Alles Geschichte - History von radioWissen   /     WACHSTUM UND PLEITE - Eine Idee kommt nach Europa

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Wirtschaftswachstum - da ist erstmal nur eine Zahl. Aber was für eine! Geht die Zahl nach oben, dann steigt die Stimmung. Und umgekehrt genauso. Denn unsere Wirtschaft soll wachsen, da sind sich die meisten einig. Dabei ist diese Idee historisch betrachtet relativ neu. Sie hat mit dem Kalten Krieg zu tun. Von Maike Brzoska (BR 2024)

Subtitle
Duration
00:24:36
Publishing date
2024-10-18 13:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/wachstum-und-pleite-eine-idee-kommt-nach-europa/2098790
Contributors
  Maike Brzoska
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2098790/c/feed/wachstum-und-pleite-eine-idee-kommt-nach-europa.mp3
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Shownotes

Wirtschaftswachstum - da ist erstmal nur eine Zahl. Aber was für eine! Geht die Zahl nach oben, dann steigt die Stimmung. Und umgekehrt genauso. Denn unsere Wirtschaft soll wachsen, da sind sich die meisten einig. Dabei ist diese Idee historisch betrachtet relativ neu. Sie hat mit dem Kalten Krieg zu tun. Von Maike Brzoska (BR 2024)

Credits
Autorin: Maike Brzoska
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Frank Manhold
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Matthias Schmelzer, Robert Groß

Besonderer Linktipps der Redaktion:

mdr & detektor.fm (2024): Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall

In diesem Herbst feiern die Deutschen den 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Nach Plauen am 7. Oktober, Leipzig am 9. Oktober und dann dem Höhepunkt am 9. November 1989 in Berlin, ist der Weg zu einem wiedervereinten Deutschland im Herbst 89 frei. In dem sechsteiligen Storytelling-Podcast trifft der  ostdeutsche Journalist Christian Bollert drei Menschen, die zufälligerweise an diesem historischen Tag geboren worden sind und die er bereits seit ihrem 18. Geburtstag begleitet. Mit ihnen blickt er auf ihr Leben, Deutschland und die Zukunft. ZUM PODCAST

Linktipps:

Bundeszentrale für politische Bildung (1980): Die Bedeutung des Marshall-Plans für die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland

Das „European Recovery Program" (ERP) - auch nach seinem Urheber, dem US-Außenminister Georg C. Marshall, als Marshall-Plan bezeichnet - hat die europäische und vor allem die deutsche Nachkriegsentwicklung in einem solch starken Maße beeinflusst, wie kaum ein anderes Ereignis dieser Zeit. Aber was bedeutete das Programm für die wachsenden wirtschaftlichen Probleme damals? Und was wirft er für ein Licht auf die amerikanische Nachkriegspolitik? JETZT LESEN

ARD alpha (2022): Arbeit und Mehrwert – Kommunismus  

Was würde Karl Marx  (1818 - 1883) tun, wenn er noch einmal auf diese Welt käme? Er würde in ein Einkaufszentrum gehen und staunen, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft seit seiner Zeit entwickelt haben. Das wird ihn aber nicht davon abhalten, seine Theorie des Kommunismus unter die Leute zu bringen. Die Ware, die Arbeitskraft, das Tauschproblem, die Arbeitszeit und den Mehrwert: Marx findet auch in einem modernen Einkaufszentrum genügend Beispiele, die seine Theorien belegen. Denn für ihn liegt der Kommunismus nicht etwa in der Vergangenheit, sondern noch in (weiter) Zukunft. JETZT ANSEHEN



Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

SPRECHERIN
Kaum zu glauben: Da stehen die beiden mächtigsten Männer der Welt – und streiten über Haushaltsgeräte. So geschehen auf einer Weltausstellung in Moskau 1959, mitten im Kalten Krieg. Der Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon machten einen Rundgang durch die Ausstellung und stoppten in einer amerikanischen Musterküche, die dort gezeigt wurde. Zwischen Waschmaschine und Backmischung kippte dann plötzlich die Stimmung. Chruschtschow bezeichnete die Neuerungen der Musterküche als nutzlose Spielereien und warnte vor dem Blendwerk des Kapitalismus. Nixon hingegen pries die Überlegenheit von US-Konsumgütern wie dem Farbfernseher. Als kitchen debate, Küchendebatte, ging der Schlagabtausch in die Geschichte ein, sagt der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer. Er vertritt die Professur für sozial-ökologische Transformationsforschung an der Universität Flensburg.

