Was "ungefĂ€hr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gĂ€ngigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder fĂŒr sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch fĂŒr den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Ăberlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Was "ungefĂ€hr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gĂ€ngigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder fĂŒr sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch fĂŒr den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Ăberlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Abubakar Umar Kari, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Joseph Henrich, Sadiq Abba
Linktipps:
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Der deutsche Blick auf die USA ist geprĂ€gt von Bewunderung, Kritik und Klischees. Manche fragen sich: Spinnen die Amis? In dieser Serie liefern wir historische ErklĂ€rungen fĂŒr transatlantische MissverstĂ€ndnisse. Folge eins: Amerika als Weltpolizist. JETZT  ANHĂREN
SWR (2023): Die Zukunft der NATO â Wohin entwickelt sich das westliche VerteidigungsbĂŒndnis?
Zerstritten und nur bedingt einsatzfĂ€hig - diesen Eindruck hat die 1949 gegrĂŒndete Nato lange gemacht. Mit dem Ukraine-Krieg scheint sich das westliche VerteidigungsbĂŒndnis wieder gefangen zu haben. Dennoch bleiben eine Menge Fragen: Wie geht die frisch erweiterte Nato kĂŒnftig mit Russland um? Wo liegen die nĂ€chsten militĂ€rischen Hotspots? Was ist von den sich abzeichnenden Anti-Natos im Osten zu erwarten? Und wer folgt den USA in der FĂŒhrungsrolle nach? JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:
Im Podcast âTATORT GESCHICHTEâ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime â und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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SPRECHER
In dieser Serie ĂŒber den Westen stellen wir groĂe Fragen. Im ersten Teil haben wir erlĂ€utert, wer wir eigentlich sind, im zweiten Teil wie andere auf den Westen schauen.
MUSIK
Jetzt kommt der dritte und letzte Teil: Der Westen â Und die Frage: Was kann aus ihm werden?⊠Ich bin Jean Marie Magro. Wo ist also der Platz des Westens in einer Welt, die sich stetig verĂ€ndert und in der die Ordnung der Nachkriegszeit ins Wanken gerĂ€t? In den ersten beiden Folgen haben wir viel ĂŒber Werte, Psychologie und Ăkonomien westlicher Staaten gesprochen, aber kaum ĂŒber einen Aspekt, der elementar ist fĂŒr die StĂ€rke des Westens: seine VerteidigungsfĂ€higkeiten. Es gibt verschiedene GrĂŒnde, warum nach dem Zweiten Weltkrieg EuropĂ€er und Nordamerikaner in Frieden leben und Wohlstand schaffen konnten. Einmal, weil sie Allianzen schlossen, sich nicht mehr bekriegten und zusammenarbeiteten. Aber auch, weil Feinde sich nicht trauten, sie anzugreifen. Die USA sind mit Abstand die gröĂte MilitĂ€rmacht der Welt, die Nato die stĂ€rkste MilitĂ€rallianz. Fast alle westlichen Staaten sind Mitglieder des BĂŒndnisses. Wobei auch die TĂŒrkei der Nato angehört, die nicht als westlicher Staat gewertet werden kann. Die StĂ€rke der Nato, ihre AbschreckungsfĂ€higkeit, grĂŒndet auf dem Artikel 5 ihres Vertrags: Wird ein Mitglied angegriffen, stehen ihm alle zur Seite. Ein Angriff auf das Baltikum bedeutet einen Angriff auf Washington. So die Idee. Aber was passiert, wenn der PrĂ€sident des stĂ€rksten Mitglieds das BĂŒndnis infrage stellt, es âobsoletâ nennt?
