Alles Geschichte - History von radioWissen   /     WACHSTUM UND PLEITE - Die groĂźen Strategien der Wirtschaftspolitik

Description

It's the economy, stupid! Bill Clinton hat diesen Ausdruck in den 1990ern im US-Wahlkampf berühmt gemacht. Er beschreibt, dass vor allem die Wirtschaftslage darüber entscheidet, ob ein Politiker gewählt wird oder nicht. Weil die Wirtschaft so zentral ist, versuchen auch Ökonominnen und Ökonomen Einfluss auf sie zu nehmen - und hatten immer wieder neue Ansätze, um die Wirtschaft in den Griff zu kriegen. Von Maike Brzoska (BR 2023)

Subtitle
Duration
00:23:38
Publishing date
2024-10-18 13:35
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/wachstum-und-pleite-die-grossen-strategien-der-wirtschaftspolitik/2098791
Contributors
  Maike Brzoska
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2098791/c/feed/wachstum-und-pleite-die-grossen-strategien-der-wirtschaftspolitik.mp3
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Shownotes

It's the economy, stupid! Bill Clinton hat diesen Ausdruck in den 1990ern im US-Wahlkampf berühmt gemacht. Er beschreibt, dass vor allem die Wirtschaftslage darüber entscheidet, ob ein Politiker gewählt wird oder nicht. Weil die Wirtschaft so zentral ist, versuchen auch Ökonominnen und Ökonomen Einfluss auf sie zu nehmen - und hatten immer wieder neue Ansätze, um die Wirtschaft in den Griff zu kriegen. Von Maike Brzoska (BR 2023)

Credits
Autorin: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Frank Manhold, Maren Ulrich
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Peter Spahn, Prof. Alexander NĂĽtzenadel, Katrin Hirte

Besonderer Linktipps der Redaktion:

mdr aktuell & hr (2024): Wendehausen – Heimat im Todesstreifen

Zu DDR-Zeiten lag das Dorf Wendehausen im Sperrgebiet der innerdeutschen Grenze. Das Grenzregime der DDR war hart, die Kontrollen scharf. Zeitzeugen berichten von Vertreibung, Flucht und zerstörten Existenzen. Wendehausen an der thüringisch-hessischen Grenze hat eine Vielzahl von dramatischen Familiengeschichten zu bieten, voll von Brüchen, Tragik und teilweise Tod. Dieser Podcast zeichnet die Geschichte des Ortes und der Menschen im Todesstreifen nach. Es geht auch darum, wie die DDR-Geschichte die Menschen vor Ort bis heute prägt. Und was das über das Ost-West-Verhältnis aussagt, 35 Jahre nach dem Fall der Mauer. ZUM PODCAST

Linktipps:

Deutschlandfunk Kultur (2024): Verliert Deutschland Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit?

Die deutsche Wirtschaft rutscht tiefer in die Krise. Die Industrie will die Transformation zur Klimaneutralität, fordert aber einen klaren politischen Rahmen und bessere Infrastruktur. Kann das Konzept soziale Marktwirtschaft den Standort retten? JETZT ANHÖREN

ARD alpha (2022): Arbeit, Zins und Geld – Keynesianismus

Nichts hat den britischen Ökonomen John Maynard Keynes mehr geprägt als die Folgen der dramatischen Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den vielen Millionen Arbeitslosen war sein Glaube an den Kapitalismus jedoch nicht erschüttert. Doch statt auf die Selbstheilungskräfte des freien Marktes, setzte er lieber auf die wirtschaftliche Gestaltungskraft des Staates. Der Staat sollte das ewige Auf und Ab zwischen Wirtschaftskrise und -boom entschärfen. Vor allem in den 50er, 60er und 70er Jahren bestimmte die von Keynes angeregte Wirtschaftspolitik die weltweiten Märkte. Vollbeschäftigung, Wachstum und Stabilität  - war dies endlich ein verlässliches Programm für die Zukunft? JETZT ANSEHEN



Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂĽr Geschichts-Interessierte:


Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. 

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

ZITATOR
Die Ideen der Ökonomen und Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger als man im Allgemeinen glaubt. Um die Wahrheit zu sagen, es gibt nichts anderes, das die Welt beherrscht.

