Unfreiwillig verschlug es Johannes (Hans) Schiltberger in die Fremde. Im Mittelalter geriet der Bayer als Kriegsgefangener des Sultans bis nach Indien. Seine Erlebnisse beschrieb er in einem packenden Reisetagebuch. Von Lukas Grasberger (BR 2018)
Unfreiwillig verschlug es Johannes (Hans) Schiltberger in die Fremde. Im Mittelalter geriet der Bayer als Kriegsgefangener des Sultans bis nach Indien. Seine Erlebnisse beschrieb er in einem packenden Reisetagebuch. Von Lukas Grasberger (BR 2018)
Credits
Autor: Lukas Grasberger
Regie: Stefanie Ramb
Es sprachen: Xenia Tiling, Thomas Lettow
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Christoph Paulus, Prof. Birgit Studt, Markus Tremmel
Besonderer Linktipp der Redaktion:
BR: Die Grandauers und ihre Zeit
Mit Podcasts kann man tief in besondere Geschichten eintauchen. Die Hörspiel-Serie âDie Grandauers und ihre Zeitâ ist so eine besondere Geschichte: Die Familiensaga erzĂ€hlt unter anderem das Leben von Kriminaloberwachtmeister Ludwig Grandauer und dessen Sohn, dem MĂŒnchener Kriminalkommissar Benno. Drei Generationen einer MĂŒnchner Familie durchleben und durchleiden in den Jahren von 1893 bis 1945 fast fĂŒnf Jahrzehnte bayerische und deutsche Geschichte - eine dramatische Zeit voller TrĂ€ume, Hoffnungen, aber auch Kriege. ZUM PODCAST
Linktipps:
phoenix (2024): Kreuzritter im Orient
Kriege im Namen Gottes - Die KreuzzĂŒge aus arabischer Sicht: Diese Folge erzĂ€hlt die Geschichte der muslimischen RĂŒckeroberung des Heiligen Landes. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk (2005): Im Osmanischen Reich respektiert â in Resteuropa gefĂŒrchtet
Liegt zwischen der TĂŒrkei und Europa ein âKulturgrabenâ? Diese Frage hat ihren Ursprung im Nachhall der im 15. und 16. Jahrhundert weitverbreiteten sogenannten âTĂŒrkengefahrâ. 1529 standen die Osmanen zum ersten Mal vor den Toren Wiens, ein traumatisches Ereignis fĂŒr die mitteleuropĂ€ischen KönigtĂŒmer. ZUM BEITRAG
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:
Im Podcast âTATORT GESCHICHTEâ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime â und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzĂ€hlt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrĂŒhrend, witzig und oft ĂŒberraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.Â
Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 â Intro
TC 02:57 â Ein Bayer auf Reisen
TC 05:10 â Die Schlacht von Nikopolis
TC 09:17 â Chronist, Augenzeuge oder Fiktion?
TC 14:48 â Andere LĂ€nder, andere Sitten
TC 19:05 -Â Die Anziehungskraft des Schiltbergers
TC 21:29 - Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 â Intro
MUSIK
ZITATOR
âDann befahl der König, dass ein jeder seine Gefangenen töte. (âŠ) Auch meine beiden Mitgefangenen wurden gepackt, und man schlug ihnen die Köpfe ab.Â
ATMO
Als ich an der Reihe war, da erblickte mich der Sohn des Königs und erwirkte, dass ich am Leben blieb. Man fĂŒhrte mich zu den anderen Knaben, denn keiner unter zwanzig Jahren durfte getötet werden, und ich war zu der Zeit kaum sechzehn Jahre alt.â
SPRECHERIN
NĂŒchtern, ja fast lakonisch erzĂ€hlt der JĂŒngling Johannes Schiltberger, wie er 1396 nach einem gescheiterten Kreuzzug dem TĂŒrkenherrscher Bayezid in die HĂ€nde fiel â und dem Tod gerade noch einmal von der Schippe sprang. Die folgenden ĂŒber 30 Jahre sollte der Spross eines alten bayerischen Adelsgeschlechts in Gefangenschaft verbringen. Doch Schiltberger saĂ nicht etwa in Kerkerhaft: Er musste seinen Herren als Soldat auf verschiedensten FeldzĂŒgen dienen. Johannes Schiltberger verschlug es nach Sibirien, nach Samarkand, ja gar nach Indien: Fremde LĂ€nder, die kaum je ein Zeitgenosse bereiste. Er will fantastische Begebenheiten erlebt haben, wie etwa Kamele, die man in Flammen setzte, um Kriegselefanten in die Flucht zu schlagen.
