Alles Geschichte - History von radioWissen   /     VÖLKERWANDERUNG UND DANACH – Wer ist wirklich warum gewandert?

Description

Warum ist das antike römische Weltreich untergegangen? Auf der Suche nach den Ursachen hat die Geschichtsschreibung einen schillernden Begriff gefunden: die Völkerwanderung. Demnach hĂ€tte ein Ansturm von "Barbaren" die Herrschaft des alten Rom beendet. Doch inzwischen Ă€ndert sich das Bild: Demnach löste der beginnende Zerfall des Reichs einen gewaltigen Zustrom von außen aus, ĂŒber alle Grenzen von Germanien bis Arabien. Von Matthias Hennies (BR 2021)

Subtitle
Duration
00:22:48
Publishing date
2024-08-23 12:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/voelkerwanderung-und-danach-wer-ist-wirklich-warum-gewandert/2096824
Contributors
  Matthias Hennies
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2096824/c/feed/voelkerwanderung-und-danach-wer-ist-wirklich-warum-gewandert.mp3
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Shownotes

Warum ist das antike römische Weltreich untergegangen? Auf der Suche nach den Ursachen hat die Geschichtsschreibung einen schillernden Begriff gefunden: die Völkerwanderung. Demnach hĂ€tte ein Ansturm von "Barbaren" die Herrschaft des alten Rom beendet. Doch inzwischen Ă€ndert sich das Bild: Demnach löste der beginnende Zerfall des Reichs einen gewaltigen Zustrom von außen aus, ĂŒber alle Grenzen von Germanien bis Arabien. Von Matthias Hennies (BR 2021)

Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Diana Gaul
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Ulrich Himmelmann, Prof. Mischa Meier, Dr. Corina Knipper, Prof. Roland Steinacher

Besonderer Linktipp der Redaktion:

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Ein Herrscher mit Schwert und Szepter, ein Heiliger, der einen wilden BĂ€ren zĂ€hmt 
 das ist nicht der Stoff fĂŒr einen Hollywoodfilm, sondern pure bayerische Geschichte. Tassilo, Korbinian und der BĂ€r entfĂŒhren uns in der Bayerischen Landesausstellung 2024 ins frĂŒhe Mittelalter! Veranstalter sind das Haus der Bayerischen Geschichte und die Erzdiözese MĂŒnchen und Freising. ZusĂ€tzlich zur Landesausstellung werden dem Publikum ausgewĂ€hlte PrunkrĂ€ume des Dombezirks ĂŒber FĂŒhrungen zugĂ€nglich gemacht. Die Ausstellung findet noch bis zum 3. November 2024 im Diözesanmuseum Freising statt. MEHR INFOS

ZDF (2023): Drei IrrtĂŒmer ĂŒber die Völkerwanderung  

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Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 02:35 – Horrorszenario Völkerwanderung
TC 05:30 – Das neue Bild einer Epoche
TC 07:57 – Römischer Einfluss
TC 11:17 – ArchĂ€ologische Spurensuche
TC 15:23 – Der Kitt der KontinuitĂ€t
TC 21:33 – Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

ATMO & MUSIK

Sprecher
Wolkenlos wölbt sich der Himmel ĂŒber den Weinbergen der Pfalz. Um die Sonne zu genießen, treffen sich die Einwohner von Bad DĂŒrkheim nach Feierabend zwischen den SĂ€ulen der restaurierten Römervilla. Vor 2000 Jahren residierte hier der Besitzer eines riesigen Weinguts.

1. OT Himmelmann04 0:44
Hier den ganzen Hang hinunter waren WirtschaftsgebĂ€ude, Weinkeltern, Scheunen usw., wir stehen hier nur vor dem Herrenhaus, dem Bad und den ReprĂ€sentationsrĂ€umen von einer sehr, sehr großen Anlage, die man sich vorstellen muss in den Dimensionen wie eine barocke Schlossanlage ungefĂ€hr.