01 O-TON (Schmelzer)
Diese Debatte steht eben symbolisch für diesen hegemonialen Streit über unterschiedliche Wachstums- und Entwicklungsmodelle, die damals sehr virulent waren.

SPRECHERIN
Begonnen hatte dieser Streit bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Vieles war nach dem Krieg zerstört, den Menschen fehlte es praktisch an allem: Nahrungsmitteln, Kleidung, Kohlen zum Heizen. Die Situation schien aussichtslos.

MUSIK

SPRECHERIN
Abhilfe schaffen sollte ein US-amerikanisches Hilfsprogramm: Der Marshall-Plan, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall.

02 O-TON (Groß)
Der Marshallplan war im Prinzip das Wiederaufbauprogramm der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Es erstreckte sich von 1948 bis 1952 und umfasste Hilfen im Wert von ungefähr 13 Milliarden US-Dollar, was heute einem Wert von ungefähr 135 Milliarden Dollar entspricht.

SPRECHERIN
Sagt der Umwelthistoriker Robert Groß. Er forscht am Institut für Soziale Ökologie der Universität Wien. Begleitet wurde der Marshall-Plan durch eine breit angelegte Informations-Kampagne, die der Bevölkerung den Marshall-Plan erklären sollte.

SPRECHERIN
Ein Beitrag aus der Wochenschau zeigt das deutlich. Anlass für den Bericht war der Europa-Zug, der in München startete.

03 TON (Wochenschau)
Feierliche Eröffnung des Europa-Zuges auf dem Münchner Hauptbahnhof. Als Erstes besichtigten hohe amerikanische und deutsche Politiker diese fahrende ERP-Ausstellung. Sie steht unter dem Motto: Zusammenarbeit der freien Völker.

SPRECHERIN
Am ERP, also am europäischen Wiederaufbau-Programm, nahmen allerdings nur westeuropäische Staaten teil.

MUSIK

SPRECHERIN
Die Staaten im sowjetischen Einflussbereich verzichteten auf die US-Hilfe.

ZITATOR
Wir brauchen keinen Marshall-Plan, wir kurbeln selbst die Wirtschaft an!

SPRECHERIN
Hieß es auf Plakaten in der sowjetischen Besatzungszone. Die Ablehnung hatte ihren Grund, denn der Marshall-Plan entsprang nicht der reinen Menschenliebe. Sondern war auch ein politisches Projekt. Ein Ziel war, sozialistische Ideen einzudämmen – denn die breiteten sich in Europa immer weiter aus.

04 O-TON (Groß)
Ganz konkret ging es da um die Kommunisten, die in Frankreich, in Deutschland, in Österreich und auch in Italien - also fast über ganz Westeuropa - Protestaktionen organisierten, was den Amerikanern ein Riesendorn im Auge war und auch als destabilisierender Faktor wahrgenommen wurde. Und das ist sozusagen ein ganz zentrales Motiv im Marshallplan drinnen, nämlich die Arbeits-, die Lebensbedingungen zu verbessern, mehr Menschen in die Beschäftigung zu bringen, den Menschen Einkommen zur ermöglichen, Nahrungsmittel bereitzustellen, um sie eben vor dieser Radikalisierung durch kommunistische Gruppierungen zu schützen.

