Die Wall Street ist eine kleine Straße in Lower Manhattan, New York - und gleichzeitig der Inbegriff von Geld, Macht und Kapitalismus. In der Wall Street Nummer elf sitzt die größte Wertpapierbörse der Welt. Hier spekulieren Händlerinnen und Händler seit über 200 Jahren - mittlerweile täglich mit zig Milliarden Dollar. Wegen der exorbitanten Summen können Krisen der Wall Street, Börsen-Crashs, die ganze Welt erschüttern. Von Maike Brzoska (BR 2023)
Die Wall Street ist eine kleine Straße in Lower Manhattan, New York - und gleichzeitig der Inbegriff von Geld, Macht und Kapitalismus. In der Wall Street Nummer elf sitzt die größte Wertpapierbörse der Welt. Hier spekulieren Händlerinnen und Händler seit über 200 Jahren - mittlerweile täglich mit zig Milliarden Dollar. Wegen der exorbitanten Summen können Krisen der Wall Street, Börsen-Crashs, die ganze Welt erschüttern. Von Maike Brzoska (BR 2023)
Credits
Autorin: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Andreas Neumann, Diana Gaul, Benjamin Stedler, Clemens Nicol
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Boris Gehlen, Prof. Julia Rischbieter
Besonderer Linktipps der Redaktion:
ZDF – Terra X (2024): USA – Der Riss
Am 5. November 2024 wird bei den US-Präsidentschaftswahlen nicht nur über den nächsten Präsidenten, sondern auch über die demokratische Entwicklung des Landes entschieden. Vieles deutet darauf hin, dass diese, je nach Gewinner, sehr unterschiedlich verlaufen könnte. Dabei spielt der tiefe Riss, der die US-Gesellschaft durchzieht, eine wichtige Rolle. Jetzt, wo Donald Trump zum zweiten Mal zur Wahl steht, wird er besonders offensichtlich. In den Medien, vor Gericht, beim Beten, in Sachen Einkommen, Bildung und Ernährung. Und natürlich immer und überall beim Thema Race. ZUM PODCAST (externer Link)
Linktipps:
WDR (2020): Der große Crash – Die Wirtschaftskrise von 1929 in Deutschland
Am 24. und 25. Oktober 1929 stürzen an der New Yorker Börse Aktienkurse ins Bodenlose. Innerhalb kurzer Zeit werden gewaltige Vermögenswerte vernichtet: der "Schwarze Freitag" an der Wall Street. Nach den Jahren des Booms kann sich auch Deutschland dem Sog nicht entziehen. Der Film berichtet detailgenau, wie die Krise an den Börsen das alltägliche Leben veränderte. Eindrucksvoll erzählen Zeitzeugen von Not, Hunger und dem Verlust der Würde. Auch die Gier von Spekulanten ist Thema der Sendung.
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Deutschlandfunk Kultur (2016): Geld schläft nie – Ein Blick hinter die Kulissen der Wallstreet
Nach der Finanzkrise ist die Wallstreet wieder Ziel der Träume junger Ökonomen. Nicht jeder hält der exzessiven Arbeit stand. Unternehmen haben darauf reagiert. Sie verbieten Mitarbeitern, nachts E-Mails zu bearbeiten und verordnen einen freien Tag in der Woche. JETZT LESEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂĽr Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.Â
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Die Geschichte der Wall Street begann unter einem Baum – und zwar mit einem Versprechen:
ZITATOR
We the Subscribers do hereby solemnly promise, that we will not buy or sell from this day on any kind of Public Stock, at a less rate than one quarter percent Commission and that we will give a preference to each other in our Negotiations.
ZITATOR
Wir, die Unterzeichner, versprechen hiermit feierlich, dass wir von diesem Tag an keine Aktien zu einem geringeren Satz als einem Viertel Prozent Kommission kaufen oder verkaufen und dass wir uns gegenseitig den Vorzug geben werden.