SPRECHERIN
Ideen von Ökonomen und Philosophen sollen die Welt beherrschen – eine merkwürdige Aussage. War es Größenwahn, was John Maynard Keynes zu dieser Aussage veranlasste? Jedenfalls gilt der Brite gilt als einflussreichster Ökonom des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen haben nicht nur die Wirtschaftstheorie revolutioniert, sondern hatten auch ganz praktischen Einfluss auf die Politik, genauer: auf die Wirtschaftspolitik. Keynes hat seine Theorie vor gut hundert Jahren entworfen. Anlass waren die damaligen Krisen, sagt der Ökonom Peter Spahn. Er ist emeritierter Professor der Universität Hohenheim.

01 O-TON (Spahn)
Der Börsencrash und die Große Depression, die danach kam, das bildete sicherlich den Anstoß für die Keynsche Theorie. Das war so eine Art Anschauungsmaterial für ihn. Aber auch schon in den 1920er Jahren war die englische Wirtschaft durch anhaltende Arbeitslosigkeit geprägt, und das hat Keynes eigentlich auch umgetrieben.

SPRECHERIN
Wie funktioniert eine Volkswirtschaft? Wenn man so will, ist sie das Ergebnis von zig Tausenden Entscheidungen, die wir alle täglich treffen. Was kaufe ich ein? Wie viel gebe ich dafür aus? Soll ich mehr sparen? Oder, von der Warte von Unternehmerinnen und Unternehmer aus betrachtet: Zu welchem Preis biete ich meine Waren an? Investiere ich in neue Maschinen oder muss ich demnächst Mitarbeitende entlassen? Ökonominnen und Ökonomen sind nun diejenigen, die verstehen wollen, wie das alles zusammenhängt. Das beschäftigte auch Keynes.
 
02 O-TON (Spahn)
Keynes kam zu der Einsicht, dass es gar keine ĂĽberzeugende Theorie ĂĽber die normale Funktionsweise der Gesamtwirtschaft gab. Und das hat ihn umgetrieben und ihn dann dazu gebracht, 1936 seine Allgemeine Theorie vorzulegen.

SPRECHERIN
Um zu verstehen, was Keynes Ideen so revolutionär machte, muss man wissen, wie man sich das Zusammenspiel in der Wirtschaft vorher vorgestellt hat.

03 O-TON (Spahn)
Es gab immer so die Idee, na ja, die Volkswirtschaft reguliert sich selber. Das ist ja die Idee einer Marktwirtschaft. Wenn einzelne Märkte im Ungleichgewicht sind, wenn es irgendwie ein Überangebot von bestimmten Gütern gibt, dann vertraut man darauf, dass die Preise sich entsprechend anpassen. Und so funktioniert das gewissermaßen im Sinne einer Selbstregulierung.

SPRECHERIN
Ein Beispiel: Nehmen wir an, auf einem Markt ist das Angebot an Broten größer als die Nachfrage. Dann senken die Bäckerinnen den Preis, damit die Markbesucher denken; oh, wie günstig! und ein paar Brote mehr kaufen. Am Ende sind trotz des übergroßen Angebots alle Brote verkauft und für den nächsten Markttag backen die Bäckerinnen ein paar weniger. So regulieren sich Angebot und Nachfrage über den Preis, der Knappheit oder Überfluss signalisiert. Der Markt ist am Ende wieder im Gleichgewicht. Diese Art der Selbstregulation ist eine der grundlegenden Ideen von klassischen ökonomischen Denkern wie Adam Smith oder Jean-Baptiste Say. Keynes beobachtete allerdings, dass sich die Gesamtwirtschaft nicht unbedingt mit einzelnen Märkten vergleichen lässt.

04 O-TON (Spahn)
Und dann stieĂź er auf zwei zentrale Gegenargumente in Bezug auf den Glauben, dass sich das alles gesamtwirtschaftlich selbstreguliert.