SPRECHERIN
Neben solchen kurzfristigen Hilfen gab es auch längerfristige Projekte. So wurden mithilfe der Gelder aus dem Marshall-Plan Industrie und Infrastruktur in den europäischen Ländern wiederauf- und teilweise auch umgebaut. Davon sollte auch die US-Wirtschaft profitieren – jedenfalls erhoffte sich die US-Administration das. Daneben gründeten die Regierungen internationale Organisationen. Man wollte Handelsschranken wie Zölle abbauen und den Freihandel etablieren.

05 O-TON (Groß)
Es ging darum, die nationalen Industriepolitiken aufeinander abzustimmen, um so eben gute Bedingungen für das Wirtschaftswachstum in den Nachkriegsjahren herzustellen.

SPRECHERIN
Zentral dafür war die Gründung der OEEC, der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1948. 16 Staaten waren Mitglied. Die USA gehörten nicht dazu, dennoch waren sie allgegenwärtig.

06 O-TON (Schmelzer)
Nicht als Mitglied dieser Organisation, aber eben als der dominante Geldgeber und auch als ein sehr entscheidender Akteur in den Politiken, die durch die OEEC eben verfolgt worden sind, die auf eine spezifische, sehr marktorientierte liberale Wirtschaftsordnung abzielten und dann eben zunehmend Wachstum als Ziel in den Vordergrund stellten.

MUSIK

SPRECHERIN
Die Idee: Eine expandierende, sprich: wachsende Wirtschaft sollte die Menschen wieder in Lohn und Brot bringen und mehr Wohlstand schaffen. Heute ist uns dieser Gedanke vertraut, historisch betrachtet war diese Idee aber relativ neu.

07 O-TON (Schmelzer)
Es gibt eigentlich erst seit den 1820er Jahren relevante Wirtschaftswachstumsraten, die über das Bevölkerungswachstum hinausgehen.

SPRECHERIN
Damals begann man fossile Energieträger wie Kohle oder Öl zu nutzen.

08 O-TON (Schmelzer)
Und noch viel jüngeren Datums ist die Dominanz von Wachstumsdiskursen in unseren Gesellschaften, die nämlich erst auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgehen.

SPRECHERIN
Wachstumsdiskurse – also etwa Fragen wie: Muss unsere Wirtschaft ständig wachsen? Was genau wächst da eigentlich, wenn „die“ Wirtschaft wächst? Und können wir gleichzeitig wachsen und das Klima schonen? Heute sind das zentrale Zukunfts-Fragen. Aber Ende der 1940er Jahre waren solche Probleme noch weit weg. Stattdessen ging es um ganz anderes. Zum Beispiel um den Wiederaufbau. Für den brauchte man eine Messgröße, um zu wissen, wie er in den einzelnen europäischen Staaten läuft. Denn nur so konnte man die Gelder aus dem Marshall-Plan sinnvoll verteilen. Und daneben brauchte man eine Zahl für die Wirtschaftskraft der Länder, um festlegen zu können, wer welchen Beitrag an die OEEC zahlt. Länder, die wirtschaftlich besser dastehen, sollten mehr beisteuern, andere weniger. Um da eine vergleichbare Größe zu haben, einigte man sich schließlich auf das Bruttosozialprodukt.

09 O-TON (Schmelzer)
Das Bruttosozialprodukt ist das statistische Messwerkzeug, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist und was überhaupt erst möglich machte, zu messen, was denn eigentlich wachsen soll.

SPRECHERIN
Das Bruttosozialprodukt wächst, wenn es mehr Waren und Dienstleistungen als im Vorjahr gibt. Eine klare und einfache Rechnung – zu einfach, fanden schon damals viele, auch in der OEEC.

10 O-TON (Schmelzer)
Es war tatsächlich so, dass die Ökonom*innen davor gewarnt haben, diese Zahlen zu nutzen für eben diese weitreichenden Zwecke der Wohlstandsmessung und des Vergleichs von Ländern und Ähnliches.

SPRECHERIN
Unter anderem weil wichtige Bereiche ausgeklammert werden, zum Beispiel die Hausarbeit.

