Alles Geschichte - History von radioWissen   /     ERSTER WELTKRIEG - Von der Euphorie in den Abgrund

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Im August 1914 war Deutschland siegesgewiss, doch bald trat Ernüchterung ein. Viele Soldaten und weite Teile der Zivilbevölkerung wurden des Krieges überdrüssig. Aber die deutsche Politik trieb den Krieg unbeirrt weiter - bis zum großen Zusammenbruch im Sommer 1918. Von Rainer Volk (BR 2014)

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Duration
00:20:11
Publishing date
2024-08-01 10:05
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/erster-weltkrieg-von-der-euphorie-in-den-abgrund/2096192
Contributors
  Rainer Volk
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https://media.neuland.br.de/file/2096192/c/feed/erster-weltkrieg-von-der-euphorie-in-den-abgrund.mp3
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Shownotes

Im August 1914 war Deutschland siegesgewiss, doch bald trat Ernüchterung ein. Viele Soldaten und weite Teile der Zivilbevölkerung wurden des Krieges überdrüssig. Aber die deutsche Politik trieb den Krieg unbeirrt weiter - bis zum großen Zusammenbruch im Sommer 1918. Von Rainer Volk (BR 2014)

Credits
Autor: Rainer Volk
Regie: Sabine Kienhöfer, Dorit Kreissl, Andreas Mangold
Es sprachen: Beate HimmelstoĂź, Rainer Buck
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Gerhard Hirschfeld, Prof. Ulrich Lappenküper, Hans-Peter Tombi (†)

Linktipps:

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Als im Juni 1914 in Sarajewo der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau ermordet werden, ist Europa ein von Spannungen gezeichneter Kontinent. Der Erste Weltkrieg bricht aus. Die Menschen empfinden es als ihre Pflicht, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen. Die junge Kosakin Marina Yurlova will für den russischen Zaren kämpfen. Der 18-jährige Peter Kollwitz zieht für Deutschland an die Westfront; der Landwirt Karl Kasser soll das Großreich Österreich-Ungarn an der Ostfront verteidigen. Im ostdeutschen Schneidemühl, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt, fürchtet die zwölfjährige Elfriede Kuhr den Einmarsch der Russen. Im französischen Sedan erlebt der zehnjährige Yves Congar, wie seine Heimatstadt von den Deutschen angegriffen wird. JETZT ANSEHEN

ZDF (2020): Der Preis des Krieges – Erster Weltkrieg

Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt das Zeitalter der industriell gefĂĽhrten Massenkriege. Rund 20 Millionen Menschen sterben. Generationen verlieren Zukunft, Gesundheit und Wohlstand. JETZT ANSEHEN

Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂĽr Geschichts-Interessierte:

m Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 02:55 – Deutsch-französische Erbfeindschaft?
TC 06:18 - Kriegspropaganda
TC 10:37 – Vom Land auf die See
TC 12:56 – Kriegsmüdigkeit
TC 16:01 – „Verloren haben wir alle“
TC 19:33 - Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

MUSIK

Erzählerin:
Ein Regiment marschiert, von den Bürgern bejubelt, mit Musik aus einer Garnisonsstadt zur Eisenbahn, um an die Front zu kommen; der Bürgermeister spricht, der Regimentskommandeur dankt. Begeisterung, Patriotismus, Opferbereitschaft für das Vaterland – der Kriegsbeginn im August 1914 stößt in der deutschen Bevölkerung auf große Euphorie.

O-Ton Hörbild 1914:
Herr Oberst, ich kann es mir in dieser Bewährungsstunde nicht versagen, im Namen der Stadt und ihrer Einwohner unserem geliebten Regiment „Lebewohl“ zu sagen. Hurra! Hurra!