1 Donald Trump, 45. PrÀsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Einer der PrĂ€sidenten eines groĂen Landes fragte: âSir, wenn wir nicht zahlen und von Russland angegriffen werden, werden Sie uns verteidigen?â Ich sagte: âSie haben nicht gezahlt, Sie sind StraftĂ€ter? Nein, ich werde Sie nicht beschĂŒtzen. Ich wĂŒrde Russland sogar dazu ermutigen, das zu tun, was zur Hölle es auch machen möchte. Zahlen Sie Ihre Rechnungen.â Und das Geld sprudelte nur so herein.â
MUSIK
SPRECHER
Donald Trump erzĂ€hlt hier von einem angeblichen Nato-Gipfel. Ob die Begegnung tatsĂ€chlich so stattgefunden hat, spielt hier gar keine Rolle. Trump stellte ab FrĂŒhjahr 2017 an die Nato vor groĂe Herausforderungen, drohte sich aus dem BĂŒndnis zurĂŒckzuziehen, wenn LĂ€nder wie Deutschland nicht - wie eigentlich zugesagt â zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts fĂŒr Verteidigung ausgeben. Ende 2019, als es auch noch Streit zwischen Frankreich und der TĂŒrkei gab, diagnostizierte der französische PrĂ€sident Macron den âHirntodâ der Allianz. Dabei ist die Nato fĂŒr viele europĂ€ische LĂ€nder die wichtigste Sicherheitsgarantie, der Schild vor einem möglichen russischen Einmarsch, sagt Anne Applebaum, Kolumnistin beim amerikanischen Magazin âThe Atlanticâ:
2 Anne Applebaum, Kolumnistin âThe Atlanticâ und Historikerin
Menschen wie Trump könnten dieser Praxis ein Ende setzen und zwar wesentlich schneller, als viele denken. NatĂŒrlich gibt es einen Vertrag und Verpflichtungen, aber allein, wenn man sagt: âIch, der PrĂ€sident, werde Polen nicht verteidigen, wenn es angegriffen wirdâ, eröffnet er den Russen die Möglichkeit, es zu tun. Das ist meiner Meinung die gröĂte Gefahr fĂŒr den Westen.
SPRECHER
Donald Trump wurde nun erneut zum PrĂ€sidenten gewĂ€hlt. Und er wird mit groĂer Wahrscheinlichkeit auch wieder mĂ€chtig Staub aufwirbeln. Die Republikaner wollen nicht mehr, wie unter George W. Bush, den Weltpolizisten spielen, sondern sich auf die USA zurĂŒckbesinnen. Isolationismus ist das Schlagwort. Aber auch die Demokraten fordern die EuropĂ€er dazu auf, eigenstĂ€ndiger, souverĂ€ner zu werden, dass sie sich mehr um ihre eigene Sicherheit kĂŒmmern sollen. Der Pazifik verlangt mehr Aufmerksamkeit, vor allem der Systemrivale China. Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute, ist der französische Politikwissenschaftler Bertrand Badie ĂŒberzeugt. Und ohnehin, meint Badie, zwinge die Globalisierung die westlichen LĂ€nder, sich von den Logiken der Nachkriegsordnung zu verabschieden und den LĂ€ndern des Globalen SĂŒdens - China, Indien, SĂŒdafrika, Brasilien und vielen mehr - auf Augenhöhe zu begegnen:
3 Bertrand Badie, emeritierter Professor fĂŒr int. Beziehungen Sciences Po Paris
Wie all diese aufstrebenden LĂ€nder mĂŒssen wir im Westen lernen, uns von dem Begriff Allianz zu verabschieden, der altmodisch und auch gefĂ€hrlich ist, weil er andere ausschlieĂt: Die NATO ist das wichtigste MilitĂ€rbĂŒndnis, das es in der Welt gibt. Das Ergebnis ist, dass sie von allen, die auĂerhalb stehen, als etwas bezeichnet wird, das sich nur um sich selbst kĂŒmmert und eine stĂ€ndige Bedrohung darstellt. Russland nutzt das böswillig aus. Aber die LĂ€nder des SĂŒdens verstehen die Sprache Putins, weil sie sehen, dass die alten europĂ€ischen MĂ€chte weiterhin dieses aggressive Eigenleben pflegen, das sich in einem MilitĂ€rbĂŒndnis ausdrĂŒckt. Daher muss das Wort BĂŒndnis durch Partnerschaft ersetzt werden.