11 O-TON (Schmelzer)
Die Sorge-Tätigkeiten, die im Haushalt passieren, aber auch außerhalb des Haushalts, sehr stark weiblich geprägt sind, die aber essenziell sind, damit wir als Menschen und menschliche Gesellschaften überhaupt funktionieren können, die werden quasi überhaupt gar nicht mitberücksichtigt in diesem statistischen Standard.

MUSIK

SPRECHERIN
Das neue Bruttosozialprodukt, aus dem später das Bruttoinlandsprodukt wurde, erwies sich jedenfalls als äußerst nützliche Zahl. Für Regierungen war sie bald schon eine feste Zielgröße, auf die sie hinarbeiten konnten. Auf die sie politischen Maßnahmen abstimmten. Im großen Stil steigern wollten sie das Bruttosozialprodukt, indem Industrie und Landwirtschaft mechanisiert wurden.

13 O-TON (Groß)
Es ging darum, wo immer es möglich war, menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. Und da war der Verbrennungsmotor ein ganz zentrales Element.

SPRECHERIN
Bis dahin gab es in Europa große Dampfmaschinen, wie etwa Dampflokomotiven, die mit Kohlen angeheizt wurden. Die kleineren Verbrennungsmotoren konnten vielseitiger eingesetzt werden – in Traktoren und Autos etwa. Statt Kohle brauchte man nun Benzin oder Diesel, also Erdölprodukte. Erdöl war das Schmiermittel, das die Wirtschaft antreiben und das Wachstum entfachen sollte.

SPRECHERIN
Aber neben diesen praktischen Hilfen, um Erträge zu erhöhen – oder, auf die gesamte Gesellschaft bezogen: um das Wachstum zu steigern –, war aus Sicht der Amerikaner auch noch etwas anderes nötig.

MUSIK

SPRECHERIN
Die Europäer brauchten ihrer Meinung nach eine andere Erwartungshaltung. Ein anderes mindset. Dafür etablierte man 1953 die Europäische Produktivitätsagentur. Man wollte allen Teilen der Gesellschaft die Steigerung der Produktion schmackhaft machen. Nicht nur Unternehmerinnen und Unternehmern, sondern auch der arbeitenden Bevölkerung.

15 O-TON (Schmelzer)
Und vor dem Hintergrund wurden quasi dezidiert auch Workshops veranstaltet mit eben diesen Akteuren, um so ein neues Set an Mentalitäten zu verbreiten, das darauf abzielt, die Idee von einem Positivsummenspiel in Europa zu etablieren. Also wegzukommen von der Idee, die Gesellschaft ist ein Nullsummenspiel. Wenn eine Gruppe mehr bekommt, dann muss eine andere weniger bekommen, hin zu einer Mentalität, in dem der Kuchen für alle wächst und alle davon profitieren können.

SPRECHERIN
Um von den Amerikanern zu lernen, reisten Tausende Europäerinnen und Europäer in den 1950er und -60er Jahren in die USA. Dort konnten sie mit eigenen Augen sehen, wie sich der Output steigern lässt. Sie schauten sich zum Beispiel an, wie PKW an Fließbändern gefertigt werden. Oder wie die just-in-time-Produktion funktioniert. Manche der Reisenden, darunter hochrangige Manager, waren danach regelrecht schockiert. So erfuhren sie in einem Ford-Werk in Cleveland, wie mehrere Tausend Motoren pro Tag gefertigt werden. Zum Vergleich: Bei Daimler-Benz dauerte der Bau eines einzigen Motors fast einen ganzen Tag. Der Schock war auch deshalb so groß, weil US-Firmen zu dieser Zeit begannen, nach Europa zu exportieren. Die europäischen Unternehmen mussten nachziehen, wollten sie nicht Pleite gehen.
Aber es ging nicht nur um Profit: Die Modernisierung der Wirtschaft und die Steigerung der Produktion hatten zu dieser Zeit auch eine starke geopolitische Komponente. Es ging darum, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Der Kalte Krieg nahm an Fahrt auf Ende der 1950er Jahre – und damit der Kampf um das bessere Wirtschaftssystem. So sah es auch Nikita Chruschtschow, Regierungschef der Sowjetunion.