SPRECHERIN
Eines seiner Argumente bezog sich auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeit ist, wenn man so will, die Ware, die auf diesem Markt angeboten wird. Der Lohn ist der Preis der Arbeit. Nach der klassischen Logik sinken die Löhne, wenn es Arbeitslosigkeit gibt – denn es gibt mehr Menschen, die Arbeit suchen. Die niedrigeren Löhne führen nun dazu, dass mehr Menschen eingestellt werden. Für die Unternehmen mag das erst mal Sinn machen, allerdings haben sinkende Löhne – gesamtwirtschaftlich betrachtet – auch noch andere Effekte, so Keynes.

05 O-TON (Spahn)
Er hat gesagt, gerade wenn die Löhne bei Arbeitslosigkeit sinken, macht das die Sache möglicherweise schlimmer. Weil wenn die Löhne sinken, dann sinken natürlich auch die Haushaltseinkommen der Arbeitnehmer, dann geht der Konsum zurück und das vertieft wieder die Krise. Das bedeutet, was die Unternehmen bei den Kosten durch sinkende Löhne an Entlastung gewinnen, das verlieren sie dann auf der Nachfrageseite, weil eben der Konsum zurückgeht.

MUSIK

SPRECHERIN
Daneben zeigte Keynes, dass auch der Geldmarkt besonders ist und gesamtwirtschaftliche Auswirkungen hat. Heute sind solche Zusammenhänge bekannt – vor gut hundert Jahren war das anders.  Da sahen Politiker dem Abwärtstrend, der in die Große Depression führte, weitgehend untätig zu. Am Ende lag in zahlreichen Ländern der Welt die Wirtschaft brach und die Menschen verzweifelten, viele hungerten auch. Eine traumatische Erfahrung. Aber der Rat lautete damals eben: Stillhalten, Krisen gehen vorbei – und können sogar positive Effekte haben. Sagt der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel. Er ist Professor am Institut für Geschichtswissenschaften der Berliner Humboldt Universität.

06 O-TON (NĂĽtzenadel)
Das Problem war natürlich auch, dass man eine solche Krise bislang noch nie erlebt hatte und deswegen nicht wusste, was für Folgen sich daraus ergeben können. Aber tatsächlich war das für viele der damaligen Akteure eigentlich selbstverständlich zu sagen: Wir müssen durch diese Krise durchgehen und sie hat auch reinigende Effekte und danach stehen wir eigentlich wieder besser da.

SPRECHERIN
Von sogenannten Reinigungskrisen war damals die Rede. Erst die Theorien von Keynes lieferten das Verständnis für makroökonomische, das heißt gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge – und damit auch Instrumente, um eine Volkswirtschaft zu beeinflussen. Deshalb hielten Keynes Ideen in vielen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg Einzug in die Wirtschaftspolitik. Hierzulande allerdings sollte es noch etwas dauern– Keynes Ideen der gesamtwirtschaftlichen Steuerung waren vielen Politikern in der Bundesrepublik sehr suspekt.

07 O-TON (Spahn)
Das galt merkwürdigerweise in Deutschland als geradezu planwirtschaftlich verdächtig. Und die damals herrschende Partei, die CDU, war also strikt dagegen.

SPRECHERIN
Insbesondere CDU-Kanzler Konrad Adenauer, ab 1949 Bundeskanzler, war es wichtig, sich von den Planwirtschaften der DDR und des Ostblocks abzugrenzen.

08 O-TON (NĂĽtzenadel)
In den 50er Jahren hatten viele den Eindruck, dass die Planwirtschaften des kommunistischen Bereichs durchaus in der Lage waren, Investitionen gezielt auf bestimmte Wachstumsfaktoren zu lenken und dass da vielleicht sogar mehr Wachstum entstehen könnte als im Westen. Also es gab durchaus so eine Art von Wettbewerb zwischen Ost und West.

SPRECHERIN
Die zentral geplante Wirtschaft der DDR wollte man mit einer Marktwirtschaft übertrumpfen. Allerdings gab es auch in der Bundesrepublik die Überzeugung, dass eine Marktwirtschaft einen starken ordnungspolitischen Rahmen braucht. Der sogenannte Ordoliberalismus war zu dieser Zeit in der Bundesrepublik dominierend. Nach dieser Spielart hält sich der Staat aus dem Markt raus, setzt also auf die Selbstregulierung von Angebot und Nachfrage. Dennoch spielt der Staat im Ordoliberalismus eine wichtige Rolle, denn er legt die Regeln für den Markt fest.