SPRECHER
Die Kommunistische Partei in China, sagt Bertrand Badie, schlieĂe niemals Allianzen, weigere sich sogar den Begriff in den Mund zu nehmen. In anderen Teilen der Welt besiegeln LĂ€nder zwar Handelszonen, verzichten aber meist auf Allianzen, die andere ausschlieĂen. Getreu einem alten Zitat, das Charles de Gaulle wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben wird: âStaaten haben keine Freunde, nur Interessen.â Derselbe de Gaulle unterzeichnete zwei Jahrzehnte spĂ€ter den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Doch welche Vorteile sollen losere Partnerschaften im VerhĂ€ltnis zu Allianzen bieten? Bertrand Badie:
4 Bertrand Badie, emeritierter Professor fĂŒr int. Beziehungen Sciences Po Paris
Partnerschaften mit jedermann zu entwickeln, bedeutet nicht, sie zu heiraten. Es ist wie mit der freien Liebe im privaten Bereich. Je nach UmstĂ€nden wechseln Sie den Partner, was die Grundlage fĂŒr ein neues Gleichgewicht in der Welt schaffen könnte. In einer globalisierten Welt akzeptiert jeder, mit jedem zu arbeiten. Gerade befinden wir uns noch in einer Welt der VertikalitĂ€t.
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In der internationalen Staatengemeinschaft, meint Bertrand Badie, gebe es immer noch zu groĂe Ungleichheiten. FrĂŒher redete man in westlichen Staaten noch hĂ€ufiger ĂŒber die Erste, Zweite und Dritte Welt, was viele als abfĂ€llig empfanden. Diese Ungleichbehandlung, meint Badie, ist in der Architektur der Nachkriegsordnung angelegt. AuffĂ€llig sei sie bei den Vereinten Nationen. Zwar sollen diese fĂŒr Austausch und Interessensausgleich sorgen, doch gibt es immer Ungleichgewichte. Von den fĂŒnf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates mit Veto-Recht sind drei westlich: die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Der Soziologe Stephan Lessenich denkt, wenn westliche Staaten sich nicht darum bemĂŒhen, anderen Teilen der Welt mehr auf Augenhöhe zu begegnen, werde der Westen automatisch unbedeutender. Internationale Organisationen mĂŒssten demokratisiert werden, fordert Lessenich, auch, wenn das dann massive Konsequenzen fĂŒr den âalten Westenâ hĂ€tte:
5 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt
Das wĂŒrde ja auch da heiĂen "One Man, One vote" - dass man das abbildet. Die Struktur der Weltgesellschaft in eine Institutionordnung, in der natĂŒrlich dann der Westen peripherisiert wird oder provinzialisiert wird, das wĂ€re die Folge davon. Dass der Westen dann nicht mehr, keine Ahnung, 50, 40, 30% Stimmanteile hat, sondern eben deutlich weniger.
SPRECHER
In der Welt von morgen, sind Badie und Lessenich ĂŒberzeugt, sollten westliche Staaten also nicht mehr tonangebend sein, sondern eine von vielen gleichberechtigten Parteien. Beharren sie weiter auf der alten Logik, fachen sie nur die Abneigung an, die ihnen jetzt schon entgegengebracht wird. Auf lange Sicht ein gefĂ€hrliches Szenario, das den Wohlstand des Westens erst recht gefĂ€hrden könnte.
