Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Joseph Hendrich, Sadiq Abba, Abubakar Umar Kari, Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Yasheng Huang
Linktipps:
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ARD alpha (2022): China und wir
Innerhalb von wenigen Jahrzehnten haben sich die Machtverhältnisse zwischen China und Deutschland fundamental verschoben. Aus dem einstigen Empfängerland deutscher Entwicklungshilfe ist eine Weltmacht geworden, wirtschaftlich und politisch. Unsere Abhängigkeit von China würden wir gern verringern - aber in welchem Maß ist das überhaupt möglich? alpha-demokratie befasst sich mit den zentralen Fragen und Entwicklungen unserer Demokratie in einer unruhigen Welt - über die Aktualität hinaus. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂĽr Geschichts-Interessierte:
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SPRECHER
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das sind, so behaupten viele, historische Errungenschaften des Westens. Gegen diese Werte kann man doch gar nichts haben, denken viele. Aber so einfach ist es nicht. Ich bin Jean-Marie Magro und das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 2: Wie uns die anderen sehen. In vielen Teilen der Welt wird das Auftreten des Westens als anmaßend und belehrend wahrgenommen. Andere gehen sogar so weit zu sagen, die internationale Weltordnung sei von westlichen Staaten allein zu deren Vorteilen errichtet worden und müsse umgebaut werden. 2023 ging ein Zitat um den Erdball, ein Satz der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala. Sie sagte auf einer Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt in Berlin: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Joseph Henrich, Harvard-Professor für biologische Anthropologie und Autor von „Die seltsamsten Menschen der Welt“, kam schon in Folge eins zu Wort. Als ich den Satz zitiere, muss er lachen:
1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard 10
„Ja, ich glaube, das ist wahr. Und eines der Dinge, die ich in dem Buch versucht habe anzusprechen, ist, obwohl die allgemeinen Menschenrechte für mich einfach zu verstehen und wichtig sind: Es ist nicht so, dass alle von ihnen überzeugt sind.“
SPRECHER
Der Westen dominiert seit Jahrhunderten Weltpolitik und Weltwirtschaft. Und, aus Sicht vieler Staaten im sogenannten Globalen Süden, zulasten der anderen. Selbst viele Jahre nach Kolonialismus und Sklaverei beuten westliche Länder noch immer andere aus – so lautet zumindest der Vorwurf. Besonders deutlich wird dieser in afrikanischen Staaten formuliert. Sadiq Abba ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Abuja, der Hauptstadt Nigerias:
2 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 5
„Wir haben genug. Afrika ist der westlichen Welt überdrüssig. Es ist sehr wichtig, dass die westliche Welt damit beginnt, offen über ihr bösartiges Verhalten gegenüber Afrika zu sprechen.“
SPRECHER
Sadiq Abba spitzt in seiner Kritik sehr zu: Er sagt, Zitat: Die angeblich universellen Menschenrechte haben keinen Wert, weil für die Europäer ein Menschenleben in Westafrika weniger Wert hat als ein Straßenköter in Paris. Das sind die Doppelstandards des Westens. Zitat Ende. In den vergangenen Jahren habe ich häufig aus Marokko berichtet. Dort ist mir immer wieder der Vorwurf begegnet, dass sich westliche Staaten empört zeigen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Wenn aber in Afrika Menschen sterben, interessiere das die Weltgemeinschaft recht wenig. Besonders häufig wird auch der Vergleich zwischen Israel und Palästina gezogen. Hier verweisen Kritiker des Westens auf die Todeszahlen: Egal, ob man denen der Hamas glauben möchte oder nicht, klar ist: Auf palästinensischer Seite sterben viel mehr Menschen als auf israelischer. Trotzdem verurteilen westliche Staaten das Vorgehen der Netanjahu-Regierung zögerlicher als das der Hamas und liefern Israel sogar Waffen. Ein Vorwurf, der sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Der Westen misst mit unterschiedlichem Maß. Egal, ob man sich dem Urteil anschließen will oder nicht: Es verdeutlicht, dass in einigen Teilen der Welt der Eindruck vorherrscht: Der Westen fordere andere auf, seine Regeln zu befolgen, halte sich selbst aber nur an diese, wenn sie ihm passen. Abubakar Umar Kari lehrt wie Sadiq Abba ebenfalls an der Universität Abuja. Der Politologe meint mit einem Blick auf die Geschichte:
3 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni Abuja 5
„Die westlichen Staaten predigen Dinge, die sie nicht ernsthaft glauben. Es gibt so viele Beispiele, z. B. sprechen sie von Demokratie und Freiheit, aber sie haben in der Vergangenheit diktatorische Regime unterstützt und Militärjuntas gefördert. Sie schaffen Monopole, sorgen für Instabilitäten und sie tolerieren Despoten. Das steht im Widerspruch zu ihrem Engagement.“
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Und der Vorwurf wird noch eine Runde weitergedreht: Einer der Hauptkritikpunkte, die sich der Westen immer wieder anhören muss, ist: „Eure Werte sind nicht die unseren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit – klingt gut, aber diese Werte habt ihr entworfen. Nicht wir.“ Bertrand Badie ist emeritierter Professor an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po. Er sagt:
4 Bertrand Badie 2, emeritierter Professor fĂĽr int. Beziehungen Sciences Po Paris
„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, ein sehr schönes Dokument. Es wurde von einer Kommission ausgearbeitet, in der nur Europäer und Amerikaner vertreten waren, mit zwei kleinen Ausnahmen:“
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Eine Ausnahme, so Badie, war ein Libanese, der aber als Maronit den katholischen Glauben praktizierte. Der andere war ein Chinese, der in den USA studiert hatte. Ein Ähnliches Bild liegt bei den Institutionen vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: Die Vereinten Nationen mit fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat, die jeweils ein Veto-Recht besitzen. Drei davon sind westlich, womit eine Machtverteilung entsteht, die weder im Verhältnis zur Bevölkerung noch zur wirtschaftlichen Stärke dieser Länder steht. Als Sonderorganisation der UN wurde auch der Internationale Währungsfonds gegründet, der Ländern in Zahlungsschwierigkeiten helfen soll, aber unter anderem wegen seiner drakonischen Sparforderungen immer wieder in der Kritik steht. Seit 1946 stammen alle seine Präsidentinnen und Präsidenten aus Europa. Ebenso eine Sonderorganisation der UN ist die Weltbank, die Entwicklungsprojekte finanzieren soll: Seit ihrer Gründung hatte nur eine Präsidentin keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft, die Bulgarin Kristalina Georgiewa 2019, die nur kommissarisch für kurze Zeit übernahm. In den vergangenen Jahren wurden deshalb die Rufe nach einer neuen Weltordnung immer lauter. Einer Weltordnung, die nicht den Westen bevorteilt, sondern aufstrebende Mächte aus den unterschiedlichen Teilen der Welt mehr einbezieht. Das bekannteste und wahrscheinlich auch einflussreichste Bündnis haben die sogenannten BRICS-Staaten geschlossen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Nigerianer Sadiq Abba setzt hierauf große Hoffnungen:
5 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 7
„BRICS Ist ein Wind der Veränderung, der 1979 angefangen hat zu blasen. BRICS steht am Ende einer langen Geschichte der unterentwickelten, der unterdrückten, der ausgebeuteten Welt. Eine Welt, die endlich aufatmen und einen Hauch von Freiheit und Wohlstand spüren kann.“
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BRICS nahm zu Jahresbeginn 2024 weitere Mitglieder auf: Ägypten, Äthiopien, die Emirate und Iran. Eigentlich sollten Argentinien und Irans Erzfeind Saudi-Arabien noch dazukommen. Argentinien lehnte ab, Saudi-Arabien prüft den Beitritt noch. Dass Länder mit so entgegengesetzten Interessen, gar offen ausgetragenen Feindschaften, sich verbünden, überrascht den Soziologen Stephan Lessenich von der Goethe-Universität in Frankfurt nicht. Er hat sich in seiner Forschung mit dem sogenannten Globalen Süden befasst. Diese vermeintlichen Partner vereint alle, dass sie, wie Lessenich es nennt, „Geschädigte westlicher Modernisierungsfantasien“ sind.