16 O-TON (Schmelzer)
Chruschtschow hat bereits 1958 auf einem Parteikongress argumentiert, dass Wirtschaftswachstum, das Wachstum der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion in der Sowjetunion, eigentlich der Rammbock ist, mit dem das kapitalistische System zerschlagen werden soll. Und die Sowjetunion legte damals sehr, sehr ambitionierte Wachstumspläne vor, die deutlich über den statistischen Wachstumsprognosen in den westlichen Ländern lagen. Was eben dazu geführt hat, dass in westlichen Politiken viel stärker auch geplante Wachstumspolitik in den Vordergrund rückte.

MUSIK

SPRECHERIN
Wo lebt es sich besser – im Kommunismus oder im Kapitalismus? Wer bietet seinen Bürgern die besseren Produkte? Wer hat technologisch die Nase vorn? Tatsächlich war die Frage damals nicht, ob die Sowjetunion die USA beim Wirtschaftswachstum einholen würde, sondern wann. Man rechnete damit, dass es Mitte der 1960er Jahre so weit sein würde. Das Wachstum der Wirtschaft wurde deshalb zur alles entscheidenden Frage. Die Devise lautete:

ZITATOR
Expand or die – expandiere oder stirb.

SPRECHERIN
Weiter angeheizt wurde die Stimmung, als die Sowjets ihre technologische Überlegenheit in der Raumfahrt aller Welt vor Augen führten.

17 TON (Sputnik)
Denn sie waren es, die den ersten Satelliten ins Weltall schossen, wie der Wochenspiegel 1957 berichtete:

MUSIK & ATMO

ZITATOR
Meine Damen und Herren, ein uralter Traum der Menschheit, der Vorstoß ins All, scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Denn gestern Abend, genau 23.35 Minuten, erreichte eine sogenannte Flash-Meldung die Agenturen der Welt. (…) Und in dieser Meldung heißt es: Am 4. Oktober wurde in der Sowjetunion ein künstlicher Erdsatellit, der erste auf der Welt, erfolgreich aufgelassen. Der Satellit beschreibt jetzt elliptische Flugbahnen um die Erde, wie anzunehmen ist in Höhe bis zu 900 km. (…) Der Wettkampf der USA mit der Sowjetunion um den ersten Erdsatelliten wurde von den Sowjetrussen gewonnen.

SPRECHERIN
Zwei Jahre später trafen dann Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon direkt aufeinander. Der Schlagabtausch in der amerikanischen Modellküche war ein symbolischer Höhepunkt der Systemkonkurrenz der beiden Supermächte.

18 O-TON (Schmelzer)
Diese Küche spielte darin eine entscheidende Rolle, weil sie eben quasi verdeutlichen sollte auf einer ganz konkreten Ebene, was die Vorteile sind, die eben verschiedene Wirtschaftssysteme haben.

MUSIK

SPRECHERIN
Der Wiederaufbau in den kapitalistischen Staaten Westeuropas lief nach Plan. Die von der OEEC ausgerufenen Wachstumsziele für die 1950er Jahre wurden sogar übertroffen. Und tatsächlich ging es den meisten Menschen in materieller Hinsicht sehr viel besser als noch vor ein paar Jahren: Die meisten wohnten wieder in einer warmen Wohnung, hatten genug zu essen, viele sparten für ein Auto oder einen Italien-Urlaub. Der neue Wohlstand befriedete die Gesellschaft. Die Frage bei der OEEC, die den Wiederaufbau koordiniert hatte, war nun: Wie geht es weiter?