MUSIK
Â
SPRECHERIN
Und Johannes Schiltberger schrieb seine Erlebnisse auf. Sein âReisebuchâ ĂŒber die Begebenheiten als âSklave im Osmanischen Reich und bei den Tartaren 1394-1427â wurde ab dem spĂ€ten Mittelalter zu einer Art Bestseller - zunĂ€chst in mehreren Handschriften verbreitet, dann vielfach nachgedruckt. Die ins Neuhochdeutsche ĂŒbertragenen Zitate stammen aus der Ausgabe von Ulrich Schlemmer. Die Schilderungen des unfreiwilligen Weltreisenden aus Bayern waren nicht nur fĂŒr damalige Zeitgenossen eine spannende LektĂŒre. Schiltbergers Berichte fesseln noch heute, sagt Dr. Christoph Paulus vom âHaus der Bayerischen Geschichteâ in Augsburg.
O-Ton 1 Christoph Paulus, Historiker am âHaus der Bayerischen Geschichteâ
âFĂŒr unseren Bereich, konkret Bayern um das 14. Jahrhundert, ist dieser Text wahrlich ein SolitĂ€r [...]. Weil wir keine vergleichbaren Texte haben, und weil er uns in vielerlei Hinsicht eine ungemein interessante Mischung zwischen eigener Anschauung und eben systematischen âAbhandlungenâ ĂŒber fremde LĂ€nder, fremde Menschen, fremde Kulturen, fremde Religionen und GebrĂ€uche liefert.â
SPRECHERIN
Es sind diese anschaulichen Schilderungen, derentwegen Schiltberger zuweilen auch als âbayerischer Marco Poloâ bezeichnet wird.
TC 02:57 â Ein Bayer auf Reisen
MUSIK
Doch wer war dieser Johannes Schiltberger wirklich? Wo kam er her? Was veranlasste ihn, gen Osten gegen die Heiden in den Krieg zu ziehen? Und wie kam es zu seinem vielgelesenen Bericht? Geboren wird Johannes Schiltberger in ein Bayern des spÀten Mittelalters. Ein Bayern, das bewegten Zeiten entgegensieht...
O-Ton 2 Prof. Birgit Studt, Mittelalterliche Geschichte, Uni Freiburg
âDas war eine Zeit der Erbfolgestreitigkeiten, wo nun konkurrierende TeilherzogtĂŒmer entstanden [âŠ]â
SPRECHERIN
...sagt die Freiburger Historikerin Birgit Studt. Bayern ist damals aufgeteilt unter den Enkeln und Urenkeln des deutschen Königs Ludwig des Bayern. Da gibt es die MĂŒnchner, die Landshuter, die IngolstĂ€dter und die Straubinger â sich allesamt gegenseitig spinnefeind. BesitztĂŒmer sind zersplittert, der Stammsitz derer zu Schiltberg war auf einer Burg im heutigen Landkreis Aichach-Friedberg. Ein Zweig der Familie hatte sich in MĂŒnchen niedergelassen, wo wohl auch Johannes Schiltberger zur Welt kam. Als nicht Erstgeborener Sohn konnte er sich wohl keine Hoffnung darauf machen, das Familienerbe anzutreten.
O-Ton 3 Studt
âDas Problem fĂŒr Zweit- und Drittgeborene war nun tatsĂ€chlich: Wenn die Herrschaft nicht geteilt wurde, dass man sich Möglichkeiten anderer Verdienste suchte. Und da gab es eben die klassischen Wege: Politikberatung, indem man nun tatsĂ€chlich auch den Hofdienst suchte, den Dienst an gröĂeren FĂŒrstenhöfen, wo es eben darum ging, den FĂŒrsten zu beraten, und hier die fĂŒrstliche Politik zu steuern. Oder auf der anderen Seite dann tatsĂ€chlich eine militĂ€rische Karriere zu unternehmen, und dann so etwas zu werden wie ein Offizier.â
MUSIK
SPRECHERIN
Johannes Schiltberger geht also als Knappe in die Lehre, lernt vom Kreuzritter Leonhard Reichartinger, der aus der Umgebung von Trostberg stammte, das Kriegshandwerk. Dass es ihn damit in fremde LĂ€nder ziehen wĂŒrde, war nahezu vorgezeichnet, sagt die Freiburger Professorin Birgit Studt.