Sprecher
Weinstöcke wachsen, wo einst die NebengebĂ€ude standen, die Ulrich Himmelmann aufzĂ€hlt, Leiter der ArchĂ€ologie in der Region. Ein Gutshof von solchen Ausmaßen ist in der Pfalz heute unvorstellbar. Doch im Imperium Romanum gab es extreme Unterschiede zwischen reich und arm – und noch drastischer war das WohlstandsgefĂ€lle zu den Menschen jenseits der Grenze, die weder Weinbau noch Steinbau kannten. Kein Wunder, dass sie eines Tages in Scharen ins Imperium drĂ€ngten – manchmal friedlich und oft mit Feuer und Schwert.

2. OT Himmelmann04 3:16
Dieses Landgut ist hier in frĂŒhrömischer Zeit bereits gegrĂŒndet worden, lĂ€uft hier bis in die Mitte des vierten Jahrhunderts durch als Landgut mit enormer GrĂ¶ĂŸe, und um die Mitte des 4. Jahrhunderts brennt das hier ab und dann ist es auch zu Ende.

Sprecher
Damit begann eine Zeit, die man in Deutschland „Völkerwanderung“ nannte. Doch Historiker sind nicht mehr einverstanden mit dem lange ĂŒberlieferten Bild:

MUSIK

Zitatorin 1
Zahllose wilde Völker haben Besitz ergriffen von ganz Gallien. Das gesamte Gebiet zwischen den Alpen und PyrenĂ€en, zwischen dem Ozean und dem Rhein haben [
] die Feinde [
] zerstört. Mainz, einst eine berĂŒhmte Stadt, haben sie eingenommen und völlig zerstört, Worms musste eine lange Belagerung aushalten, bis es dem Untergang anheimfiel. Die mĂ€chtige Stadt Reims, ferner Amiens, Arras, Tournay, Speyer, Straßburg, alle diese StĂ€dte sind in den Besitz der Germanen ĂŒbergegangen.

TC 02:35 – Horrorszenario Völkerwanderung

Sprecher
Der Kirchenlehrer Hieronymus malte die Ereignisse im Westen des Römischen Reiches spĂ€ter als Weltuntergang aus. Auch andere Geschichtsschreiber entwarfen das Horrorszenario furchtbarer, großflĂ€chiger Zerstörungen. Und so entstand das Bild der „Völkerwanderung“, das bis vor kurzem etwa so in den GeschichtsbĂŒchern stand:

MUSIK

Zitatorin 2
Auslöser sind die aus Asien kommenden Hunnen, die nach Westen drÀngen und die anderen Völker vertreiben. Ursachen der Wanderungen sind aber auch die Zunahme der Bevölkerung und nicht zuletzt Kriegslust und Beutehunger. Vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer gerÀt ganz Europa in Aufruhr, weil die meisten Völker ihre Heimat verlassen, um neue Siedlungsgebiete zu erobern.

Sprecher
Ob Franken oder Alemannen, Goten oder Gepiden, alle durchbrachen demnach den Limes und zogen mit Hab und Gut, mit Weib und Kind ins Römische Reich. Aber so war es nicht. Dieses romantische und gewalttÀtige Narrativ, das lange auch der nationalistischen Propaganda diente, gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Das belegen aktuelle Forschungen von Historikern, Naturwissenschaftlern und ArchÀologen - auch in der Pfalz.

ATMO 

Sprecher
Bei der Ausgrabung der DĂŒrkheimer Römervilla kamen eindeutige Brandspuren zu Tage. Aber die ArchĂ€ologen haben an vielen Stellen der Weinbauregion, die auch damals dicht besiedelt war, gegraben. Dr. Himmelmann deutet auf die HĂŒgel jenseits des DĂŒrkheimer Bruchs:

3. OT Himmelmann04 7:28
Auf der anderen Seite der Haardtrand, wo die Burgruinen stehen, gegenĂŒber auch gleich der Nachbar, die Villa in Wachenheim, die kann man von hier aus sehen.