09 O-TON (NĂĽtzenadel)
Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu setzen, um etwa fairen Wettbewerb zu ermöglichen oder auch eine Vermachtung von großen Unternehmen zu verhindern.

SPRECHERIN
Denn eine Vermachtung von Unternehmen, also eine Machtanhäufung, geht in der Regel zulasten von Verbraucherinnen und Verbraucher. Noch mal das Beispiel Wochenmarkt: Wenn alle Bäckerinnen sich absprechen und darauf einigen, einen doppelt so hohen Preis zu verlangen, haben die Käufer das Nachsehen. Das „Brotkartell“ hat den Wettbewerb außer Kraft gesetzt. Solche Kartelle wollte insbesondere der CDU-Politiker Ludwig Erhard verhindern. Der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler war in der Nachkriegszeit zuständig für die Wirtschaftspolitik in den westlichen Besatzungszonen.

10 O-TON (Hirte)
Das Gesetz gegen Marktmacht-Missbrauch – das sind Kartelle, das sind Syndikate – das war sein Kind, was er gegen alle Widerstände damals durchgesetzt hat.

SPRECHERIN
Sagt die Soziologin Katrin Hirte. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft der Universität Linz. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg musste vieles neu gedacht und umgebaut werden, auch staatliche Institutionen und Regeln für die Märkte. Erhard wollte einen starken Rahmen setzen, wandte sich aber gegen jedwede Umverteilung, etwa in Form eines Rentensystems.

11 O-TON (Hirte)
Weil die Wirtschaft ja so eingerichtet ist, dass sie sich die Menschen ja selber versorgen können. Weil jeder wird ja in einer funktionierenden Marktwirtschaft reich und nimmt Anteil. Wir brauchen diese ganzen Versorgungssysteme gar nicht.

SPRECHERIN
So Erhards BegrĂĽndung. Auf Druck von CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer musste Erhard allerdings Alfred MĂĽller-Armack, Professor fĂĽr Wirtschaftspolitik, in seine Grundsatzabteilung holen. Und MĂĽller-Armack sprach sich fĂĽr Umverteilungen aus.

12 O-TON (Hirte)
Deswegen nennt man ihn dann den Erfinder der sozialen Marktwirtschaft.

SPRECHERIN
Die neue Ordnung in der Bundesrepublik sollte laut Müller-Armack…

ZITATOR
… das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbinden.

SPRECHERIN
Die soziale Marktwirtschaft gilt als zentrale Errungenschaft der jungen Bundesrepublik. Auch andere Institutionen, die das Land bis heute prägen, entstanden zu dieser Zeit. Zum Beispiel die Bundesbank, die – anders als etwa in Frankreich oder in Italien –, allein der Stabilität der D-Mark verpflichtet war und nicht etwa noch die Konjunktur im Blick haben sollte.

13 O-TON (NĂĽtzenadel)
Das war eine Grundsatzentscheidung, die gerade von vielen Ordoliberalen gefordert wurde.

SPRECHERIN
Einen Paradigmenwechsel gab es hierzulande Mitte der 1960er Jahre. Eingeleitet 1963 mit Gründung des Sachverständigenrates, den sogenannten Wirtschaftsweisen.

ZITATOR
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen: Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (…) wird ein Rat von unabhängigen Sachverständigen gebildet.

14 O-TON (Spahn)
Und dieser Sachverständigenrat hatte ja auch die Aufgabe, die Grundlagen einer makroökonomischen Politik zu entwerfen, um konkrete Dinge dem Staat auch vorzuschlagen. Und auf der anderen Seite gab es dann das sogenannte Stabilitätsgesetz von 1967.

MUSIK

SPRECHERIN
Im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz waren vier Ziele für die Wirtschaftspolitik festgeschrieben, das ist das sogenannte Magische Viereck:

ZITATOR
Vollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wirtschaftswachstum

SPRECHERIN
Angemessenes Wirtschaftswachstum bedeutete: nicht zu viel und nicht zu wenig wachsen. Dahinter steckt die Annahme, dass man die Konjunktur entsprechend steuern kann.