O-Ton 4 Studt
âDarauf beruhte das SelbstverstĂ€ndnis von Adeligen, namentlich von adeligen Rittern, unterwegs zu sein, um zu kĂ€mpfen, Kriege zu fĂŒhren, Reisen zu organisieren [âŠ]âÂ
Â
TC 05:10 â Die Schlacht von Nikopolis
ATMO
SPRECHERIN
Ritter und Knappen, die sich quasi als Ich-AG in den Dienst verschiedener Herren stellten, wurden damals gebraucht â zumal es nicht nur innenpolitisch im deutschen Reich unruhig war. Besonders laut um UnterstĂŒtzung rief Sigismund, der König von Ungarn. Osmanische Krieger bedrohten sein Königtum, auch im Rest der abendlĂ€ndischen Welt grassierte die Angst vor der âTĂŒrkengefahrâ. Johannes Schiltberger eilte also Sigismund gemeinsam mit seinem Herrn Reichartinger zur Hilfe. Es war ein bunt zusammengewĂŒrfeltes christliches Heer, mit dem Johannes Schiltberger im September 1396 bei Nikopolis auf die Osmanen und ihre VerbĂŒndeten stoĂen sollte. Das christliche Abendland im Kreuzzug gegen die Heiden zu verteidigen â das war zuweilen eher ein vorgeschobenes Motiv, sagt die MediĂ€vistin Birgit Studt.Â
O-Ton 7 Studt
âDas kann man schon in Nikopolis sehen: Da ging es Sigismund natĂŒrlich darum, sein Reich zu schĂŒtzen. Diejenigen aber, die sich an diesem Kreuzzug beteiligten, hatten natĂŒrlich durchaus andere Motive. Und in der Berichterstattung ĂŒber Nikopolis kann man sehen, dass da ganz unterschiedliche Motivkomplexe verhandelt wurden. Und eigentlich gar nicht deutlich sichtbar wurde: War das tatsĂ€chlich ein Kreuzzug oder war es eben dann einfach auch ein traditioneller ritterlicher Kampf, der gesucht wurde. Um eben auch militĂ€rische BewĂ€hrung zu finden - oder zum Beispiel von Seiten der FĂŒrsten von Burgund sich als groĂer europĂ€ischer Player darzustellenâ.
Â
SPRECHERIN
Eigeninteressen sollten die Unternehmung zum Scheitern bringen: Als am 25. September im heutigen Norden Bulgariens die christlichen und osmanischen Armeen aufeinandertrafen, beharrten die französischen Ritter darauf, den ersten Angriff zu fĂŒhren. GegenĂŒber diesem Wunsch zeigte sich König Sigismund skeptisch, wie Johannes Schiltberger berichtet. Prompt geht die Sache schief.
Schiltberger gelang es zunĂ€chst, seinem Herren Reichartinger das Leben zu retten â doch war die Schlacht schnell verloren. Die Kreuzritter flĂŒchteten, König Sigismund wurde auf ein Schiff begleitet, das ihn nach Konstantinopel brachte. Viele andere versuchten ebenfalls ihr GlĂŒck mit einer Flucht ĂŒber das Wasser â doch vergebens.
ZITATOR
Sehr viele wollten auf die Schiffe, doch waren diese bald so voll, dass kein Platz mehr war. Versuchten doch noch welche, auf ein Schiff zu gelangen, so schlugen ihnen die, die schon darin saĂen, die HĂ€nde ab, so dass sie ertranken.â
SPRECHERIN
Ein Teil des Heeres â auch der Ritter Reichartinger - fiel in der Schlacht oder wurde auf der Flucht getötet...
ZITATOR
â...der gröĂere jedoch geriet in Gefangenschaft. So wurden auch (âŠ) zwei Adelige aus Frankreich gefangen. Auch der GroĂgraf von Ungarn und andere mĂ€chtige Herren, Ritter und Knechte, darunter ich, gerieten in Gefangenschaftâ.