MUSIK
Aber wie sieht eine gerechtere, eine partnerschaftliche Welt aus? Sollte jedes Land, egal wie groĂ es ist, eine Stimme haben? Ginge es danach, hĂ€tten drei Viertel der Staatengemeinschaft den russischen GroĂangriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine verurteilt. ((Ăhnlich deutlich wĂ€re das Ergebnis, ginge es nach der wirtschaftlichen StĂ€rke der LĂ€nder.)) Nehmen wir aber die GröĂe der Bevölkerungen, so wĂ€re die Sache nicht mehr eindeutig. LĂ€nder wie China, Indien, Vietnam, SĂŒdafrika, Pakistan und Iran enthielten sich. ZĂ€hlt man die Staaten dazu, die bei der Abstimmung abwesend waren, haben die Vertreter von 4,6 Milliarden Menschen der Resolution ES-11/1 nicht zugestimmt. Das ist mehr als die HĂ€lfte der Weltbevölkerung. Das heiĂt nicht, dass diese Staaten Russlands Einmarsch ausdrĂŒcklich befĂŒrworten wĂŒrden. Aber sie haben eben nicht öffentlich verurteilt. Jedenfalls zeigt diese Zahl: Der Westen ist nicht die Welt. Dass gehandelt werden muss, darĂŒber sind sich eigentlich alle einig. Aber wie kann eine neue Weltordnung aussehen? ErwartungsgemÀà liegt die Antwort nicht leicht auf der Hand: So hat unter deutsch-namibischer FĂŒhrung die Vollversammlung der Vereinten Nationen Ende September den sogenannten Zukunftspakt angenommen. Sicherheitsrat und globale Finanzarchitektur sollen reguliert werden, damit LĂ€nder des Globalen SĂŒdens leichter an Kredite kommen. Klingt vage, fĂŒr Kritiker ist es der kleinste gemeinsame Nenner. Doch selbst gegen diesen stimmte Russland. Es hat schon mehrere Initiativen gegeben, den Einfluss von nicht-westlichen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu steigern. Sogar angetrieben vom Westen, berichtet Thomas Gomart von der Pariser Denkfabrik Ifri. Doch diese VorstöĂe scheiterten hĂ€ufig an den aufstrebenden LĂ€ndern selbst - im folgenden Beispiel an China:
Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Frankreich befĂŒrwortet als stĂ€ndiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, dass dieser um vier LĂ€nder erweitert wird. Nur ist es nach Ansicht von China inakzeptabel, dass Indien oder Japan in den Sicherheitsrat aufgenommen werden.
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Trotzdem wird China in den LĂ€ndern des Globalen SĂŒdens oft als fairerer und besserer Partner wahrgenommen als die USA oder ehemalige KolonialmĂ€chte wie Frankreich und das Vereinigte Königreich. China wirbt damit, dass es einst von denselben LĂ€ndern unterworfen wurde wie Staaten im Nahen Osten oder in Afrika. China investiert. Zugstrecken, StaudĂ€mme, FlughĂ€fen, Raffinerien, ja sogar FuĂballstadien baut es in Afrika. Inzwischen hat Peking die USA und Frankreich als ersten Handelspartner des Kontinents abgelöst. 170 Milliarden Dollar betrĂ€gt das Volumen. DafĂŒr sichert sich China wichtige Rohstoffe, die es braucht, um zum Beispiel Elektroautos zu bauen. Wir sind wieder bei dem Punkt angekommen, den wir schon in der zweiten Folge angerissen haben. Das Zitat der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala: âWenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.â Der nigerianische Politikwissenschaftler Abubakar Umar Kari fordert, der Westen mĂŒsse sein VerhĂ€ltnis mit den ehemaligen Kolonien auf neue FĂŒĂe stellen:
7 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni
Und zwar durch Kooperationen und Partnerschaften, die fĂŒr beide Seiten vorteilhaft sind, und kein einseitiges, parasitĂ€res VerhĂ€ltnis, das die Beziehungen in der Vergangenheit geprĂ€gt hat.
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In dieser Forderung schwingen zwei VorwĂŒrfe mit: Der erste lautet, selbst Jahrzehnte nach dem Kolonialismus beute der Westen weiterhin den Kontinent aus. Aber afrikanischen Staatschefs und Intellektuellen geht es auch um die Werte, die der Westen proklamiert. Hilfen wĂŒrden zurĂŒckgehalten, dringend benötigte Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt, wenn westliche Staaten Defizite bei Rechtsstaat und Demokratie feststellten. Dabei, wenden Kritiker wie Abubakar Umar Kari ein, seien diese Werte von Nordamerikanern und EuropĂ€ern. Denkt man diesen Vorwurf zu Ende, bedeutet das, dass zum Beispiel die Menschenrechte nicht universell sind und damit nicht fĂŒr alle Menschen gelten wĂŒrden. Dem widerspricht Thomas Gomart entschieden. Niemand werde gerne gefoltert, Punkt. Nur weil eine kleine Gruppe diese Werte erfand, Ă€ndere das nichts an ihrer AllgemeingĂŒltigkeit, so der Franzose. Trotzdem tut sich der Westen schwer, diese Werte einzufordern. Der Historiker Heinrich August Winkler:
8 Heinrich August Winkler, Historiker
Die westlichen Demokratien können ihre Werte niemandem aufzwingen, sie können aber immer fĂŒr die unverĂ€uĂerlichen Menschenrechte werben und sich fĂŒr ihre weltweite Einhaltung einsetzen. GlaubwĂŒrdig wirkt das Engagement fĂŒr die westlichen Werte freilich nur, wenn sich die Demokratien des Westens selbst an ihre Werte halten und selbstkritisch mit ihren VerstöĂen dagegen ins Gericht gehen. Die westlichen Demokratien dĂŒrfen nie mehr versprechen, als sie halten können.