15 O-TON (NĂĽtzenadel)
Natürlich geht es auf die Vorstellung zurück, die auch durch Keynes in den dreißiger Jahren geprägt worden ist, dass der Staat durch eine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die wirtschaftliche Entwicklung stabilisieren und auch langfristig positiv beeinflussen kann. Das ist sozusagen das Keynesianische Modell, das hier 1967 auch in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat.

SPRECHERIN
Keynes Ideen passten gut in die Zeit, die geprägt war von allgemeinem Fortschrittsoptimismus. Das konjunkturelle Auf und Ab der Wirtschaft, so hoffte man, gehört der Vergangenheit an. Von nun an sollte es dauerhaft angemessenes Wachstum geben. Erreichen wollte man das vor allem mit der antizyklischen Konjunkturpolitik.

MUSIK

16 O-TON (Spahn)

Das heißt ganz praktisch: Wenn wir eine schwache Konjunktur haben, dann soll der Staat also mehr Geld ausgeben, Budgetdefizite zulassen …

SPRECHERIN
… um die schwächelnde Konjunktur durch mehr Nachfrage anzukurbeln. Zum Beispiel durch Steuersenkungen, damit die Menschen mehr Geld zum Einkaufen haben, oder indem der Staat selbst Waren nachfragt.

17 O-TON (Spahn)
Aber in der Hochkonjunktur soll er gewissermaßen Kaufkraft stilllegen. Er soll also die Steuern vielleicht ein bisschen erhöhen und soll dazu beitragen, die Nachfrage zu bremsen.

SPRECHERIN
Ein schöner Plan – allerdings kam bald schon Ernüchterung auf.

18 O-TON (NĂĽtzenadel)
Man merkte schon in den frĂĽhen 70er Jahren, dass es sehr schwer war, alle vier Ziele gleichzeitig zu erreichen. Das hing damit zusammen, dass durch die Ă–lpreiskrise ein exogener Schock, ein Angebotsschock, in die Wirtschaft getragen wurde, den man durch eine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, und das ist ja der keynesianische Ansatz, nicht begegnen konnte.

SPRECHERIN
Durch die stark steigenden Ölpreise 1973 und 1979 gerieten viele Länder, auch die Bundesrepublik, in schwere wirtschaftliche Krisen. Die ohnehin schon hohe Inflation stieg weiter an.

19 O-TON (NĂĽtzenadel)
Man hatte dann die berühmte Stagflation der 70er Jahre, wo hohe Inflationsraten und stagnierendes Wirtschaftswachstum zusammen auftreten, und damit auch diese ganze keynesianische Konzeption doch sehr stark in die Kritik gerät.

SPRECHERIN
Unter anderem weil die keynesianische Politik die Inflation durch die zusätzliche Nachfrage tendenziell noch weiter verschärft. Hinzu kam, dass es zunehmend Einflüsse von außen gab, nicht nur in Form von exogenen Schocks wie der Ölpreiskrise, sondern auch in Form von internationalen Handels- und Finanzströmen, die immer weiter zulegten. In dieser Zeit kam es zum nächsten Paradigmenwechsel.

20 O-TON (NĂĽtzenadel)
Die Bundesbank hat im Grunde in den frĂĽhen 70er Jahren schon eine monetaristische Wende vollzogen ab 1973, auch wegen der hohen Inflation.

SPRECHERIN
Der Monetarismus ist gewissermaßen der Gegenentwurf zum Keynesianismus. Hinter diesem Konzept steht vor allem der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman. Der Monetarismus geht davon aus, dass es langfristig zum besten wirtschaftlichen Ergebnis kommt, wenn der Staat sich raushält.

21 O-TON (NĂĽtzenadel)
Diese kurzfristige Steuerung von Konjunktur, das war ja die Idee von Keynes, die lehnte man ab, sondern man sagte eben, wir mĂĽssen eigentlich nur ganz langfristig die Geldmenge so wachsen lassen, dass es sich dem Wachstum der Realwirtschaft anpasst.