Sprecher
Die Römervilla in Wachenheim gehörte ebenfalls zu einem Weingut – und sie wurde nie zerstört. Sie florierte noch ein ganzes Jahrhundert lang, nachdem der Besitz des DĂŒrkheimer Nachbarn in Flammen aufgegangen war. Auch in Speyer, dem römischen Hauptort, stießen Himmelmann und seine Kollegen nicht auf Zerstörungsspuren: Skelette aus römischen Friedhöfen zeigen keine Kampfverletzungen, die Stadt ist nicht niedergebrannt. Um 350 begann eine unruhige Zeit, schließt der ArchĂ€ologe, es kam zu Barbaren-ÜberfĂ€llen, römische Offiziere putschten, bunt gemischte Heerhaufen durchzogen das Land, doch sie richteten keine großflĂ€chigen Zerstörungen an, wie antike Autoren behaupteten.

4. OT Himmelmann04 9:22 
Wir wissen, es gab BĂŒrgerkriege, wir wissen, es gab lokale Unruhen, die aber offensichtlich nicht in allen Orten gleich verlaufen sein mĂŒssen. Es gibt auch kleinstĂ€dtische Siedlungen hier wie Eisenberg, wo wir ganz klar mĂ€chtige Zerstörungsschichten haben, da hat es große BrĂ€nde gegeben und es gibt andere Orte, wo aber so etwas nicht feststellbar ist.

TC 05:30 – Das neue Bild einer Epoche

MUSIK

Sprecher
Das ist das neue Bild der Epoche, die 476 zur Absetzung des letzten weströmischen Kaisers fĂŒhrte. Die Weltmacht Rom ging nicht in einem abrupten Moment mit Donnergetöse unter – ihre Macht schwand nach und nach. In den Provinzen tauchten mehr und mehr Alemannen, Franken oder Goten auf, doch zugleich lief das gewohnte Leben fĂŒr die BĂŒrger weiter: In Speyer speiste das AquĂ€dukt die BĂ€der noch lange mit Frischwasser, erzĂ€hlt Himmelmann. Das alte Bild der „Völkerwanderung“ ist nicht mehr haltbar, erklĂ€rt Mischa Meier, Professor in TĂŒbingen, denn dahinter steht ein Begriff von „Volk“ –

5. OT Meier 0:21
 - der letztlich ein Konstrukt aus dem 19. und frĂŒhen 20. Jahrhundert ist und nach all‘ dem, was wir heute wissen, hat es in der Antike und dem FrĂŒhmittelalter keine Völker in diesem romantischen Sinn gegeben, und das andere betrifft die Komponente Wanderung – da gibt es sehr klare Vorstellungen, die man sich frĂŒher von wandernden Völkern gemacht hat, und die sind mittlerweile auch wissenschaftlich nicht mehr tragbar.

Sprecher
Entscheidend ist das neue VerstĂ€ndnis der Gruppen, die seit dem Ende des vierten Jahrhunderts ĂŒber alle Grenzen ins Reich strömten, betont der Historiker: Man kann sie nicht als einheitliche Ethnien bezeichnen. Forschungen der Migrationssoziologie und der Ethnologie zeigen, dass mobile Gruppen wie die Alemannen, Vandalen oder Hunnen der römischen Geschichtsschreiber nicht unbedingt gemeinsame Vorfahren oder eine lange gemeinsame Kulturtradition hatten. Klar ist nur: Sie fĂŒhlten sich zusammengehörig.

6. OT Meier 5:57
Sie haben also gemeinsam geglaubt, eine Gemeinschaft zu sein und haben zum Teil auch geglaubt, dass sie eine Abstammungsgemeinschaft sind und haben sich um diesen Glauben herum dann auch ihre eigenen Mythen und Geschichten gesponnen und entwickelt und spĂ€ter dann auch versucht, schriftlich festzuhalten und auf die Weise dann ein ZusammengehörigkeitsgefĂŒhl entwickelt, das uns heute von außen betrachtet zunĂ€chst einmal wie eine ethnische Einheit dann auch vorkommt.