SPRECHER
24 Männer unterzeichneten diese Vereinbarung im Mai 1792. Sie trafen sich unter einer Platane, einem buttonwood, deshalb spricht man vom Buttonwood Agreement. Es gilt als Gründungsdokument der mächtigsten Börse der Welt – die New York Stock Exchange, wie sie später heißen wird.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Die ersten Jahre – oder: Das Geld fließt in die Neue Welt
SPRECHERIN
Die Platane, unter der sich die Männer trafen, stand in der Wall Street im südlichen Manhattan. Die Straße heißt so, weil es dort tatsächlich einen Wall, also eine kleine Mauer gab.
SPRECHER
Ende des 18. Jahrhunderts begannen Händler dort Wertpapiere feilzubieten. Ihre Geschäfte machten sie in Kaffeehäusern, vor allem im Tontines Coffee House, Wall Street Nr. 85. Die Geschäfte gingen gut, aber immer wieder kam es zu Betrug und Tricksereien, schreibt Charles R. Geisst in seinem Buch „Geschichte der Wall Street“. Kurse wurden manipuliert, Gelder veruntreut. Das sollte sich ändern. Und so gründeten mit dem Buttonwood Agreement die 24 Unterzeichner eine Art Club. Mit bestimmten Regeln, festen Gebühren und Handelszeiten. Wer sich nicht daran hielt, flog raus.
SPRECHERIN
In der Anfangszeit konnte man in der Wall Street vor allem Staatsanleihen erwerben. Wer der jungen US-amerikanischen Bundesregierung Geld leihen wollte, brachte es zu den Händlern und bekam im Gegenzug das Versprechen, das Geld nach einer bestimmten Zeit zurückzubekommen, inklusive Zinsen versteht sich.
SPRECHER
Gleich die allererste Anleihe brachte dem Staat 80 Millionen Dollar ein – damals eine enorme Summe. Das Geld war aber auch nötig, denn die amerikanische Bundesregierung hatte sämtliche Schulden aus dem Unabhängigkeitskrieg übernommen.
MUSIK
SPRECHERIN
An Kapital mangelte es nicht. Amerika war für viele Menschen in Europa ein verheißungsvolles Land. Die junge Republik bot ausreichend Land und barg Unmengen an Rohstoffen wie Holz und Eisenerz. Das versprach riesige Gewinne. Viele wollten deshalb ihr Geld dort investieren – oder wanderten gleich selbst in die USA aus.
SPRECHER
Im Tontines Coffee House gab es täglich zwei Sitzungen, eine am Vormittag und eine am Nachmittag. Die zum Verkauf stehenden Wertpapiere wurden ausgerufen und die Händler gaben Gebote ab. Alle Verkäufe zusammen ergaben am Ende des Tages den Börsenkurs. Die Geschäfte liefen gut. In der Wall Street herrschte reges Treiben, sagt der Wirtschaftshistoriker Boris Gehlen. Er ist Professor an der Universität Stuttgart.
01 O-TON (Gehlen)
Man muss sich das tatsächlich sehr hektisch vorstellen, weils da eben in kurzer Zeit um sehr große Geldsummen ging, die dann bewegt werden sollten und eben auch um die Möglichkeit als Erster an einem Geschäft teilzunehmen.
SPRECHERIN
Um Geschäfte geordnet abwickeln zu können, führte man Verhaltensregeln für das Börsenparkett ein.
02 O-TON (Gehlen)
Bekannt ist aus den Regelwerken, dass man explizit verboten hat, ĂĽber das Parkett zu laufen, um dieser Hektik ein wenig entgegenzuwirken.
MUSIK
SPRECHER
Die Zahl der Wertpapiere stieg. Viele der damals neu gegründeten Eisenbahngesellschaften und Schifffahrtsunternehmen brauchten Kapital, das sie sich über die Börsen besorgten. Entweder über Anleihen oder über Aktien, also Anteile an ihrem Unternehmen.
SPRECHERIN
Die Händler verdienten sehr gut, deshalb zog die Wall Street viele Einwanderer an. Aber nicht jeder konnte Mitglied im exklusiven Club der New York Stock Exchange werden – denn dafür musste man schon einiges an Geld mitbringen.