6 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt 4
„Das rechtfertigt überhaupt nicht das chinesische Land Grabbing in Afrika oder die neuen Machtasymmetrien, die jetzt in der Weltwirtschaft entstehen. In Lateinamerika gilt ähnliches: Riesige Abhängigkeit der argentinischen Sojaindustrie von den Lieferungen nach China und so weiter. Also da verschieben sich dann auch wiederum Abhängigkeiten. Aber dass es in zentralafrikanischen Staaten keine Lust mehr gibt, sich von Frankreich irgendwie sagen zu lassen, was man zu tun und zu lassen hat, das liegt irgendwie auf der Hand und ist nachvollziehbar.“
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Bleiben wir beim Beispiel Frankreich und Afrika: Die meisten Kolonien erklärten sich in den Jahren zwischen 1956 und 1960 unabhängig. So zum Beispiel Tunesien, Marokko und auch westafrikanische Länder wie Senegal, Mali und Niger. 1962, nach einem blutigen Krieg, zog Frankreich auch aus Algerien ab. Doch noch Jahre danach bauen französische Konzerne wertvolle Ressourcen in Afrika ab. Bis Juli 2024 hatte etwa der Kernbrennstoffhersteller Orano im Norden Nigers eine Uran-Mine unterhalten, damit die französischen Atomkraftwerke versorgt sind. Der schwerwiegendste Vorwurf aber, der Frankreich in den vergangenen Jahren gemacht wurde, hängt mit der Terrorbekämpfung in Westafrika zusammen. Länder wie Mali, Burkina Faso und Niger müssen seit Jahren gegen dschihadistische Terrormilizen kämpfen. Frankreich schickte zwar Soldaten, die Attentate wurden aber nicht weniger. Das nutzte vor allem ein Land, um seinen Einfluss auszuweiten: Russland. Thomas Gomart leitet den Pariser Thinktank Institut francais des relations internationales, kurz Ifri. Er beschreibt:
7 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 4
Viele dieser Länder hatten nach ihrer Unabhängigkeit marxistisch-leninistische Regime. Ihre Führungskräfte wurden oft in Moskau ausgebildet oder haben von sowjetischen Helfern gelernt. Besonders stark ist das zum Beispiel in Mali ausgeprägt. Während wir im Westen Russland als imperiale Macht wahrnehmen, verbinden diese jungen Nationen Moskau mit ihrer Unabhängigkeit, die sie erst 1960 oder 1962 errungen haben. Das hat Russland ausgenutzt.
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Seit Jahren ist Moskau mit Paramilitärs in Afrika aktiv. Sie unterstützen die Staaten im Kampf gegen die Terroristen. Die westafrikanischen Militärregierungen wie Mali und Burkina Faso schätzen sehr, dass Putin keine Bedingungen wie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien für seine Hilfe stellt. Dafür dürfen die Russen Minen abbauen, in denen sich seltene Erden, Gold und Diamanten befinden. Russland zeigt sich aufmerksam, liefert Waffen, schenkt Getreide und bringt Radiosender an den Start.