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Nur wer seine eigenen Werte einhĂ€lt, kann anderen vorwerfen, sich nicht an diese zu halten. DafĂŒr ist entscheidend, dass westliche LĂ€nder afrikanische, sĂŒdamerikanische oder asiatische nicht von oben herab behandeln. Allerdings mĂŒssen westliche Staaten auch lernen, mit Parteien umzugehen, die sich selbst hĂ€ufig widersprechen, wenn es ihrer ErzĂ€hlung passt, sagt der französische Historiker Thomas Gomart. Auf der einen Seite fordern nĂ€mlich Staaten des Globalen SĂŒdens, der Westen solle sich zurĂŒckhalten, dem Rest der Welt mehr Raum einrĂ€umen. Er habe viele Krisen auf der Welt zu verantworten, in Afrika, in SĂŒdamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Der Interventionismus westlicher Staaten habe Weltregionen in Kriege und Krisen gestĂŒrzt. Gleichzeitig aber beklagen sich oft dieselben LĂ€nder, wenn der Westen sich in geopolitischen Fragen zurĂŒckhĂ€lt. Ob im Nahostkonflikt, in Syrien, Jemen oder im Sahel: Wenn sich der Westen nicht einschaltet, scheint es genauso falsch zu sein, wie wenn er es tut.
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Der Westen muss neue Logiken aufbauen, meint Thomas Gomart. Er muss aber auch die an Konflikten beteiligten Parteien dazu ermuntern, selbst Lösungen zu finden. Seine eigenen Allianzen dagegen ĂŒber Bord zu werfen, davon rĂ€t der französische Historiker ab. Brasilien, einige afrikanische Staaten, aber auch Indien verfolgen laut Gomart einen transaktionalen Ansatz. Sie schlieĂen keine Allianzen, sondern machen GeschĂ€fte mit allen. Indien zum Beispiel kauft französische Kampfflugzeuge, verurteilt jedoch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine. Klingt rational, birgt aber Risiken, meint Gomart â speziell fĂŒr Deutschland.
9 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Dieser Ansatz breitet sich zwar aus, er hat aber auch Grenzen. Und das sieht man speziell beim Thema Sicherheit in Europa. Die meisten Mitgliedsstaaten sind angewiesen auf die Sicherheit, die ihnen die EU und die Nato bieten. Das trifft ganz besonders auf Deutschland zu. Deutschlands Sicherheit hÀngt von der Nato ab.
SPRECHER
Man kann, man muss mit allen reden und in einer multipolaren Welt Beziehungen zu allen pflegen. Doch geht es um das Ăberleben des Staates und seiner BĂŒrger, sei es wichtig, sein Lager nicht zu verlassen, meint Thomas Gomart. Sicherheit beschrĂ€nkt sich dabei nicht allein auf einen militĂ€rischen Angriff eines feindlichen Staates. Es geht auch darum, dass jeder einzelne Staat seine BĂŒrgerinnen und BĂŒrger bestmöglich vor Risken und Gefahren schĂŒtzen und Ăngste ernst nehmen soll. In westlichen LĂ€ndern werden dabei hĂ€ufig Debatten ĂŒber Zuwanderung gefĂŒhrt. Ein groĂes Thema: Die Sorge vor einer VerĂ€nderung, gar GefĂ€hrdung der westlichen Kultur durch Migration von Menschen, die mit anderen als westlichen Werten aufgewachsen sind. Vor allem aus patriarchalisch geprĂ€gten islamischen Kulturen. Einige politische KrĂ€fte, nicht nur extremistische, kritisieren zuviel Einwanderung. Diese gehe mit hörerer KriminalitĂ€t einher und verĂ€ndere die Gesellschaften zum Schlechteren. Erfolgsgeschichten, die es auch im groĂen Stil gibt, werden dabei meistens unterschlagen.