03 O-TON (Gehlen)
Wenn wir uns die Mitgliedschaftskosten anschauen, dann war das das X-fache eines Jahresgehalts von Arbeitern. Also man musste eben erst einmal eine enorm hohe Summe an Geld überhaupt aufbringen, um dort handeln zu können.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Fragwürdige Geschäfte – oder: Kurse, die plötzlich purzeln
SPRECHER
Aber es gab auch kleinere Börsen und andere Wege, in der Wall Street Geld zu verdienen. Manche Händler versuchten, hoch spekulative Wertpapiere unter die Leute zu bringen. Die gab es nämlich schon damals. In den Kaffeehäusern waren sie nicht geduldet, deshalb handelten sie auf der Straße. Man nannte sie Curbstone Brokers, also Bordsteinhändler. Später ging daraus die American Stock Exchange hervor.
SPRECHERIN
Wobei fragwürdige Geschäfte überall vorkamen. Es wurden zum Beispiel Kurse manipuliert.
SPRECHER
Um trotzdem das Vertrauen in den Finanzmarkt aufrecht zu erhalten, drohte die New York Stock Exchange mit drastischen Strafen – eine staatliche Regulierung gab es zu dieser Zeit allerdings nicht.
05 O-TON (Gehlen)
Kläger waren Börsenhändler, die Beklagten waren Börsenhändler und die Richter waren Börsenhändler. Und da ging es dann um die Bewertung, ob Transaktionen mit den Regeln der New York Stock Exchange vereinbar waren oder nicht. Und wenn man zu dem Schluss kam, dass jemand gegen die Regeln verstoßen habe, konnten die Strafen sehr, sehr hart sein, bis hin zum dauerhaften Ausschluss von der Börse. Und damit ging einher faktisch die wirtschaftliche und soziale Existenzvernichtung. Und insofern war das natürlich ein Anreiz, sich doch weitgehend an die Regeln zu halten.
SPRECHERIN
Das dämmte die unlauteren Geschäfte an der Wall Street zwar ein. Dennoch kam es immer wieder zu Kursstürzen, und zwar während des gesamten 19. Jahrhunderts.
06 O-TON (Gehlen)
Und das hat dann mit dazu beigetragen, dass eben auch das Finanzsystem in den USA sehr häufig von Finanzkrisen geschüttelt war und dass auch die Spekulation doch andere Dimensionen als in europäischen Staaten angenommen hat.
SPRECHER
Schon damals zeigte sich ein Muster, das wir heute noch kennen: Boom and Bust, ĂĽbersetzt bedeutet das so viel wie: Aufschwung und Niedergang.
MUSIK
SPRECHERIN
1837 kam es beispielsweise zu einer Börsenpanik, die einen schwere Wirtschaftskrise nach sich zog. Vorausgegangen war ein Boom, der mit dem Indian Removal Act von 1830 begann. Das Gesetz sah die zwangsweise Umsiedlung und Deportation der indigenen Bevölkerung vor. Das freigewordene Land erzielte Höchstpreise. Eine Spekulationswelle setzte ein. Aktien von Eisenbahngesellschaften und Baumwollfirmen waren stark nachgefragt – in der Annahme, dass sie nun gute Geschäfte machen.
SPRECHER
Aber die Spekulationsblase platzte, nachdem die US-Regierung vorschrieb, dass Land nur noch mit Gold und Silber und nicht mehr mit Banknoten gekauft werden durfte. Das schränkte den Kreis der Käuferinnen und Käufer stark ein. Die Stimmung kippte. Alle wollten so schnell wie möglich ihre Wertpapiere loswerden. In der Wall Street gab es Tumulte. Soldaten marschierten auf, um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten.
SPRECHERIN
Ähnliche Börsenpaniken gab es 1857, 1869, 1873 und 1893. Häufig kam es danach zu Firmenpleiten und Wirtschaftskrisen. Denn Unternehmen geht das Geld aus, wenn Menschen ihre Unternehmensanteile, ihre Wertpapiere im großen Stil verkaufen. Es fehlt an Liquidität.