Erzähler:
Zumindest vermittelt dieses Hörbild einen solchen Eindruck. Diese akustische Szene stammt allerdings aus dem Jahr 1918. Sie ist ein Propagandaprojekt, das eine allseitige Euphorie bei Kriegsbeginn beschwört – das so genannte „Augusterlebnis“ in Deutschland. In Wirklichkeit aber ist die Stimmung im Sommer 1914 sehr vielschichtig. Professor Gerhard Hirschfeld, Mitherausgeber der „Enzyklopädie 1. Weltkrieg“, beschreibt die Atmosphäre:

O-Ton Gerhard Hirschfeld:
Patriotische Begeisterung einerseits, aber auch die Furcht vor der kommenden Ungewissheit, die Sorge um die familiäre und berufliche Existenz. Und vor allen Dingen – das scheint mir sehr wichtig zu sein – die Entladung einer ungeheuren Anspannung.

MUSIK

Erzählerin:
Am 1. August 1914, einem Samstag, befiehlt Kaiser Wilhelm die „Mobilmachung“. Er hat seinem Verbündeten Kaiser Franz Joseph in Wien Beistand gegen Russland versprochen. Der Kriegsplan, der so genannte „Schlieffen-Plan“, stammt von Alfred von Schlieffen und liegt schon seit mehreren Jahren in der Schublade; Schlieffen selbst ist bereits eineinhalb Jahre vor Kriegsausbruch gestorben; trotzdem bleibt sein Nachfolger als Generalstabschef Helmuth von Moltke bei dessen Ideen. Denn das Kalkül der Deutschen ist unverändert: ein Zweifrontenkrieg im Osten und Westen muss vermieden werden. Deshalb soll als erstes Frankreich in einem kurzen Feldzug besiegt werden. Russland brauche für seine Mobilisierung sehr viel länger, da könne man also warten – so glaubt man in Berlin.

TC 02:55 – Deutsch-französische Erbfeindschaft?

Erzähler:
Frankreich und Deutschland sind damals seit vielen Jahrzehnten – eigentlich Jahrhunderten – tief zerstritten; alle reden von ‚Erbfeindschaft’ und haben noch den Krieg von 1870/71 vor Augen. Aber die Rivalität der beiden Nachbarländer ist nicht die Hauptursache für den Ausbruch des Weltkrieges. Der Historiker Professor Ulrich Lappenküper skizziert die Interessen des Deutschen Reiches:

O-Ton Ulrich LappenkĂĽper:
Es ging dem deutschen Kaiserreich ja in erster Linie darum, die englische Suprematie zur See zu brechen. Notwendig war, und da kommt nun der Schlieffen-Plan tatsächlich ins Spiel, dies aus Sicht des Generalstabs durch den militärischen Sieg über Frankreich.

Erzählerin:
Bereits in der Nacht vom 1. zum 2. August 1914 beginnen deutsche Truppen ihren Vormarsch, zunächst durch neutrale Länder: Infanteristen nehmen den Bahnhof des Örtchens Troisvierges in Luxemburg ein – von dort aus laufen Gleise Richtung Belgien, das die Deutschen auch erobern wollen. Diese ersten Tage des blitzartigen Vormarsches werden in Militärkreisen noch jahrzehntelang als „tolle Zeit“ erinnert. Ein Indiz ist der Radio-Bericht eines Berliner Majors vom Angriff auf Lüttich. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1934:
 
O-Ton Major Nidda:
Am 1. August frĂĽh morgens, ich weiĂź die Stimmung noch wie heute, fuhren wir fĂĽnf SturmfĂĽhrer der fĂĽnf Brigaden von Berlin der Grenze zu. Deutschland in groĂźer Wallung.

Erzähler:
Einen Monat lang eilen die deutschen Truppen im Westen von Sieg zu Sieg – bei rasch steigenden Verlusten. Geradezu mythischen Stellenwert erlangen Berichte von Rekruten, die frisch vom Abitur an die Front geschickt wurden und beim ersten Sturmangriff bei Langemarck in Flandern mit der Nationalhymne auf den Lippen fallen. Doch der Versuch, die französische Armee und ein britisches Expeditionskorps vernichtend und endgültig zu schlagen, misslingt: An der Marne und am Flüsschen Somme können die Alliierten die Front stabilisieren. Damit beginnen vier Jahre Stellungskrieg – auch in Elsass-Lothringen, das 1871 von Deutschland annektiert wurde.