Sprecher
Auch ihre Namen gehen nicht auf sie selbst, sondern auf römische Schriftsteller zurĂŒck, die praktische Bezeichnungen fĂŒr die heterogenen Gemeinschaften brauchten – in deren spĂ€teren, eigenen Aufzeichnungen blieben diese Namen dann oft erhalten.

TC 07:57 – Römischer Einfluss

MUSIK

Der Osten des Imperiums mit der gut befestigten Hauptstadt Konstantinopel ĂŒberstand die Wirren relativ unbeschadet. Im Westen jedoch löste sich das römische Imperium in neue, kleinere Reiche auf – und das lag vermutlich nicht an der ĂŒberwĂ€ltigenden militĂ€rischen Übermacht, die die Grenzen durchbrach, wie man lange dachte. Jetzt meinen Historiker: Die Politik Roms spielte eine entscheidende Rolle, denn die Römer und ihre Nachbarn lebten nie in getrennten Welten. Eine „verflochtene Geschichte“, wie man heute in der Wissenschaft sagt, verband sie - schon seit dem 2. Jahrhundert. Mischa Meier hebt hervor:

7. OT Meier 17:30
Dass die Römer sehr aktiv Einfluss genommen haben auf die Geschehnisse im Barbaricum und dabei natĂŒrlich versucht haben, natĂŒrlich vor allem ihre Grenzen zu sichern, aber auch Kontakte zu knĂŒpfen, Handelsverbindungen zu etablieren und in die inneren sozialen und politischen VerhĂ€ltnisse der Gruppen, auf die sie getroffen sind, einzugreifen, nĂ€mlich zu ihren Gunsten.

Sprecher
Über Jahrhunderte war römische Kultur bei den „Barbaren“ stĂ€ndig prĂ€sent: AnfĂŒhrer bekamen von den Kaisern hohe Summen, damit sie die Pufferzone vor der Grenze sicherten. Krieger brachten vom Dienst in den Legionen Geld und römische Lebensweise in ihre Heimat mit. Gesandte, aber auch viele HĂ€ndler und Handwerker wechselten ĂŒber die Grenzen. Diese Politik wirkte schließlich auf Rom zurĂŒck:

8. OT Meier
Aus kleineren VerbĂ€nden sind grĂ¶ĂŸere ZusammenschlĂŒsse geworden, sie haben IdentitĂ€tsbildungsprozesse durchlaufen, vor allem aber haben sie sich immer stĂ€rker auf das Römische Reich auch bezogen.

Sprecher
So entstanden grĂ¶ĂŸere Gemeinschaften, die als Franken und Alemannen, als Vandalen und Goten bekannt und bedrohlich wurden. Sie ĂŒbernahmen römische Waffen, Moden, Denkweisen und erkannten im wohlhabenden Imperium mehr und mehr ein verlockendes Gelobtes Land. Beging die römische Politik also einen strategischen Fehler?

9. OT  Meier 20:11
Die Römer hatten etablierte Prinzipien der Außenpolitik, die eben viele Jahrhunderte funktioniert haben, aber die eben Folgekosten mit sich brachten, die fĂŒr die antiken Zeitgenossen nicht erkennbar waren, weil sie sich eben erst nach vielen Jahren und sehr, sehr schleichend materialisierten. Und gleichzeitig haben wir natĂŒrlich ein WohlstandsgefĂ€lle zwischen dem Römischen Reich und den Regionen außerhalb des Reiches, und zwar ein sehr erhebliches WohlstandsgefĂ€lle. Im Römischen Reich konnte man in einer Weise leben und Sicherheit genießen, wie es in kaum einem anderen Gebilde der Vormoderne möglich gewesen ist und natĂŒrlich hat das Begehrlichkeiten geweckt, ohne Zweifel.