SPRECHERIN
Die Geldmenge sollte so gesteuert werden, dass es weder zu Inflation noch zu Deflation kommt. Denn sowohl sinkende als auch stark steigende Preise schaden der Wirtschaft, so die Meinung der Monetaristen. Darüber hinaus sollte die Wirtschaftspolitik aber möglichst wenig eingreifen und stattdessen auf die Selbstregulation der Märkte setzen. Diese Idee verfolgten ab 1976 auch die Wirtschaftsweisen, als sie den Begriff der Angebotspolitik in die Debatte einbrachten. Angebotspolitik bedeutet, dass man die Unternehmensseite langfristig stärkt.

22 O-TON (Spahn)
Was bedeutet das praktisch? Es geht darum, genügend Arbeitsangebot, genügend Bildung, genügend Forschung, genügend technischen Fortschritt, genügend Energie in der Volkswirtschaft zu haben, aber auch so schwierige Dinge zu fördern wie die Bereitschaft, unternehmerische Risiken zu tragen und anderes mehr.

SPRECHERIN
Der Fokus liegt also auf der Seite von Unternehmerinnen und Unternehmern. Wie das konkret aussah, war je nach Land verschieden.

23 O-TON (Spahn)
Wir unterscheiden bei der Angebotspolitik noch mal zwei Spielarten. Diese englische und amerikanische Variante, das ist im Grunde genommen so eine Art Deregulierungsstrategie, oder man kann auch sagen Privatisierungsstrategie. Die These war, der Staat sei eigentlich eine Wachstumsbremse. Seine vielfältigen Regulierungen würden die privaten Aktivitäten bremsen und man müsse den Staat aus vielen Bereichen zurückziehen.

SPRECHERIN
Bekannt für diese Spielart sind insbesondere die britische Premierministerin Margret Thatcher und der US-Präsident Ronald Reagan. Aber auch in der Bundesrepublik wurden in den 1980ern und 90ern viele Märkte privatisiert, zum Beispiel der Telefonmarkt.

24 O-TON (Spahn)
Wir hatten ja in den 80er Jahren noch das staatliche Telefon, und das kann man sich heutzutage ja gar nicht mehr vorstellen, dass wenn man ein Telefon haben wollte, dann musste man einen Antrag stellen. Der wurde dann nach ein paar Monaten auch bestätigt und nach weiteren Monaten kam dann ein Techniker von der Post und stellte uns diesen staatlichen Apparat dahin. Das war eine staatliche, eine hoheitliche Angelegenheit.

SPRECHERIN
In der Bundesrepublik und mehr noch in Frankreich gab es aber auch noch eine zweite Spielart.

25 O-TON (Spahn)
Da kann man sagen, Angebotspolitik geht in Richtung von Industriepolitik oder vielleicht sogar in Planification. Da ist die Idee, dass der Staat bestimmte Bereiche als zukunftsträchtig einschätzt und sich aktiv dafür einsetzt, dass die Firmen in diesem Bereich was machen, also etwa heutzutage Halbleiter-Produktion oder Chip-Produktion.

MUSIK

SPRECHERIN
Ab 2008 dann die große weltweite Finanzkrise. Die Preise auf dem US-Immobilienmarkt brachen ein, Immobilienfinanzierer gingen Pleite, das brachte auch Banken und Versicherungen in große Schwierigkeiten. Die Staaten spannten milliardenschwere Rettungsschirme auf – und mussten in den Jahren danach teils selbst gerettet werden. Nicht wenige fragten sich danach: Wie konnte das passieren? So auch die britische Queen Elizabeth II, die auf einer Veranstaltung der renommierten Londoner School of Economics fragte:

ZITATORIN (britischer Akzent)
Why did nobody see this coming?

SPRECHERIN
Ja, warum hat niemand die Krise kommen sehen? Hatten Ökonominnen und Ökonomen zu sehr auf die Selbstregulation der Märkte vertraut? Braucht es vielleicht eine neue Theorie, ähnlich wie nach der Großen Depression? Peter Spahn meint Nein.

26 O-TON (Spahn)
Die Finanzkrise war ein Betriebsunfall innerhalb des Banksystems, allerdings dann mit desaströsen Folgen für die Gesamtwirtschaft. Aber man brauchte eigentlich keine makroökonomisch neuen Theorien, um zu verstehen, welche Folgen diese Finanzkrise hatte. Das war eben ein wichtiger Unterschied zu den dreißiger Jahren.