19 O-TON (Schmelzer)
Nach dem Auslaufen der Marshall-Plan-Gelder war im Prinzip unklar, was passiert eigentlich mit dieser Organisation? Und damals intervenierte sehr stark die USA und hat quasi die OECD neu gegründet als ein Club der westlichen reichen Länder. Neue Mitglieder waren dann eben zuerst die USA und Kanada und dann später auch Japan.

SPRECHERIN
1961 wurde aus der OEEC die noch heute existierende OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aber trotz des neuen Namens blieb sie bei ihrem bewährten Rezept: Wirtschaftswachstum.

20 O-TON (Schmelzer)
Damals proklamierte die OECD ein Wachstumsziel von 50 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Das heißt, das kollektive Bruttoinlandsprodukt aller Mitgliedsländer sollte um 50 Prozent gesteigert werden in zehn Jahren.

SPRECHERIN
Wobei die ambitionierten Ziele auch Kritik hervorriefen. Manche fragten damals, ob es überhaupt möglich ist, dass die Wirtschaft immer weiter wächst, dass jedes Jahr mehr produziert wird.
 
21 O-TON (Schmelzer)
Und diese Debatte ist vor allem deswegen interessant, weil sie deutlich macht, dass es damals überhaupt nicht selbstverständlich war, vor allem in Europa, längerfristige Wirtschaftsentwicklung als Expansion zu denken. Die Hauptperspektive in dieser Phase des Wiederaufbaus war ein Zurück-zu-dem-Zustand-vor-dem-Krieg.

MUSIK

SPRECHERIN
Aber genau das änderte sich zu dieser Zeit. Statt Wiederaufbau galt nun: dauerhafte Expansion. Statt Genügsamkeit hieß es: Immer-mehr. Das ständige Wachstum der Wirtschaft wurde zum unhinterfragten Politikziel. Auch weil sich irgendwann zwischen Wiederaufbau und Kaltem Krieg, zwischen Automatisierung und Erdöl-Motoren eine neue Sichtweise etabliert hatte. Matthias Schmelzer spricht von einem Wachstums-Paradigma. Und meint damit:

22 O-TON (Schmelzer)
Dass Wachstum auch ein Versprechen ist, ein Mythos, ein mächtiges Narrativ in unseren Gesellschaften, das sehr stark die Politik prägt und eigentlich auch quasi international zu dem primären Ziel von Wirtschaftspolitik geworden ist.

SPRECHERIN
Wirtschaftswachstum ist seitdem nicht nur die Steigerung des Bruttosozialproduktes, sondern gleichbedeutend mit Fortschritt, Wohlstand und besserem Leben. Das gilt für die meisten bis heute. Dabei zeigt die Forschung, dass dieser Zusammenhang nur bedingt existiert.

23 O-TON (Schmelzer)
Es gibt keine direkte Kopplung von Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand. Es scheint so zu sein, dass es in den meisten Gesellschaften bis zu einem bestimmten Einkommensniveau tatsächlich diesen Zusammenhang gibt. Aber wenn diese Einkommens-Schwelle überschritten wird, die eben in europäischen Gesellschaften in den 1970er, 80er Jahren überschritten worden ist, dann führte historisch gesehen mehr Wachstum nicht zu steigendem Wohlergehen.

SPRECHERIN
Trotzdem hielt man daran fest, trotz wachsender Kritik aus verschiedenen Richtungen.

24 O-TON (Schmelzer)
Zum einen eine starke Kritik an den Verteilungswirkungen von Wachstum, die eben sehr ungleich sind.

SPRECHERIN
Denn ein stark steigendes Bruttosozial- oder Inlandsprodukt bedeutet nicht automatisch, dass es allen besser geht. Es kann auch nur einer bestimmten Gruppe – theoretisch auch nur einer einzigen Person – zugutekommen.

MUSIK

25 O-TON (Schmelzer)
Gleichzeitig kam auch eine sehr starke ökologische Kritik, Stichwort Grenzen des Wachstums, 1972, auf, die nochmal diese Abhängigkeit von Ressourcen und auch das Problem der Emission in den Vordergrund rückten.