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Tatsache ist, dass der Anteil an Zuwanderern an der Gesamtbevölkerung wesentlich höher ist als in anderen Teilen der Welt. So sei in Europa, so die Internationale Organisation fĂŒr Migration, fast jeder Achte zugewandert, lebe also in einem Land, in dem sie oder er nicht geboren wurde. BinnenflĂŒchtlinge zĂ€hlen also nicht mit rein, deshalb ist die Zahl in Asien und Afrika sehr gering; nicht einmal zwei Prozent.
Mehr als 50 Millionen Migranten leben in den USA, viele kamen aus Lateinamerika.
MUSIK
Politikerinnen und Politiker in westlichen LĂ€ndern wie Donald Trump, Viktor Orban und Marine Le Pen, beschreibt Anne Applebaum, bedienen sich der Ăngste vieler Menschen vor Zuwanderung und VerĂ€nderungen. Sie trĂŒgen eine nationalistische ErzĂ€hlung vor, sagt die Kolumnistin und Historikerin. In einer Zeit des schnellen Wandels versprechen sie die RĂŒckkehr in eine Vergangenheit, in der alles gut gewesen sein soll:
10 Anne Applebaum, Kolumnistin âThe Atlanticâ und Historikerin
Es ist kein Zufall, dass viele politische Bewegungen nicht ĂŒber die Zukunft sprechen, sondern in die Vergangenheit blicken. Make America great again ist ein Paradebeispiel dafĂŒr. Diese Politiker bedienen Nostalgie und sprechen von Revivals/Wiederaufleben. Das ist die Auswirkung eines sehr, sehr schnellen sozialen, politischen, demografischen und wirtschaftlichen Wandels.
SPRECHER
Der alte und neue PrĂ€sident Donald Trump versprach seinen Landsleuten im Wahlkampf, sich wieder auf sie zu besinnen. America first, les Francais dâabord, Deutschland zuerst. Diese ErzĂ€hlung hat in vielen westlichen Staaten mal mehr, mal weniger Erfolg. Ein groĂes Problem unserer derzeitigen politischen Debatten im Westen, meint Applebaum, sei es, dass viele den innenpolitischen Wettstreit mit kriegsĂ€hnlichen ZustĂ€nden gleichsetzten. Es gehe um Gut gegen Böse, den Untergang des Abendlandes, das Ende der Zivilisation:
11 Anne Applebaum, Kolumnistin âThe Atlanticâ und Historikerin
Und genau hier wird es gefĂ€hrlich, denn Politiker können IdentitĂ€ten nicht Ă€ndern, sondern sich nur darĂŒber aufregen. Wir sollten uns dafĂŒr stark machen, dass sich die Politik um Probleme kĂŒmmert, die sie lösen kann. Das Gesundheits- und das Bildungssystem, StraĂen und Schulen. Wenn Sie es schaffen, die Debatte dorthin zurĂŒckzubringen, bekommen Sie eine normalere Politik.
SPRECHER
Egal ob in den USA, Frankreich oder Polen: Politik mĂŒsse wieder normaler werden, sich auf wesentliche Politikfelder konzentrieren, fordert die Historikerin, die 2024 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.