SPRECHERIN
Während der Finanzkrise und auch während Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg zeigte sich aber erneut ein Umdenken. Denn anders als früher ist Wirtschaftspolitik heute recht pragmatisch.

27 O-TON (NĂĽtzenadel)
Die meisten versuchen eigentlich undogmatisch an solche Fragen heran zu treten, ich wĂĽrde sagen, das Fach hat sich insgesamt sehr stark pluralisiert. Man versucht ganz pragmatisch einzelne Elemente herauszugreifen.

SPRECHERIN
Zwei Beispiele: Als die Konjunktur während der Corona-Pandemie einzubrechen drohte, beschloss die Regierung kurzerhand den Konsum über eine Senkung der Mehrwertsteuer anzukurbeln – das ist klassische Nachfrage-Politik im Sinne von Keynes. Auf der anderen Seite sollen ein verändertes Einwanderungsgesetz und der Zuzug von Fachkräften langfristig die wirtschaftlichen Aussichten von Unternehmen, also der Angebotsseite stärken.

28 O-TON (NĂĽtzenadel)
Insofern wĂĽrde ich sagen, es gibt diese Schulen in dem Sinne heute nicht mehr, wie wir sie frĂĽher beobachtet haben.

SPRECHERIN
Vielleicht auch, weil ihre VerheiĂźungen ein StĂĽck weit entzaubert worden sind im Laufe der Jahrzehnte.

29 O-TON (NĂĽtzenadel)
Die Nachkriegszeit war schon von einem sehr großen Optimismus geprägt, dass man Wirtschaft steuern könnte, dass man wirtschaftliches Wachstum auf Dauer gewährleisten könne und dass die Wirtschaftspolitik hierzu einen positiven Beitrag leisten könne. Ich glaube, dieser Optimismus, der ist doch sehr stark erschüttert worden. Man weiß, dass Prognosen sehr komplex sind. Spätestens seit der Finanzkrise hat man gesehen, dass die Prognosen eigentlich oft gar nicht so gut sind. Gerade die etablierten Prognose-Verfahren haben sich eigentlich nicht immer bewährt. Aber nach wie vor sind Ökonominnen und Ökonomen in der öffentlichen Debatte sehr prominent vertreten, mehr als andere Fächer.

SPRECHERIN
Diese herausragende Stellung der Wirtschaftswissenschaften hat sich vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet, aus mehreren GrĂĽnden.

30 O-TON (NĂĽtzenadel)
Das hing zum einen damit zusammen, dass natürlich die Schwankungen in der Wirtschaft viel extremer geworden sind und dass damit auch große Krisen politische Systeme vernichten können. Und dass natürlich auch die Politik immer stärker auch von der Wirtschaft abhängt.

SPRECHERIN
Zum Beispiel von den Steuereinnahmen, die in Boom-Zeiten sehr viel höher ausfallen und damit mehr Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen.

31 O-TON (NĂĽtzenadel)
Das war vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht so sehr der Fall, da waren die Staatseinnahmen ja viel geringer. Die Staatsquote war irgendwo bei unter 10 Prozent, und das hat sich natürlich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert.

SPRECHERIN
Heute liegt die Staatsquote hierzulande bei rund 50 Prozent, das bedeutet, die Staatsausgaben entsprechen etwa der Hälfte der Wirtschaftsleistung. Und nicht zuletzt machen Wähler die Politik für ihre wirtschaftliche Situation verantwortlich. It´s the economy, stupid! – Es kommt auf die Wirtschaft an! lautet ein geflügelter Satz, der das beschreibt. Politik und Wirtschaft sind also in mehrfacher Hinsicht eng miteinander verknüpft.

MUSIK

32 O-TON (NĂĽtzenadel)
Insofern ist es ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, was sich im 20. Jahrhundert verändert hat im Vergleich zu früheren Epochen.

SPRECHERIN
Deshalb stimmt es schon irgendwie, was Keynes gesagt hat: Es sind auch die Ideen von Ă–konomen, die die Welt beherrschen. Seien sie nun richtig oder falsch.