ATMO
SPRECHERIN
Hans Schiltberger erlebte in der Folge einen Gewaltmarsch von rund 500 Kilometern - barfuĂ, gefesselt und unter sengender Sonne. Ăber Gallipoli unweit von Konstantinopel ging es ĂŒbers Meer nach Bursa, der damaligen Hauptstadt des osmanischen Reiches. FĂŒr die Qualen, die er erlitten haben muss, findet der Kriegsgefangene gerade einmal einen Satz: Er seiâŠ
Â
ZITATOR
âmit drei Wunden schwer verletzt, und man befĂŒrchtete, dass ich auf der Reise sterben könnteâ.
SPRECHERIN
Ăber seine GefĂŒhle angesichts eigener und fremder Qualen in Gefecht und Gefangenschaft verliert Johannes Schiltberger kein Wort.
SPRECHERIN
Ausgeblendet wird in dem Bericht auch, was Johannes Schiltberger spĂ€ter im Dienst morgenlĂ€ndischer Kriegsherren genau getan hat â und möglicherweise auch gegen seinen Willen tun musste. Mit Vorsicht kann man aus diesem Schweigen auch den Schluss ziehen, dass seine persönliche Rolle bei diesen kriegerischen Unternehmungen nicht unbedingt vorzeigbar war. Eine Lesart, der auch der Augsburger Historiker Christoph Paulus einiges abgewinnen kann.
O-Ton 9 Paulus
Dass er unter UmstĂ€nden auch fĂŒr Handlungen in der Fremde herangezogen worden ist, die alles andere als christlich waren â und mit seinem Weltbild vereinbar â das hat durchaus einiges fĂŒr sich...âÂ
TC 09:17 â Chronist, Augenzeuge oder Fiktion?
SPRECHERIN
Nachdem sich Johannes Schiltberger wohl im mehr oder weniger ritterlich ausgefochtenen Kampf als FuĂsoldat bewĂ€hrt hat, bekommt er ein Pferd. Ein Aufstieg, mit dem er die ErzĂ€hlperspektive wechselt. Er berichtet nun nicht mehr persönliche Erlebnisse, sondern von den FeldzĂŒgen unter dem Sultan Bayezid. Zwölf Jahre lang ist Schiltberger als Chronist dabei. Bayezid erobert wĂ€hrend dieser Zeit zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer Stadt fĂŒr Stadt â manchmal bietet er belagerten StĂ€dten Verhandlungen an â begleitet von unmissverstĂ€ndlichen Drohungen.
ZITATORÂ
âDanach ordnete der König an, Karamans Haupt auf einen SpieĂ zu stecken, und es daran herumzuzeigen, damit die anderen in der Stadt, wenn sie hörten, dass ihr Herr getötet wurde, sich desto eher ergeben wĂŒrden.
SPRECHERIN
Doch schlieĂlich wendet sich das KriegsglĂŒck gegen Sultan Bayezid: Im Kampf um Armenien unterliegt die osmanische Armee dem zentralasiatischen MilitĂ€rfĂŒhrer und Eroberer Timur. Johannes Schiltberger wird gefangen genommen - und muss fortan seinem neuen Herrn dienen. Dieser Furcht und Schrecken verbreitende Kriegsherr erobert nun weite Teile Vorder- und Mittelasiens. Schiltberger gelangt mit Timur bis nach Indien â wo sich die aufsehenerregende Episode mit den Kriegselefanten zutrĂ€gt. Timurs indischer Gegner verfĂŒgt ĂŒber Elefanten mit einem âŠ
ZITATOR
âturmartigen Aufbau, der mit wenigstens zehn MĂ€nnern besetzt istâ.
ATMO
SPRECHERIN
Timur â seinerzeit auch Tamerlan genannt - berĂ€t sich mit seinen Ratgebern, wie denn nun die Elefanten zu besiegen seien. Einer von ihnen hat die zĂŒndende Idee, wie man dem indischen König begegnen kann: Holz auf die Kamele binden!