Sprecher
Im 4. Jahrhundert geriet das Imperium in eine SchwĂ€chephase. Das Machtvakuum fiel mit einer Offensive hunnischer ReiterverbĂ€nde zusammen, die von Osten nach Europa hereindrĂ€ngten. Was die Ursache dafĂŒr war, möglicherweise KlimaverĂ€nderungen oder Seuchen in Zentralasien, ist umstritten. Die Folge waren zwei Jahrhunderte der Unrast: Goten flohen ĂŒber die Donau nach SĂŒden, Franken und Alemannen gingen ĂŒber den Rhein nach Westen, Vandalen zogen durch Gallien nach Spanien, Langobarden nach Ungarn.

TC 11:17 – ArchĂ€ologische Spurensuche

MUSIK

Ihre Routen durch Europa schildern antike und mittelalterliche Chroniken – doch die haben sich als notorisch unzuverlĂ€ssig erwiesen. Forscher versuchen nun, die Wege der Kampf- und Siedlungsgemeinschaften im Labor, mit naturwissenschaftlichen Mitteln, zu rekonstruieren. Ihre wichtigste Quelle sind Skelettreste, die ArchĂ€ologen in spĂ€tantiken GrĂ€berfeldern bergen. Um zu ermitteln, ob die Menschen am Ort der Beisetzung geboren oder aber zugewandert sind, entnehmen sie ZĂ€hnen und Knochen winzige Mengen Proben und analysieren die Mischung der Isotope darin.

ATMO

Sprecher
Isotope sind Atome eines chemischen Elements, die eine unterschiedliche Masse haben. Das Praktische ist: Das jeweilige Mischung der verschiedenen Isotope ergibt einen chemischen Fingerabdruck des Elements, den man in Gesteinen, im Wasser oder in Pflanzen messen – und in menschlichen Knochen und ZĂ€hnen wiederfinden kann. Daraus schließen Forscher zum Beispiel, ob die ErnĂ€hrung eines Individuums eher vegetarisch oder fleischhaltig war. Auch einige Pflanzenarten lassen sich erkennen: Hirse etwa, die ursprĂŒnglich in Zentralasien verbreitet war und zur Römerzeit vermehrt in Ungarn verzehrt wurde: Haben Zuwanderer sie vielleicht mitgebracht?

MUSIK

Migrationen versuchen Wissenschaftler vor allem aber anhand der vier Isotope des Strontiums zu ermitteln. Das MischungsverhĂ€ltnis der Strontium-Isotope im Gestein unterscheidet sich nĂ€mlich von Region zu Region. Da das Element durch die Verwitterung auch in den Boden, ins Wasser und letztlich in den Nahrungskreislauf gelangt, können Forscher das IsotopenverhĂ€ltnis auch im menschlichen Körper bestimmen – und dann eine Beziehung zur Herkunftsregion eines Individuums herstellen.

10. OT Knipper 4.30
Das SchlĂŒsselmaterial fĂŒr die Untersuchung von MobilitĂ€t sind eigentlich die ZĂ€hne, genauer gesagt der Zahnschmelz, weil der schon in der Kindheit angelegt und nicht weiter verĂ€ndert wird. D.h. wenn die ZĂ€hne im Laufe der Kindheit mineralisieren, wird das Strontium eingelagert und es verĂ€ndert sich dann nicht mehr.

Sprecher
Dr. Corina Knipper, angestellt am renommierten Curt-Engelhorn-Centrum fĂŒr ArchĂ€ometrie in Mannheim, arbeitet in mehreren Projekten zur Geschichte der Langobarden, die in einer ersten Migration aus dem Elbe-Raum in die römische Provinz Pannonien im heutigen Ungarn gezogen sein sollen. In Kooperation mit ungarischen Kollegen hat Knipper mit ihren Mitarbeitern daher Proben von 550 Individuen aus ungarischen GrĂ€berfeldern analysiert.

11. OT Knipper 11:28
Innerhalb dieses Projektes haben wir auch eine so genannte Isotopen-Kartierung durchgefĂŒhrt. Eine Mitarbeiterin aus den Geo-Wissenschaften hat ganz systematisch Pflanzen- und Wasserproben gesammelt und hat da die Strontium-Isotopen-VerhĂ€ltnisse bestimmt und hat dann daraus versucht, Regionen mit unterschiedlicher Isotopen-Zusammensetzung abzuleiten.