08 O-TON (Gehlen)
Was auch damit zu tun hat, dass wir bis 1913 eben kein Zentralbanksystem in den USA haben, keinen Lender of Last Resort, also jemand, der einspringen kann, wenn tatsächlich die Liquidität an den Märkten knapp wird.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Große Geschäfte – oder: Als Banker panisch wurden
SPRECHERIN
Die Industrialisierung veränderten die US-amerikanische Wirtschaft. Riesige Unternehmen entstanden – und machten einige Männer sagenhaft reich. Zum Beispiel Cornelius Vanderbilt, den man König der Eisenbahnen nannte, oder der John D. Rockefeller mit seinem Öl-Imperium.
SPRECHER
Gleichzeitig war der Kapitalbedarf groß. Die Zahl der Aktien nahm Ende des 20. Jahrhunderts stark zu. Aber auch große Bankhäuser wurden zu dieser Zeit gegründet. Viele davon hatten ihren Sitz in oder nahe der Wall Street.
09 O-TON (Gehlen)
Die beiden größten Bankhäuser Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war Kuhn, Loeb & Co. und der Gegenspieler war JP Morgan, also das große Bankhaus der Wall Street.
MUSIK
SPRECHERIN
John Piermont Morgan war der einflussreichte Banker seiner Zeit – er hatte fast überall seine Finger im Spiel über sein Bankhaus JP Morgan & Company, damals in der Wall Street Nr. 23, arrangierte er zahlreiche Fusionen und Übernahmen, zum Beispiel bei der United States Steel Corporation, der damals größten Aktiengesellschaft der Welt. Zeitweise hatten er und seine Partner von JP Morgan & Company mehr als 72 Aufsichtsratsmandate in 47 großen Gesellschaften inne.
SPRECHER
Morgan war es dann auch, der die Geschicke des Landes nach dem nächsten Börsensturz lenken sollte …
SPRECHERIN
Im Herbst 1907 gab es erneut einen Kurssturz an der Wall Street. Auslöser war ein gescheiterter Versuch von Augustus Heinze, Spross deutscher Einwanderer, Aktien seiner Firma zurückzukaufen. Er verspekulierte sich aber und scheiterte grandios.
SPRECHER
Die Banken, bei denen er sich Geld geliehen hatten und denen er es nicht mehr zurĂĽckzahlen konnte, gerieten in Zahlungsschwierigkeiten. Es folgten Bankruns, weil die Menschen ihr Geld in Sicherheit bringen wollten. Aktienkurse rauschten in den Keller, niemand vergab mehr Kredite. Bald reihte sich ein Konkurs an den anderen.Â
SPRECHERIN
Viele der kleineren Banken hatten ihr Geld bei den großen Banken angelegt. Vor allem bei JP Morgan. Eine Zentralbank, wo sie ihr Geld hätten parken können, gab es ja damals nicht. Als die kleineren Banken sich die Gelder vorzeitig auszahlen lassen wollten, weigerte sich JP Morgan zunächst. Eine und Bankenpleite folgte auf die nächste. Und so sagten JP Morgan und andere Banker letztlich doch zu, große Summen, auch aus eigenen Vermögen, als Darlehen bereitzustellen.
SPRECHER
Mehrere solche Rettungsaktionen waren nötig. Die Gespräche fanden zum Teil in Morgans Privatbibliothek statt. Der Patriarch soll viele Banker persönlich ĂĽberredet haben. Wobei er sie einmal auch einfach in seiner Bibliothek einschloss, bis eine Einigung gefunden war.Â
SPRECHERIN
Die sogenannte Bankers Panic blieb nicht ohne Folgen. Um dem offensichtlich gewordenen Machtvakuum zu begegnen, grĂĽndete man ein Zentralbankensystem in den USA, das Federal Reserve System, kurz Fed. Die New Yorker Dependance der Fed hat ihren Sitz in der Liberty Street, zwei Blocks von der Wall Street entfernt.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Die 1920er Jahre – oder: Beifall für die Wall-Street-Banker
MUSIK
SPRECHER
Wenige Jahre später der nächste Aufschwung. Es waren die Roaring Twenties, die wilden 20er Jahre. Der Wohlstand stieg merklich, die USA wurden zur Konsumgesellschaft. Man kaufte Radios, Telefone – und erstmals auch Wertpapiere. Das war jetzt nicht mehr nur wenigen Vermögenden und Bankern vorbehalten, denn nun hatten mehr Menschen etwas Geld übrig.