ZITATOR
Tamerlan zog ihm entgegen, lieĂ die Kamele vorantreiben und das Holz auf ihnen anzĂŒnden. Die Kamele erhoben ein fĂŒrchterliches Geschrei, und als die Elefanten das hörten, und dazu das Feuer sahen, drehten sie um und flohen. Und keiner konnte sie aufhalten.âÂ
SPRECHERIN
Eine drastische Szene, die Historiker zumindest fĂŒr möglich halten. Auch Schlittenhunden und Giraffen will Schiltberger begegnet sein. Gern berichtet er von Schlangen â zuweilen aber kommt der selbsternannte Chronist auf Abwege â und erzĂ€hlt Begebenheiten, die aus heutiger Sicht völlig unglaubwĂŒrdig wirken. Schlangen, 8000 an der Zahl, die eine Stadt belagern â und von Sonnenaufgang bis -untergang miteinander kĂ€mpfen: Konterkariert das nicht den Anspruch dabei gewesen, ein glaubwĂŒrdiger Augenzeuge zu sein? FĂŒr den Historiker Christoph Paulus ist das nicht unbedingt ein Widerspruch.
O-Ton 10 Paulus
âGrundsĂ€tzlich ist Augenschau, die eigene Teilnahme an Ereignissen ein QualitĂ€tskriterium des Mittelalters fĂŒr Berichte. Auf der anderen Seite â und das hĂ€ngt sehr stark mit dem Adressatenkreis zusammen â sind so fabulöse, unterhaltsame, an AventĂŒren mittelalterlicher Ritter und an Heldengeschichten erinnernde Episoden, dass die Erwartungshaltung Schiltberger auch zur Ausformulierung dieser fabulösen Passagen gezwungen hat [âŠ].Â
SPRECHERIN
Auch Markus Tremmel, der Schiltbergers âIrrfahrt durch den Orientâ neu herausgegeben hat, glaubt nicht, dass es sich dabei quasi um einen Eins-zu-Eins Augenzeugenbericht eines Reporters handelt, der von vor Ort berichtet.
O-Ton 11 Tremmel
âBei seiner Beschreibung von Jerusalem etwa: Die ist aus anderen Berichten seiner Zeit eingeflochten. Das kann Schiltberger gewesen sein, aber auch ein Redakteur, der gesagt hat: âHans, da wĂ€rÂŽs jetzt gĂŒnstig, gleich einmal ein bisschen Jerusalem zu beschreiben...Wenn du da schon in der NĂ€he warstâ
SPRECHERIN
Von Hans Schiltbergers Bericht ist keine Original-Handschrift erhalten, betont Christoph Paulus. Der Text ist Forschern nur in spÀteren Handschriften und Drucken zugÀnglich.
O-Ton 12 Paulus
âEs handelt sich möglicherweise um einen âwachsenden Textâ Um einen Kern, der tatsĂ€chlich aus der Feder Schiltbergers stammt, haben sich im Laufe der Zeit weitere Texte von anderen Autoren gelegt: Immer im Spiel auch mit der Erwartungshaltung der Leser. [âŠ] Die Frage nach der FiktionalitĂ€t des Textes verknĂŒpft sich auch sehr stark mit der Frage nach der RealitĂ€t Schiltbergers. Also konkret: Hat er gelebt, oder ist er ein sprechender Name, eine Kunstfigur. ,SchiltbergerÂŽ â der sein Schild in Sicherheit bringt, und der sich hinter seinem Schild verbirgt. So könnte man seinen Namen deuten. Es gibt also durchaus einiges, was fĂŒr die FiktionalitĂ€t dieses Textes und damit auch die FiktionalitĂ€t Schildbergers sprichtâ.
MUSIKÂ Â
SPRECHERIN
Hat es diesen Johannes Schiltberger etwa möglicherweise nie gegeben? So einfach ist es nicht, sagt der Mittelalter-Forscher Paulus.
O-Ton 13 Paulus
âAuf der anderen Seite gehen das 15. und 16. Jahrhundert, ein Aventin, die gehen von einer realen Person Hans Schiltberger aus. Und der Text strahlt durchaus Kenntnisse ĂŒber Land und Leute aus, die aus eigenen Anschauungen zu erwachsen scheinen.âÂ
TC 14:48 â Andere LĂ€nder, andere Sitten
SPRECHERIN
Besonders plastisch beschreibt Johannes Schiltberger, der Christenmensch unter Heiden, religiöse Sitten und GebrÀuche der Muslime. Diese nehmen etliche Kapitel in seinem Reisebuch ein.