SPRECHERIN
Können wir auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen überhaupt unendlich wachsen? Spätestens ab den 1970ern gab es grundlegende Kritik an einer Wirtschaftsweise, die unsere natürlichen Ressourcen über Gebühr beansprucht. Zu einer Abkehr von der Wachstumsidee führte das allerdings nicht. Stattdessen wollte man anders wachsen.

26 O-TON (Schmelzer)
Der erste Versuch lief unter dem Stichwort qualitatives Wachstum. Aber sehr schnell folgten dann auch andere Begrifflichkeiten, die sich eigentlich über die Jahrzehnte bis heute ziehen.

SPRECHERIN
Inklusives Wachstum, nachhaltiges Wachstum oder grünes Wachstum, zum Beispiel. Wobei sich vor einigen Jahren auch der Begriff Post-Wachstum oder degrowth dazu gesellte, also die Idee weniger zu wachsen. Aber insbesondere in Krisenzeiten zeigt sich immer wieder dasselbe Muster. So etwa nach der Finanzkrise unter der Regierung Angela Merkel.

27 TON (Angela Merkel)
Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung. (…) Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. (…) Und genau vor diesem Hintergrund beginnt die neue Bundesregierung ihre Arbeit mit einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz.

SPRECHERIN
Oder 2023, als Finanzminister Christian Lindner erklärte, wie man den Konjunktureinbruch nach dem russischem Angriffs-Krieg bewältigen will.

28 TON (Christian Lindner)
Die Voraussetzung für eine soziale Gesellschaft und dass wir unsere ökologischen Ziele erreichen, dass man auch individuell wirtschaftlich vorankommt, das ist eine starke Wirtschaft. Und hier müssen wir besser werden. Wir haben an Wachstumsdynamik verloren und deshalb legen wir ein Wachstumschancengesetz vor.

MUSIK

SPRECHERIN
Ein Grund, warum so viele Politikerinnen und Politiker so auf Wachstum fokussiert sind, ist, dass unsere Systeme darauf ausgerichtet sind. Denn was passiert, wenn die Wirtschaft tatsächlich mal stark einbricht, zeigte sich nach der Finanzkrise in Griechenland, wo die Wirtschaft um 25 Prozent geschrumpft ist.

29 O-TON (Schmelzer)
Die sozialen Folgen waren katastrophal. Das schlägt sich dann nieder in großen Wellen von Krankenhauspleiten, Versorgungskrisen und generell einer Situation, wo Jugendarbeitslosigkeit explodiert, Menschen auswandern, Perspektiven fehlen. Also Wachstum ist in diesen Gesellschaften eine zentrale Voraussetzung für Stabilität.

SPRECHERIN
Weniger Wachstum führt in unserem Wirtschaftssystem früher oder später zu Arbeitslosigkeit. Das belastet die Sozialsysteme – es wird weniger eingezahlt und gleichzeitig brauchen mehr Menschen Unterstützung. Daneben sinken die Steuereinnahmen – und damit der politische Handlungsspielraum. Unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht unabhängiger, resilienter zu machen, wäre eine wichtige Aufgabe. Dementsprechend wichtig wäre es, Entwürfe für ein gutes individuelles als auch gesellschaftliches Leben zu stärken, für die ständiges Wachstum keine Bedingung ist.

MUSIK

30 O-TON (Schmelzer)
Für die meisten Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, dass es ohne Wirtschaftswachstum überhaupt diese Sachen geben kann: Fortschritt, Entwicklung, eine bessere Zukunft. Und das ist, glaube ich, der Kern der ideologischen Zugkraft dieser Wachstumsidee, der moderne Gesellschaften heute vor Herausforderungen stellt.

SPRECHERIN
Man denkt, dass es gar nicht mehr anders geht. Dass unsere Wirtschaft immerzu wachsen muss. Aber eigentlich ist es eine recht neue Idee, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Gut möglich, dass diese Epoche nun langsam zu Ende geht.