MUSIK & ATMO

Erzähler:
Unterwegs am „Hartmannsweilerkopf”, einem großen Bergrücken der Vogesen nordwestlich von Mulhouse. Hier sind bis heute Spuren der einzigen Front auf damals „deutschem Boden” zu sehen. Um die ehemaligen Befestigungs-Anlagen und eine Chronik der dortigen Kämpfe kümmert sich ein deutsch-französischer Verein, den der mittlerweile verstorbene Hans-Peter Tombi gegründet hat. Auf einer seiner Führungen steht er auf einer Kuppe und deutet in Richtung Westen:

O-Ton Hans-Peter Tombi:
Das war das Ziel der Franzosen: Dieser Ausblick – rein in die Ebene vom Elsass. Denn von hier aus konnte man das Artillerie-Feuer steuern und leiten und die Deutschen im Tal stören. Es hat natürlich nicht funktioniert, denn die Abwehr des Feindes war den Deutschen bewusst.

TC 06:18 - Kriegspropaganda

Erzählerin:
Ein Blick in den Osten – dort wird 1914 ein Mann eine wichtige Rolle spielen, dessen Name die Deutschen noch lange begleiten wird: Paul von Hindenburg. Den General hat der Kaiser eilig aus der Pension zurück in den aktiven Dienst geholt. Denn an der Ostfront hat die russische Armee doch schneller angegriffen als erwartet. Hindenburg und Ludendorff, sein Chef-Stratege, erhalten dort die Befehlsgewalt - und siegen:

O-Ton Paul von Hindenburg:
Ihr habt einen vernichtenden Sieg über fünf Armeekorps und drei Kavallerie-Divisionen errungen. Mehr als 90.000 Gefangene, ungezählte Geschütze und Maschinengewehre, mehrere Fahnen und viele sonstige Kriegsbeuten sind in unseren Händen. Die geringen, der Einschließung entronnenen Trümmer der russischen Narew-Armee ziehen nach Süden über die Grenze. Die russische Wolga-Armee hat von Königsberg her den Rückzug angetreten. Es lebe seine Majestät, der Kaiser und König. Hurra!

Erzählerin:
Hindenburgs Aufruf an seine Soldaten nach der „Schlacht von Tannenberg”, ist nicht authentisch. Angeblich fand er Ende August 1914 statt, in Wahrheit aber wurde das Tondokument erst 1917 für die deutsche Kriegspropaganda aufgenommen.

Erzähler:
Anders als im Westen erstarrt das Kriegsgeschehen im Osten nicht in Gräben und Bunkern: Es herrscht Bewegung, die Deutschen marschieren vor. Die Erfolge werden jedoch durch Siege der Zarenarmee gegen Deutschlands Verbündeten Österreich-Ungarn teilweise zunichte gemacht. Die Gesamtlage bleibt daher prekär. Professor Gerhard Hirschfeld:

O-Ton Gerhard Hirschfeld:
Es ist ein Bewegungskrieg, der massenhafte Verluste bringt. Ohne deutsche Hilfe hätte Österreich-Ungarn diesen Krieg schon früh aufgeben müssen im Osten. Ein Kriegsfeld sollte man unbedingt noch nennen: Das ist der Krieg gegen Serbien – vor allen Dingen deshalb, weil er von ungeheurer Grausamkeit geprägt ist. Und wir verstehen bis heute nicht bestimmte Reaktionen sozusagen in dem serbischen Gefühlshaushalt, wenn wir nicht wissen, was dort während des Ersten Weltkriegs passiert ist.