ZITATOR
âSie fasten den ganzen Tag, bleiben ohne Speise und GetrĂ€nk, bis die Sterne am Himmel stehenâ,
Â
SPRECHERIN
⊠schreibt er etwa ĂŒber den Fastenmonat Ramadan.
ZITATOR
âDie Heiden sagen auch, dass sie nach dem JĂŒngsten Tag mehrere Frauen haben werden, mit denen sie schlafen, doch bleiben diese immer Jungfrauenâ,
Â
SPRECHERIN
⊠heiĂt es an einer anderen Stelle. Markus Tremmel fasziniert dabei der unverstellte Blick Schiltbergers auf den Islam â just in einer Zeit, in der die DĂ€monisierung der Osmanen, die âTĂŒrkenfurchtâ begann.
O-Ton 14 TremmelÂ
âEr beschreibt das ganz neutral, auch interessiert: Was haben die fĂŒr Sitten und GebrĂ€uche? (âŠ) Das wertet er nie, sondern es scheint immer durch, dass er mit denen in interessierter Diskussion und Runde zusammengesessen ist.â
SPRECHERIN
Die Wahrnehmung, dass er sich in Gefangenschaft, in der Fremde befindet â die hat Johannes Schiltberger trotz seiner langen Abwesenheit vom Abendland nie verloren, sagt Markus Tremmel.
O-Ton 15 Tremmel
âWas in seinem Bericht immer ein bisschen durchscheint, ist, dass er sich stark zurĂŒcksehnt in die Christenheit. Also dort, wo er zu Hause ist.â
MUSIK
Â
SPRECHERIN
Am deutlichsten wird dies bei Johannes Schiltbergers letztem Fluchtversuch, der schlieĂlich erfolgreich sein wird. Bereits unter Bayezid war ein Ă€hnliches Unterfangen gescheitert â und hatte fĂŒr ihn mit Kerkerhaft geendet. Nun, Jahre spĂ€ter, hat sich Timurs einst eiserne Herrschaft lĂ€ngst in Stammesfehden seiner Söhne und Enkel aufgelöst. Im Zuge dieser Wirren verschlĂ€gt es Johannes Schiltberger nach Georgien. Dort beschlieĂt er, mit vier GlaubensbrĂŒdern zu fliehen. Â
ZITATOR
âWir sind Christen, die gefangen wurden, als der ungarische König vor Nikopolis unterlag, und mit Gottes Hilfe sind wir bis hierher gelangtâ,
SPRECHERIN
... erklĂ€rten Schiltberger und einige Schicksalsgenossen nun einer Bootsbesatzung an der KĂŒste des Schwarzen Meeres.
ZITATOR
âWenn wir ĂŒber das Meer kommen, dann haben wir die Hoffnung, doch noch zu unseren Familien und zu unserem christlichen Glauben zurĂŒckkehren zu können.â
ATMO
SPRECHERIN
Die Besatzung des Handelsschiffs erhört Schiltbergers Bitte â und bringt ihn nach Konstantinopel. Ăber die Walachei gelangt er nach Lemberg in der westlichen Ukraine, wo er noch einmal drei Monate krank darniederliegt.Â
ZITATOR
âVon da reiste ich weiter nach Eger, Regensburg und Landshut. SchlieĂlich erreichte ich Freising, wo ich geboren wurde. Mit der Hilfe Gottes bin ich endlich wieder nach Hause und zu meinem Glauben zurĂŒckgekehrt. Gott dem AllmĂ€chtigen und allen, die mir dabei halfen, sei gedankt. Ich hatte schon geglaubt, dass ich den Heiden und ihrem schlechten Glauben nicht mehr
entkommen könne.â
SPRECHERIN
Dies ist indes ein Satz, der Christoph Paulus aufhorchen lĂ€sst. Denn die Geschichte Johannes Schiltbergers wirft fĂŒr Mittelalter-Forscher eine gewichtige Frage auf...
MUSIK
O-Ton 16 Paulus
âWie konnte er drei Jahrzehnte in der Fremde bei einer anderen Religion ĂŒberleben? Es ist durchaus denkbar, dass er, um sein nacktes Leben zu retten, zum Islam konvertieren mussteâ.