Doch nicht nur wegen Afrika ist Putin-Russland unbestritten eine der größten Herausforderungen für den Westen. Putin betrachtet die USA, die Europäer, die Nato als Feinde. Der Westen wolle die Entwicklung Russlands ausbremsen und es unterworfen, so Russlands Präsident. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 sagte Putin noch im Deutschen Bundestag, der Kalte Krieg sei vorbei. Doch mit den Jahren ändert sich der Ton. Immer wieder spricht er vom dekadenten Westen und kritisiert die Nato-Osterweiterung. 2014 annektiert Russland die Krim völkerrechtswidrig, weil sich die Ukraine Europa annähern möchte. Acht Jahre später, am 24. Februar 2022, startet Putin-Russland einen Großangriff. Schuld daran sei auch der Westen, sagt Putin:
9 Wladimir Putin, Russischer Staatspräsident
„Der Westen nutzt die Ukraine als Rammbock und als Testfeld gegen Russland. Aber eines sollte allen klar sein: Je mehr Langstreckenwaffen in die Ukraine geliefert werden, desto weiter müssen wir die Gefahr von unseren Grenzen verschieben. Sie sollten sich bewusst sein, Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen.“
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Den Historiker Heinrich August Winkler kam auch schon in der ersten Folge zu Wort. Er hat vier große Bände über die Geschichte des Westens geschrieben:
10 Heinrich August Winkler, Historiker 8
Putin knüpft an eine alte russische, von der orthodoxen Kirche gepflegte Tradition an. Russland sieht sich seit langem als wahrer Erbe des Christentums, von dem der aufgeklärte, liberale, der angeblich dekadente Westen vor langem schon abgefallen sei.
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Putins Vorgehen verwundert Heinrich August Winkler nicht. Es sei logisch fĂĽr einen Mann, der den Zusammenbruch der Sowjetunion nie ĂĽberwinden konnte:
11 Heinrich August Winkler, Historiker 9
Die Ukraine hat sich 1991, wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken, für unabhängig erklärt und die Russische Föderation hat diese Unabhängigkeit anerkannt. Aber abgefunden hat sich Putins Russland mit der Unabhängigkeit der Ukraine nicht. Putin betreibt die Wiederherstellung eines Großrussischen Reiches, in dem kein Platz ist für eine selbstständige Ukraine. Seine Politik ist radikal-revisionistisch, ja offen imperialistisch.
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Will Putin die Sowjetunion wiederherstellen? Oder steht hinter den Partnerschaften, die er mit Iran und Nordkorea eingeht, und der Annäherung an China noch mehr? Thomas Gomart ist ebenfalls Historiker und Kenner Russlands:
12 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 3
Ich glaube, Putin hat ein Kalkül: Seiner Meinung nach befinden wir uns in einem Moment, in dem weltweit der Westen, aber vor allem Europa abgelehnt wird. Weil Europa schrumpft und an Bedeutung verliert. Putin möchte diese Situation auf brutale Weise für sich nutzen.
SPRECHER
In diesem Zusammenhang, nimmt Thomas Gomart an, wäre ein Erfolg für Putin:
13 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 6
Wenn sich die USA zunehmend aus Europa zurückziehen. Dadurch, dass die Europäer sicherheitspolitisch und strategisch nicht reif sind, wäre das für Putin gleichbedeutend mit einer Art Vorherrschaft über einen Teil Europas und damit könnte er China mehr auf Augenhöhe entgegentreten.
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China: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Exportweltmeister, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Atommacht… Präsident Xi Jinping verurteilt nicht die russische Invasion in der Ukraine. Das kritisierte unter anderem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Peking im April 2023 – und fuhr sofort die Retourkutsche ihres Amtskollegen Qin Gang ein:
14 Qin Gang, AuĂźenminister Volksrepublik China
"Diese Meinungsverschiedenheiten sollten uns nicht davon abhalten, im Austausch zu bleiben. Aber dieser Austausch sollte auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung basieren. Was China am wenigsten braucht, sind Lehrmeister aus dem Westen."