MUSIK
Die Welt setzt sich neu zusammen â und wo ist unser Platz? Der Platz des Westens? Von Gesellschaften, die in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend dazu beitrugen, dass die Welt auf verschiedene Weisen revolutioniert wurde. Sei es gesellschaftlich oder auch technologisch. Vielleicht ist an dieser Stelle, so kurz vor dem Ende dieser dreiteiligen Serie, die Zeit fĂŒr eine Zusammenfassung gekommen. In der ersten Folge ging es um die Grundpfeiler des Westens, warum Menschen aus westlichen LĂ€ndern nicht ânormalâ, sondern âseltsamâ sind, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich sagt:
12 Joseph Henrich, Humanbiologe UniversitÀt Harvard
In einigen Regionen der Welt ist besonders wichtig, wie man sich anderen gegenĂŒber prĂ€sentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen ĂŒber Sie als Individuum denkt. (âŠ) In westlichen Gesellschaften mĂŒssen Sie sich dagegen abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein.
SPRECHER
Es ging auĂerdem um Gewaltenteilung, um Checks and Balances, um Vertrauen in unabhĂ€ngige Institutionen. Die zweite Folge handelte davon, warum andere Teile der Welt Kritik am Westen ĂŒben. Besonders prĂ€gnant fasste das Sadiq Abba zusammen, der nigerianische Professor fĂŒr Internationale Beziehungen:
13 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur fĂŒr sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du fĂŒr immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.
SPRECHER
Es ging um die VorwĂŒrfe, die den westlichen Staaten gemacht werden. Dass sie auf der einen Seite versprechen, jeder Mensch habe dieselben Rechte und eine unverĂ€uĂerliche WĂŒrde. Andererseits hatten und haben viele EntwicklungslĂ€nder den Eindruck, westliche Leben seien mehr wert als die von sagen wir Venezolanern, Maliern oder PalĂ€stinensern.
Es ging um die Ambitionen der BRICS-Staaten, insbesondere Chinas, eine neue Weltordnung aufzubauen, in der dem Westen eine kleinere Rolle zukommen soll. Und natĂŒrlich ging es auch um die Bedrohungen des westlichen Projekts aus dem Inneren: Wie stark werden Demokratie, Rechtsstaat und internationale Zusammenarbeit von Autokraten bedroht, die durch Wahlen an die Macht kamen â oder kommen könnten?
MUSIK
Jahrhundertelang hat der Westen die globale Wirtschaft dominiert. Der Westen hat andere Teile der Welt unterworfen und ausgebeutet, Grenzen gezogen, die bis heute Krieg und Zerstörung nach sich ziehen. Man nehme nur den Nahen Osten mit den Grenzziehungen der SiegermĂ€chte nach dem Ersten Weltkrieg. Das kapitalistische Wirtschaftssystem und der Energiehunger der Menschen fördern einen solchen Raubbau an der Erde, dass wir inzwischen fast zwei brauchen, um unseren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Aber der Westen brachte auch groĂe Errungenschaften hervor: Freiheit, Gleichheit, BrĂŒderlichkeit. In Europa wurden aus Erbfeinden Freunde, Frieden wurde geschlossen, internationale Zusammenarbeit gefördert, es entstand technologischer Fortschritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.
Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Zivilisationen, die einen Vorsprung hatten und ihn einbĂŒĂten, gar verschwanden. Die alten Ăgypter, Griechen und Römer, das Osmanische Reich oder China etwa, das heute seinen alten Platz fĂŒr sich beansprucht. Wird es dem Westen Ă€hnlich ergehen, dessen Bevölkerung immer kleiner und Ă€lter wird? In Deutschland hat sich wahrscheinlich niemand so intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt wie der Historiker Heinrich August Winkler. Und so ist es fĂŒr mich nur logisch, dass ich ihm das letzte Wort lasse:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Westen hat seine weltpolitische und weltwirtschaftliche Dominanz lÀngst verloren, aber die Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789, also der Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der reprÀsentativen Demokratie - diese Anziehungskraft hÀlt unvermindert weltweit an.
MUSIK
Ich bin Jean-Marie Magro, und das war âDer Westenâ.
Mit der dritten und letzten Folge: Was kann aus ihm werden?
Alle drei Folgen gibtâs in unserem Feed âAlles Geschichteâ - in der ARD-Audiothek und ĂŒberall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch âAlles Geschichteâ abonnieren.