10 O-TON (Gehlen)
Und die haben im Grunde dann in Aktien investiert. Und dadurch stiegen die Kurse eben weiter an. Das hat dann neue Anleger immer wieder angezogen, so dass da das klassische Phänomen einer Überspekulation zu betrachten war.
SPRECHERIN
Mit steigenden Kursen stieg auch das Ansehen der Wall-Street-Mitarbeiter. Die Bewunderung und Popularität war so groß, dass sie morgens auf dem Weg zur Börse oder zur Bank von Touristen beklatscht wurden.
MUSIK
SPRECHER
Im Oktober 1929 folgte der Absturz. Und damit der berühmt-berüchtigte Schwarze Freitag – bzw. Black Thursday in den USA. Als möglicher Auslöser gilt der Bankrott eines Londoner Spekulanten, aber schon länger erwarteten viele auf eine Kurskorrektur. Was dann kam, übertraf allerdings die schlimmsten Erwartungen.
SPRECHERIN
Die Kurse der New Yorker Börse fielen ins Bodenlose. Zeitungen warnten davor, der Wall Street einen Besuch abzustatten. Die Bürgersteige dort seien nicht sicher, weil sich immer wieder Menschen aus dem Fenster stürzten.
SPRECHER
Auf den Börsen-Crash folgte die Great Depression, die Große Depression. In den USA war zeitweise knapp die Hälfte der Bevölkerung ohne Arbeit. Menschen hungerten. Die Kindersterblichkeit war hoch.
SPRECHERIN
Die Regierung unter Franklin D. Roosevelt reagierte Anfang der 1930er mit mehreren Gesetzen. Zum ersten Mal in der ĂĽber 100-jährigen Wall-Street-Geschichte wurde der Wertpapierhandel umfassend reguliert.Â
11 O-TON (Gehlen)
Im Zuge dessen wird die Securities Exchange Commission eingerichtet. Im Grunde als staatliche Börsenaufsichtsbehörde, weil man inzwischen dann doch gemerkt hat, dass es doch eine einheitliche Rahmensetzung benötigte.
SPRECHER
Daneben gab es mit dem Glass-Steagall-Act von 1933 ein Gesetz, das die Bankenlandschaft in den USA fundamental verändern sollte. Dieses Gesetz wird bis heute in anderen Ländern zitiert und diskutiert. Die Wirtschaftshistorikerin Julia Rischbieter. Sie ist Professorin an der Universität Konstanz.
12 O-TON (Rischbieter)
Der Glass-Steagall-Act sah vor, dass es eine strikte Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investitionsbanken geben sollte.
SPRECHERIN
Auf diese Weise trennte man das risikoreiche Geschäft der Investmentbanken von den Guthaben der Sparerinnen und Sparer. Und auch eine Einlagensicherung wurde eingerichtet, die Sparguthaben im Fall einer Bankenpleite schützt.
SPRECHER
Das Gesetz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt und blieb viele Jahrzehnte in Kraft, bis es 1999 unter Bill Clinton mehr oder weniger abgeschafft werden soll.
SPRECHERIN
Zurück zu den 1950ern: In dieser Zeit wurden Investmentfonds zum Verkaufsschlager. Solche Fonds bündeln verschiedene Wertpapiere, so dass auch Kleinanleger und Kleinanlegerinnen an verschiedenen Aktien teilhaben können.