O-Ton Englischer Gasangriff

Erzählerin:
So klingt der damalige Versuch, einen Gasangriff akustisch einzufangen. Die neue Waffe wird ab April 1915 eingesetzt – zuallererst von Deutschen. Der Chemie-Krieg – mit Senfgas, Blaukreuz, Chlor und anderen Stoffen – soll wieder Bewegung in das erstarrte Frontgeschehen im Westen bringen. Doch letztlich endet auch diese Eskalation in einem „Gleichgewicht des Schreckens“ und bringt nicht den erhofften Sieg im Völkersterben.

Erzähler:
Im Westen dauert der Stellungskrieg also an – und was das bedeutet, zeigt das Beispiel Hartmannsweilerkopf. Hier summiert sich die Zahl der Toten, Verwundeten, Invaliden und Kriegsgefangenen in vier Jahren auf etwa 30.000. Dabei geht es nur um wenige hundert Meter Front. Und dafür wird noch dazu ein gewaltiger materieller Aufwand betrieben: Die Soldaten höhlen den Berghang unterhalb der etwa 950 Meter hohen Kuppe mit Bunkern, Unterständen und Gängen regelrecht aus. Die jeweils dreieinhalbtausend Mann auf beiden Seiten, die in vorderster Linie kämpfen, haben Strom, Wasser, Etagenbetten und ein unterirdisches Operationszimmer. Hans-Peter Tombi erläutert das in einem der Stollen:

O-Ton Hans-Peter Tombi:
Hier in dem Malepartus-Stollen war ein ständiger Arzt. Das heißt, die Schwerverletzten wurden hierher gebracht von der Front durch ein Stollensystem und wurden hier vor dem Weitertransport behandelt.

Erzähler:
Schauplätze wie Verdun sind berühmter als das Elsass. Doch Experten wie Gerhard Hirschfeld meinen: Noch wichtiger als Verdun, weil typischer, sei das Geschehen an der Somme. Hier, im äußersten Norden Frankreichs steht die Front ebenfalls seit Herbst 1914. Allerdings wollen dort Franzosen und Briten in die Gegenoffensive gehen; nach langer Planung leitet schweres Artillerie-Feuer im Sommer 1916 den Angriff ein:

O-Ton Gerhard Hirschfeld:
Wenn man sich die Monate 1916, die die Somme-Schlacht umfasste und zwar vom 1. Juli bis etwa 25. November anschaut, so haben wir ein AusmaĂź an Vernichtung, das Verdun weit ĂĽbersteigt. Wir haben etwa 1,3 Millionen Verluste. Sie liegen doppelt so hoch als wie fĂĽr Verdun.

TC 10:37 – Vom Land auf die See

MUSIK

Erzählerin:
Da sich der Sieg in einem Landkrieg nicht erzielen lässt, hoffen Militärführung und Öffentlichkeit in Deutschland bald auf andere Waffen – so auch auf die kaiserliche Marine.

Erzähler:
Im Krieg selbst zeigt sich jedoch bald: Die deutsche Schlachtflotte ist der britischen Royal Navy weit unterlegen und dümpelt ab 1916 nur noch in den Häfen vor sich hin. Stattdessen konzentriert die Marineführung ihre Anstrengungen nun auf die U-Boot-Waffe. Da britische Schiffe mit einer Seeblockade das Land von der Einfuhr wichtiger Rohstoffe abschneiden, präsentiert die Marine bereits 1914 ein „Handels-U-Boot“, das unter dem Sperr-Riegel wegtauchen kann. Der Kommandant dieses Boots, Paul König, wird ebenfalls zu einer Schallplatten-Aufnahme gebeten:

O-Ton Paul König:
Dem friedlichen Handel inmitten des Weltkrieges zu dienen und den deutsch fühlenden Herzen drüben in Amerika ein greifbar Zeugnis zu bringen davon, dass Deutschland noch stark in ungebrochener Schaffenskraft besteht und aushalten wird, für seine Ideale und die Freiheit der Meere zu kämpfen, war und wird unsere erste Pflicht sein, auch auf den ferneren Fahrten.