Sprecher
Doch die Methode stieß an ihre Grenzen: Sogar auf kleinem Raum erwies sich die Isotopen-Mischung als uneinheitlich. Umgekehrt fanden sich in weit voneinander entfernten Regionen dieselben Werte: Folglich ließen sich die Toten nicht eindeutig einer Herkunftsregion zuordnen. Man konnte nur unterschiedliche Personengruppen auf den GrĂ€berfeldern benennen.

12. OT Knipper 13:56
Die StĂ€rke der Methode liegt darin, dass man ĂŒberhaupt ortsfremde Personen erkennt beziehungsweise ganz streng muss man eigentlich sagen, dass man Personen erkennt, die wĂ€hrend ihrer Kindheit Nahrung aus einer anderen Region konsumiert haben.

TC 15:23 – Der Kitt der KontinuitĂ€t

Sprecher
Wie man sich die Kampf-Gemeinschaften vorstellen kann, die in den unruhigen Jahrhunderten durch das Römische Reich zogen, stellt der Historiker Mischa Meier in einer Reihe von Idealtypen dar:

13. OT Meier 2:49
Es gibt zum Beispiel kleine, schlagkrĂ€ftige Kriegergruppen, die sich um einen charismatischen AnfĂŒhrer scharen und dann immer wieder EinfĂ€lle ins Römische Reich vorgenommen haben, das wĂ€ren etwa die frĂŒhen Franken gewesen oder die frĂŒhen Alemannen oder Sachsen - 

Sprecher
 - denen es wohl vor allem um die ReichtĂŒmer der Römer ging. Andere waren auf der Suche nach einer neuen Heimat: Die gotischen FlĂŒchtlinge etwa, die von hunnischen ReiterverbĂ€nden ĂŒber die Donau gedrĂ€ngt wurden. Auch ganze Armeen waren unterwegs -

14. OT Meier
Armeen allerdings im antiken Sinn, das heißt immer auch von einem großen zivilen Tross begleitet, von Frauen und Kindern, von HĂ€ndlern und allen möglichen anderen Personen -

Sprecher
 - und schließlich zĂ€hlt Meier halb-nomadische arabische Gruppen auf, denn nicht nur an Rhein und Donau, auch in Syrien oder in Nordafrika mussten die Legionen den Limes aufgeben. Doch nicht alle Gruppen, die ĂŒber die Grenzen strömten, wollten sich im Imperium ansiedeln, betont Meier, viele wurden einfach hineingezogen, nicht zuletzt von der römischen Politik selbst.

MUSIK

Zitatorin 4 (Üs 1908)
Kaiser Theodosius [
] machte König Athanarich Geschenke, schloss eine Allianz mit ihm. [
] Nach Athanarichs Tod blieb seine Armee in den Diensten des Kaisers, unterwarf sich der römischen Herrschaft und fĂŒgte sich in die kaiserlichen Truppen ein, als wĂ€re sie eins mit ihnen.

Sprecher
Berichtete spĂ€ter der Geschichtsschreiber Jordanes. Kriegsdienst gegen römisches Land – bis dahin ein unerhörtes TauschgeschĂ€ft. Der Grund ist offensichtlich:

15. OT Steinacher 14:29
Foederaten, unter Vertrag stehende, von außen kommende Soldaten, die kein römisches BĂŒrgerrecht haben, die sind natĂŒrlich deutlich billiger zu haben als römische BĂŒrger.

Sprecher
Der Kaiser konnte nicht mehr genug römische LegionĂ€re besolden – das war ein entscheidender Faktor fĂŒr den unaufhaltsamen Niedergang des Imperiums, betont der Historiker Roland Steinacher, Professor in Innsbruck. Zudem war auch die ideologische Basis des Imperium Romanum grĂŒndlich erschĂŒttert worden: Dass sich mit dem Christentum eine völlig neue Form der Religion in der Bevölkerung verbreitete hatte und im 4. Jahrhundert auch im Staat etabliert worden war, trug ebenfalls zur InstabilitĂ€t bei.