SPRECHER
Und 1967 gab es noch ein Novum: Die erste Frau erhielt einen festen Sitz an der New York Stock Exchange - nach mehr als 170 Jahren Wertpapierhandel. Die Mitgliedschaft kostete übrigens knapp eine halbe Million US-Dollar – denn noch immer war der Börsenhandel den Reichen vorbehalten.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Der Aufstieg der USA – oder: Als Staatsschulden zur Ware wurden
SPRECHERIN
Auch auf der weltpolitischen Bühne änderte sich einiges für die USA. Das Land etablierte sich immer mehr als größte Handelsmacht und wurde von einer Schuldner- zu einer Gläubigernation. Sie verlieh und investierten also mehr Geld im Ausland als umgekehrt. Spätestens ab dieser Zeit war die Wall Street nicht mehr nur das Finanzzentrum Amerikas, sondern der Welt.
SPRECHER
Ein Beispiel für Auslandsinvestitionen war der sogenannte Eurodollarmarkt. Er entstand während der Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre. Die Preise für Erdöl stiegen zu dieser Zeit enorm an.
13 O-TON (Rischbieter)
Das bedeutet, dass die ölfördernden Länder auf einmal sehr hohe Gewinne machen. Und diese Ölförderländer hatten natürlich ein hohes Interesse, ihre Gewinne gut zu verzinsen und einzulegen bei Banken. Und das haben sie getan, vor allem bei europäischen Banken und New Yorker Banken.
SPRECHERIN
Um die Zinsen auf die eingelegten Gelder zahlen zu können, mussten die Banken es investieren. Es gab zu dieser Zeit allerdings an Überangebot an Kapital – die Banken wussten kaum, wohin damit.
14 O-TON (Rischbieter)
Und somit befanden sich ja diese großen Banken dann in der Situation, dass sie ja Verluste gemacht hätten. Sie hätten eigentlich Zinsen auszahlen müssen und hatten aber gar nicht die Gewinne dafür. Und in dieser spezifischen Situation haben sie angefangen, Ländern weltweit Kredite anzubieten, und diese Länder waren aber nicht unbedingt immer so kreditwürdig wie europäische Länder.
SPRECHER
Die Staatsverschuldung stieg zu dieser Zeit stark an, insbesondere in den lateinamerikanischen Staaten. Das wurde zum Problem, als die amerikanische Fed in den 1980er die Zinsen massiv anhob, wodurch sich die Kredite stark verteuerten. Als eines der ersten gab Mexico 1982 seine Zahlungsfähigkeit bekannt. Die Lage war für viele Staaten dramatisch.
15 O-TON (Rischbieter)
Die Folgen waren desaströs, weil alle Sozialindikatoren sich verschlechtert haben, also Kindersterblichkeit, Lebenserwartung. Und in Lateinamerika heißt das Jahrzehnt deshalb auch lost decade, also das verlorene Jahrzehnt.
SPRECHERIN
Als absehbar war, dass viele Länder ihre Schulden bei Banken, auch bei den Wall Street Banken, nicht bedienen konnten, suchte man auf internationaler Ebene nach Lösungen. Einige Kredite wurden umgeschuldet, Schuldenerlasse debattiert – und auch ein Mann der Wall Street machte einen Lösungsvorschlag. Er hieß Richard A. Debs, der spätere Gründer von Morgan Stanley International.
SPRECHER
Debs Idee war, die Kredite umzuwandeln in handelbare Anleihen. So konnten diejenigen sie kaufen, die große Risiken eingehen wollten. Internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank unterstützten das Vorhaben. Und so wurde der Plan 1989 umgesetzt – und viele Banken wurden ihre Kredite auf diese Weise los, während die verschuldeten Staaten zum Teil noch höhere Zinsen berappen mussten …
MUSIK
SPRECHERIN
Etwa zu dieser Zeit passierte der nächste Börsensturz, der heftigste seit über 50 Jahren. Der Handel mit den Wertpapieren wurde ausgesetzt, die Fed stellte Liquidität bereit, viele Unternehmen kauften eigene Aktien auf, um den Kurs zu stabilisieren. Das beruhigte die Lage.