SPRECHERIN
Vielleicht, sagt Christoph Paulus, steckt in Schiltbergers streitbarem VerhÀltnis zum Islam auch letztlich die Motivation, sein Reisebuch zu schreiben. Paulus steht folgende Szenerie vor Augen.
O-Ton 17 Paulus
âEr kommt nach Bayern zurĂŒck. Man fragt ihn natĂŒrlich, wo er gewesen ist â und er erzĂ€hlt seine Geschichte. Es werden an ihn Fragen gestellt, die in seinen Ohren natĂŒrlich auch wie VorwĂŒrfe geklungen haben mĂŒssen. Und man macht ihm vielleicht auch den Vorwurf, dass er sich allzu sehr an den Islam angenĂ€hert habe.
Und das Ganze fĂŒgt sich doch in ein apologetisches Bild, ein Rechtfertigungs-Bild dieses Reisebuchs. Das wĂ€re gleichermaĂen die AuĂenperspektive dieses Textes. Und nach Innen könnte sich Schiltberger sozusagen auch sich selbst gegenĂŒber und seinem Gott gegenĂŒber Rechenschaft ĂŒber sein Handeln und sein Tun abgelegt haben.â
TC 19:05 -Â Die Anziehungskraft des Schiltbergers
Â
SPRECHERIN
FĂŒr die Freiburger Professorin Birgit Studt kommt noch ein anderer Grund in Frage, warum Johannes Schiltberger seine Geschichte niedergeschrieben hat. Auch dieser hat mit seiner langen Abwesenheit zu tun. Schiltbergers Bericht könne man auch als einen TĂ€tigkeitsbericht in der Fremde, als eine Art Bewerbungsschreiben lesen.
O-Ton 18 Studt
âDas ist natĂŒrlich einfach auch ein formaler Ausweis seiner Fertigkeit. Die Dokumentation eben auch seiner Erfahrungen, mit denen er sich beispielsweise fĂŒr den diplomatischen Dienst in Stellung bringt. Das kann natĂŒrlich seine Person dann auch wertvoll machen fĂŒr den Hof- und FĂŒrstendienst.â
SPRECHERIN
Letztlich scheint der unfreiwillige Weltreisende Johannes Schiltberger - zurĂŒck in der Heimat - gut an- und auch untergekommen zu sein. Einer Notiz des bayerischen Geschichtsschreibers Aventinus zufolge wirkte er nach seiner RĂŒckkehr als KĂ€mmerer des Herzogs von Bayern-MĂŒnchen, Albrecht III. Sein weiterer Lebensweg, auch wann und wo er gestorben ist, bleibt im UngefĂ€hren â was die Anziehungskraft des geheimnisumwitterten Weltreisenden nur noch weiter steigert. FĂŒr den Moderator und Verleger Markus Tremmel ist Johannes Schiltberger gar sein âLieblingsbayerâ:
 O-Ton 19 Markus Tremmel, Journalist und Verleger
Das war ein sympathischer Mensch, er wertet nie, er beschreibt einfach, was er erlebt hat â auf eine nette, bescheidene, offen interessierte Art.â
SPRECHERIN
Der studierte Slavist Tremmel ist Schiltberger schon ein paar Mal auf der SeidenstraĂe gefolgt. Dessen Bericht sei auch 600 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein immer noch aktueller ReisefĂŒhrer.
ATMO
Wenn er gen Osten, nach Armenien, Georgien, Usbekistan oder in die TĂŒrkei reise, habe er daher immer seinen Schiltberger im GepĂ€ck, sagt Tremmel. Auch auf Laien und Forscher in diesen LĂ€ndern ĂŒbe Johannes Schiltberger bis heute eine Faszination aus.
O-Ton 20 Tremmel
âIch war vor ein paar Jahren einmal in Istanbul, bin da in einer UniversitĂ€tsbibliothek gesessen, und sehe da, wie neben mir so ein Wissenschaftler mit einem Text beschĂ€ftigt ist. Und wir kommen ins GesprĂ€ch - und er erzĂ€hlt, dass er gerade diesen Schiltberger da behandelt.â
SPRECHERIN
So wirkt Johannes Schiltberger mit seiner Geschichte noch heute als verbindendes Band zwischen Orient und Abendland.
TC 21:29 - Outro