16. OT Steinacher 27:04
Der tiefe Wandel von MentalitÀten und ideologischen Strukturen, der Schritt zum Christentum, der eine mittelmeerische Gesellschaft fundamental verÀndert hat.

MUSIK

Sprecher
Und so vermischten sich die beiden SphĂ€ren, die einst der Limes getrennt hatte, immer stĂ€rker: Mal kĂ€mpften LegionĂ€re mit hunnischen Einheiten gegen Franken, mal mit gotischen Abteilungen gegen Hunnen und in BĂŒrgerkriegen mit diesen oder jenen gegen Römer. Oberbefehlshaber wurden MĂ€nner wie Stilicho, der von Vandalen abstammte oder Aetius, der lange am Hof der Hunnen gelebt hatte. Der gotische Warlord Alarich fĂŒhrte erst Truppen des Kaisers, dann plĂŒnderte er Rom, die frĂŒhere „Beherrscherin der Welt“. Vandalen, Goten, Franken grĂŒndeten dann in Italien, Spanien und Nordafrika, in Teilen Galliens und Germaniens neue, kleinere Reiche, die leichter zu verteidigen waren als das riesige, heterogene Gebilde, das Rom einst kontrolliert hatte.

17. OT Steinacher 16:45
Stellen Sie sich mal vor die Grenzen zwischen Britannien und dem Euphrat: Das zu kontrollieren und auch mit einem entsprechenden ideologischen Unterfutter zu versorgen, ist natĂŒrlich weitaus schwieriger als einen Teil, ein BĂŒndel von Provinzen wie zum Beispiel Nordafrika oder Gallien oder Italien als partikularen politischen Apparat zu organisieren.

Sprecher
Doch das Imperium verschwand auch dort nicht: Römische Kultur erwies sich als der Kitt der KontinuitÀt, der Antike und Mittelalter verband.

18. OT Steinacher 22:10
Im Westen entwickelt sich ja auch eine letztlich kontinuierliche antike Struktur, denken Sie daran, eine kontinuierliche katholische Kirche, die die lateinische Sprache als Sprache des Gottesdienst, der Liturgie wie aber auch der Bildung, der Überlieferung, weiterverwendet, die Kirche ist die spĂ€tantike bĂŒrokratische Struktur, die kontinuierlich fortbesteht.

MUSIK

Sprecher
Die Übergangsphase – frĂŒher „Völkerwanderung“ genannt - zog sich vom 4. bis ins 6. Jahrhundert hin. Manche Historiker zĂ€hlen auch die arabische Expansion im 7. Jahrhundert noch dazu und sprechen erst danach von der neuen Epoche, dem Mittelalter.

ATMO

Sprecher
Der Untergang des weströmischen Reiches zog sich so lange hin, fĂŒr Zeitgenossen kann er kein radikaler Einschnitt gewesen sein. Wenn man als Handwerker in Speyer lebte oder in der Pfalz Wein anbaute, Ă€nderte sich nicht viel. Der ArchĂ€ologe Ulrich Himmelmann meint:

19. OT Himmelmann04 19:28
Dass die Menschen diesen Bruch nicht so wahrgenommen haben, ach Gott, jetzt ist das Römische Reich weg, sondern dass fĂŒr die Menschen das Römische Reich eigentlich der Staat war, in dem sie lebten und dass das Römische Reich eigentlich fortbestand und jetzt gerade in ner Krise war und eben lokale AutoritĂ€ten dieses Machtvakuum fĂŒllten und dass Karl der Große sich um 800 genau auf diese Tradition beruft, entspringt sicherlich aus dem noch vorhandenen GefĂŒhl dafĂŒr, dass es da einen Staat gab, der halt gerade renoviert werden muss.

TC 21:33 – Outro