Erzählerin:
Wichtigste Aufgabe der neuartigen Waffe ist der so genannte „unbeschränkte U-Boot-Krieg“: Handels- und Passagierschiffe auch neutraler Staaten sollen versenkt werden. Februar 1917 setzen sich die Befürworter des „unbeschränkten U-Boot-Kriegs“ in Berlin endgültig durch: Torpedos und Kanonen werden nun auf Schiffe aller Arten und Nationalitäten abgefeuert. Für die USA – politisch bereits lange mit Briten und Franzosen auf einer Linie – bietet das den Anlass, die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich einzustellen und Berlin den Krieg zu erklären. Zwar ist vorher bereits in Afrika und im Nahen Osten gekämpft worden – jetzt aber ist endgültig „Weltkrieg“.

TC 12:56 – Kriegsmüdigkeit

MUSIK

Erzähler:
Im November 1916 stirbt Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, der wichtigste Verbündete des Deutschen Reiches. Wenig später scheint ein Friedensschluss in greifbarer Nähe. In den Chroniken finden sich Waffenstillstands- und Friedensangebote – auch von deutscher Seite. Doch die Alliierten lehnen rundweg ab: Man zweifelt an der Ernsthaftigkeit der Absicht.

Erzählerin:
Spätestens seit diesem Zeitpunkt herrscht in Deutschland ein tiefes Zerwürfnis in der Politik. Konservativ-nationale Kräfte drängen weiterhin auf einen so genannten „Siegfrieden“ mit Gewinnen an Land und Ressourcen. Die Arbeiter und ihre Vertreter dagegen murren: Die ‚kleinen Leute’ spüren die mangelhafte Lebensmittelversorgung im Reich am stärksten – sie haben Hunger, gehen in die Wälder, Kräuter und Beeren pflücken, bekommen Ersatzstoffe, die sie sättigen sollen, und hungern trotzdem weiter. Jede Familie beklagt Gefallene, man ist kriegsmüde. Zumal sich die gesellschaftliche Situation anders entwickelt hat als erhofft: Seit die Generäle Hindenburg und Ludendorff im August 1916 als Chefs der gesamten Heeresleitung eingesetzt worden sind, ist eine Art „Militärdiktatur“ entstanden: Kaiser, Reichskanzler und Parlament haben wenig zu sagen. So verlangen SPD-Abgeordnete im Mai 1917, unter ihnen Philipp Scheidemann, einen Verständigungsfrieden:

O-Ton Philipp Scheidemann:
Es ist genug. Es wäre ein Glück für ganz Europa, wenn wir schnellstens einen Frieden der Verständigung haben könnten.

Erzähler:
Auch an den Fronten ist die Kriegsmüdigkeit 1917 nicht mehr zu übersehen: Selbst einfache Soldaten erkennen, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist. So kommt es – zum Beispiel an Weihnachten – zu Verbrüderungen über die Schützengräben hinweg. Dort, wo sich über Monate kaum etwas tut und die Stellungen manchmal nur wenige Meter auseinander liegen wie am Hartmannsweilerkopf im Elsass, braucht es für diese verbotenen Momente aber keine Feiertage. Hans-Peter Tombi berichtet:

O-Ton Hans-Peter Tombi:
Da werden etliche Überlieferungen weiter getragen, zum Beispiel ein französischer Elsässer, kocht auf der anderen Seite und der Deutsche fragt: Hhhm, das riecht aber heute gut bei Dir drüben! – Und dann fragt der Elsässer: Haste Hunger? – Dann sagt er: Ja natürlich. – Ja, dann komm’ doch rüber. Und dann hat man zusammen gegessen. Das ging natürlich immer so lange gut, bis die Offiziere das gemerkt hatten.

Erzählerin:
Derartige Anekdoten finden sich immer wieder in verschiedenen Berichten von Truppenteilen und in Feldpostbriefen. Diese Dokumente auf die wahren Kriegserlebnisse hin auszuwerten, ist nicht leicht – denn bestimmte Tabus, wie etwa die Angst vor dem Tod, werden kaum angetippt. Aber eins scheint sicher: Die angebliche „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen wird von vielen im Verlauf des Ersten Weltkriegs überwunden, viele Soldaten sehen sich als Opfer der Politik.

