerin:
Die völlig ĂŒberrumpelten Deutschen verschanzen sich nach dem Beginn des Aufstands in ihrer Hauptstadt Kolonia und fordern Hilfe aus der Heimat an - die nach langen Wochen des zermĂŒrbenden Wartens tatsĂ€chlich auch kommt.
O-Ton Joseph Hiery:
Das Kaiserreich hat relativ brutal reagiert â Schiffe hingeschickt und dann die AufstĂ€ndischen exekutiert, die Ethnie weggebracht von der Insel auf ne andere Insel exiliert, wenn man so will.
MUSIK
ErzÀhler:
Es bleibt die einzige gröĂere Kriegsaktion der Deutschen in der SĂŒdsee. Das allerdings liegt vielleicht auch daran, dass die Zeit des deutschen Kolonialreiches vier Jahre spĂ€ter schon wieder vorĂŒber ist.
MUSIK ENDE
ErzÀhlerin:
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, sind die Deutschen in der SĂŒdsee völlig chancenlos. Und das Reich denkt gar nicht daran, die dann doch ziemlich unbedeutenden Kolonien zu unterstĂŒtzen. KĂ€mpfe gibt es nur â ganz kurz â auf Neuguinea, das aber innerhalb von kĂŒrzester Zeit von australischen Truppen eingenommen wird.
ErzÀhler:
Auf Samoa ergeben sich die deutschen kampflos einer neuseelĂ€ndischen Flotte. Die NeuseelĂ€nder â als sogenanntes britisches âDominionâ selbst noch eine halbe Kolonie â ĂŒbernehmen die Kolonialverwaltung.
ErzÀhlerin:
Dabei stellen sie sich so ungeschickt und arrogant an, dass sie innerhalb von kĂŒrzester Zeit die Ablehnung der einheimischen Samoaner provozieren.
ErzÀhler:
Als die NeuseelĂ€nder 1918 ein Seuchenschiff im Hafen von Apia anlegen lassen, stirbt ein Drittel der gesamten Bevölkerung an der spanischen Grippe. SpĂ€testens jetzt setzt auf Samoa eine VerklĂ€rung der deutschen Herrschaft ein. Im Gegensatz zur neuseelĂ€ndischen Verwaltung sei das âdie gute alte Zeitâ.
O-Ton Joseph Hiery:
Als ich da hinkam, lebten ja noch Leute, ich hab viele befragt aus der deutschen Kolonialzeit. Und dann hört man dann Stereotype, die positiv sind ĂŒber Deutsche. Die haben die besten Ărzte und so weiter und so weiter. Das ist relativ stark verankert, aber im Kontrast zur Erfahrung mit den NeuseelĂ€ndern.
MUSIK
ErzÀhlerin:
Deutschland und die SĂŒdsee â das bleibt ein kurzes Abenteuer. Allzu prĂ€gend ist die deutsche Zeit fĂŒr viele der Kolonien nicht. Dazu ist die Kolonialzeit zu kurz und die Zahl der Deutschen zu gering. Zu keinem Zeitpunkt leben viel mehr als 4.000 von ihnen in der SĂŒdsee.
ErzÀhler:
Allerdings: Wenn man genau hinsieht, kann man schon noch einige deutsche EinflĂŒsse erkennen. Zum Beispiel in der Mischsprache âTok Pisinâ, die heute noch in Papua-Neuguinea gesprochen wird. In ihr finden sich zahlreiche, hĂ€ufig verfremdete, deutsche Lehnworte â âspaisesimaâ zum Beispiel, also âSpeisezimmerâ. Oder, selbsterklĂ€rend: âsaiskanakeâ.
MUSIK ENDE
ErzÀhlerin:
Den stĂ€rksten Einfluss hatte Deutschland sicherlich auf Samoa. In Apia steht bis heute ein GerichtsgebĂ€ude im Kolonialstil, es gibt eine zu deutscher Marschmusik paradierende Polizei-Kapelle und eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes â ehemaliger Vizepremier und Autor eines eher mĂ€Ăigen Liebesromans â hört auf den illustren Namen Misa Telefoni Retzlaff...
ErzÀhler:
⊠wobei Misa ein traditioneller Samoanischer WĂŒrdentitel ist, und der Retzlaff von seinem GroĂvater Erich Retzlaff stammt, einem deutschen Kolonialbeamten. Telefoni schlieĂlich heiĂt die ganze Familie ehrenhalber, (MUSIK: C1205330 012 [00â43ââ]) seitdem eben jener Erich Anfang des 20. Jahrhunderts in Samoa das Telefon eingefĂŒhrt hatte.
ErzÀhlerin:
Und was wurde eigentlich aus Wilhelm Solf, dem deutschen Gouverneur Samoas?
ErzÀhler:
Der wird 1918 kurz deutscher AuĂenminister, 1920 dann schlieĂlich deutscher Botschafter in Tokio. Dort erreicht ihn 1923 ein Brief aus Samoa. Ob es nicht irgendwie möglich wĂ€re, dass er zurĂŒckkĂ€me und wieder Gouverneur in Apia werde. Noch heute hat Solf in Samoa einen ausgezeichneten Ruf.
MUSIK
ErzÀhlerin:
Gustav Boeder dagegen, der prĂŒgelnde Inselchef Ponapes, hat da wohl andere Spuren in der Erinnerung hinterlassen. 1983 stĂŒrzen Unbekannte seinen Grabstein um und schĂ€nden seine letzte RuhestĂ€tte.