SPRECHER
Nach diesem Börsensturz von 1987 gab es erneut eine Debatte über die Risiken, die von den Finanzmärkten ausgehen. Aber anders als früher sprachen sich nun viele nicht für mehr, sondern für weniger Regulierung aus. Das würde die Finanzmärkte sicherer machen, meinte etwa Alan Greenspan, lange Zeit Chef der amerikanischen Zentralbank.
16 O-TON (Rischbieter)
Er hat argumentiert, dass die bisherige Regulierung, die man habe, nicht nur ausreicht, sondern die würde eigentlich die Geschäfte behindern. Wenn wir diese verschiedenen Regularien aufheben, dann hätten wir eine Situation, in der nämlich die Banken eigenverantwortlich überhaupt handeln könnten und dann könnten sie sozusagen erstens mehr Gewinne machen und würden auch im Sinne des Staates besser handeln können.
SPRECHERIN
Das führte letztlich zur Abschaffung des Trennbankensystems, das mit dem Glass-Steagall-Act eingeführt worden war, und zu weiteren Liberalisierungen der Finanzmärkte.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Finanzinnovationen – oder: Rettungsschirme für die Banken
MUSIK
SPRECHER
Die Geschäfte weiteten sich aus, immer neue Finanzprodukte wurden an der Wall Street ersonnen. Derivate wurden der Renner. Damit kann man zum Beispiel auf Kursentwicklungen wetten. Solche hoch spekulativen Wertpapiere gab es schon länger, aber ab den 1990ern wurden sie im großen Stil gehandelt.
SPRECHERIN
Mit Derivaten kann man auch fallende Kurse setzen, deswegen gab es die Vorstellung, sie würden die Finanzmärkte sicherer machen. Das Gegenteil war allerdings der Fall. Es kam zur Dotcom-Blase, investiert wurde in alles, was mit dem damals neuartigen Internet zu tun hatte. Die Blase platzte im Jahr 2000.
SPRECHER
Wenige Jahre später folgte die weltweite Finanzkrise. Auslöser war eine geplatzte Immobilienblase in den USA. Dort hatten sich viele Menschen teils ohne Vermögen oder Einkommen Häuser auf Kredit gekauft. Man hielt diese „Risiken“ für beherrschbar, weil man sie als komplexe Wertpapiere handelbar machte und in die ganze Welt verkaufte. Das funktionierte allerdings nur solange, wie die Preise am Häusermarkt nicht fielen – was 2007 aber der Fall war. Einige kleinere Banken gingen Pleite – und drohten größere mitzureißen.
MUSIK
SPRECHERIN
Regierungen unterstützten sie und stellten Liquidität bereit. Sie schossen also Geld in astronomischem Ausmaß zu, indem sie milliardenschwere Rettungsschirme aufspannten. Die Banken seien too big to fail hieß es, sie würden ganze Volkswirtschaften mit in den Abgrund reißen. Teilweise überforderte das die Staaten. Aus der Finanzkrise wurde erst eine Euro- und dann mancherorts eine Staatsschuldenkrise, zum Beispiel in Griechenland. Zeitweise war knapp ein Drittel der Menschen in Griechenland ohne Arbeit. Sozialausgaben wurden zusammengestrichen, Krankenhäuser geschlossen, viele Menschen wurden obdachlos.
SPRECHER
Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, senkten Zentralbanken weltweit die Zinsen auf neue Tiefststände. Das sollte die Kreditvergabe stimulieren. Auch viele Kleinanlegerinnen und Kleinanleger investierten ihr Geld, weil das Ersparte auf der Bank keine Zinsen mehr einbrachte – der nächste Börsenboom.
SPRECHERIN
Und ist das nun das Ende der Geschichte? Keineswegs. Denn wenn man eines aus der Geschichte der Wall Street lernen kann, dann das: Auf jeden Boom folgt ein Bust, nach jedem Aufschwung kommt ein Niedergang. Bleibt die Frage, wann es soweit ist – und wie schlimm es dann wird.
MUSIK