TC 16:01 – „Verloren haben wir alle“

O-Ton Amerikanisch-Französisch-Kurs:
Have you seen any American soldiers? - …where are our headquarters… I want to find my regiment? – Have you seen the enemy… Can you give me any information about the enemy… we are going to attack…

Erzähler:
1917 verlegen die USA erste Truppen nach Europa – hier ein Französisch-Sprachkurs für amerikanische Soldaten aus diesem Jahr. Das wirkt sich auf die Kämpfe in Belgien und Nordfrankreich zwar nur allmählich aus: Die Amerikaner haben keine Kampferfahrung und erleiden anfangs große Verluste. Strategisch gesehen aber zerstört der Auftritt der Amerikaner auf dem Schlachtfeld de facto die letzten deutschen Siegeshoffnungen. Gerhard Hirschfeld:

O-Ton Gerhard Hirschfeld:
Hinter dem Komplex USA verbergen sich ja nicht nur die kriegführenden Truppen. Da ist eine industrielle Macht, da ist eine Kapazität vorhanden, die vor allen Dingen in wirtschaftlicher und auch in moralischer Breite diesen Krieg beeinflussen kann. Und das brachte nicht nur für die kriegführenden Franzosen und Briten einen ungeheuren Aufschwung, sondern eben auch versetzte die Deutschen doch in eine ziemliche Panik.

Erzählerin:
Das schließt die obersten deutschen Generäle ein. Während im Osten in Folge der russischen Revolution bereits Friede herrscht, wird im Westen noch weitergekämpft.

Erst im Sommer 1918 stellen die Deutschen dort ihre letzte Offensive ein, die sie unter Aufbietung aller Kräfte gestartet haben. Die Truppen sehen sich erstmals starken Panzerverbänden gegenüber, denen sie nicht gewachsen sind.

Erzähler:
Das Deutsche Reich ist besiegt. Es stehen keine weiteren Soldaten mehr zur Verfügung, die Materialvorräte gehen zu Ende und die Bevölkerung ist völlig erschöpft, ausgehungert und ausgezehrt. Der berühmt-berüchtigte Steckrübenwinter, die permanente Mangelwirtschaft und die Verluste an der Front führen zu einer allgemeinen Demoralisierung. Die Weigerung Kieler Matrosen, mit den Schiffen der Schlachtflotte ein letztes Mal auszulaufen, führt Ende Oktober zu Unruhen in den Großstädten. Die Generäle erkennen: Der Krieg ist nicht mehr fortsetzbar. Bereits ein paar Monate zuvor haben Ludendorff und Hindenburg gefordert, über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Nun, am 11. November 1918, wird in Compiegne bei Paris der Waffenstillstand unterzeichnet; zwei Tage zuvor ist Kaiser Wilhelm nach Holland ins Exil geflüchtet. Er wird noch im gleichen Monat abdanken und für alle Zeiten auf den Thron verzichten.

MUSIK

Erzählerin:
Eine Aufnahme von 1996. Raymond Abescat, ein 105-jähriger Kriegsveteran, singt ein Soldatenlied seiner Einheit aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Indiz dafür, wie nachhaltig die Zeugen dieser Zeit von ihr geprägt wurden und dass der Historiker George Kennan recht hatte, als er den Ersten Weltkrieg die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte? Die Zahl der Opfer des Ersten Weltkriegs weltweit wird auf etwa 9,5 Millionen Tote und doppelt so viele Verwundete geschätzt. Allein auf deutscher Seite starben etwa 2 Millionen Menschen, auf französischer 1,3 Millionen.

Charles de Gaulle, selbst vor Verdun verwundet und dann Kriegsgefangener in Ingolstadt, bilanzierte die Jahre von 1914 bis 18 später mit dem Satz: „Es gab Sieger und Besiegte, verloren haben wir alle.“

TC 19:33 - Outro