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Was verbindet die Volksrepublik mit Putin-Russland, Iran und anderen Mächten, die sich gegen den Westen stellen? Die amerikanische Journalistin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum:
15 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin 13
„Sie sehen die liberale Welt als eine Bedrohung für sich und arbeiten zusammen, um die Verbreitung liberaler Ideen in ihrem Land zu verhindern. Und sie glauben, dass ihr eigenes Überleben davon abhängt, liberale Ideen zu unterdrücken, wo auch immer in der Welt sie zu finden sind.“
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Unter „liberalen Ideen“ fasst Applebaum vieles zusammen: Freie Wahlen, ein unabhängiger Rechtsstaat, aber auch der Schutz von Minderheiten. Gerade Letzteres wird von Putin immer wieder aufgegriffen als ein Beispiel des Verfalls des dekadenten Westens. Doch so sehr Putin und der chinesische Außenminister auch poltern: Sind sie die größte Gefahr für den Westen? Nein, findet Yasheng Huang:
16 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 6
„Sie brauchen doch nicht China, um Amerika zu untergraben. Das ist einfach lächerlich.“
SPRECHER
Die größte Bedrohung für westliche Demokratien, ist der Direktor des China und India Lab am MIT in Boston überzeugt, stellen antiliberale Kräfte im Westen selbst dar. Menschen, die das politische System aus dem Inneren heraus zerstören wollen. Egal ob aus Politik oder Wirtschaft. Für die USA, wo er lebt, nennt er Elon Musk als Beispiel, der auf seinem sozialen Medium X und mit seinem Vermögen eine politische Agenda verfolge. Wo hingegen liege das Problem, wenn China Brücken, Autobahnen, Zugtrassen und Häfen in Afrika baue, fragt Huang:
17 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 10
„Falls die Neue-Seidenstraße-Initiative objektiv dafür sorgen sollte, dass das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern gefördert wird, dann sollten wir das feiern. Warum schadet es dem Westen, wenn Afrika nicht mehr in Armut und Hunger versinkt?“
MUSIK
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Können Sie sich noch an den Anfang der Folge erinnern und das Zitat der Präsidentin der Welthandelsorganisation? „Wenn wir mit China reden, kriegen wir einen Flughafen – Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Wenn Yasheng Huang diesen Satz hört, reagiert er fast schon beleidigt. Er ist Professor, verdient sein Geld mit Vorträgen und ist der festen Überzeugung, dass ein richtiger Vortrag mehr wert sein kann als ein Flughafen. So nämlich sei China von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft geworden – in einem Zeitraum von nicht einmal 50 Jahren:
18 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 12
„Im Jahr 1978 wurde den Führern der Kommunistischen Partei von amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern erklärt, dass die zentrale Planung versagt habe und marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet werden müssen. Das war ein Vortrag, kein Flughafen. Nachdem sie die Wirtschaftsreformen eingeleitet hatten, wuchs die Wirtschaft, der Staat sparte und nahm Geld ein, das dann verwendet wurde, um Flughäfen zu bauen. Ich würde sagen, dass sie zu viele Flughäfen bauen, aber das ist eine andere Diskussion.“
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Man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen, meint Yasheng Huang. China habe einen Vortrag bekommen – und genau zugehört:
19 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 8
„China ist reich geworden, weil es sich dem Westen angenähert hat. Ein bekanntes Zitat von Deng Xiaoping lautet: "Schauen Sie sich die Freunde der Sowjetunion an. Sie sind alle arm geworden. Die DDR, Rumänien, Polen. Und schauen sie auf die Freunde der Vereinigten Staaten, die sind alle reich geworden: Japan und Südkorea und auch Westdeutschland." Die Kommunistische Partei Chinas hat als Institution enorm von der engeren Bindung an den Westen profitiert.“
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Während die Sowjetunion zusammenbrach, weil sie die Wirtschaft nicht entwickelte und zu viel Geld für Militär ausgegeben habe, habe China wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung profitiert, so Huang. Wer aber wirtschaftlich erfolgreich ist, wolle auch mehr Macht: Wie ein Pilzgeflecht breite China sich mit seiner Neue-Seidenstraßen-Initiative auf unterschiedlichen Kontinenten aus. Eine gute Entwicklung, meint der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen Sadiq Abba:
20 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 8
„Die Welt von morgen wird bereits ohne den Westen gebaut. Der Westen versucht nur verzweifelt, seinen Rückstand aufzuholen. Die Welt braucht den Westen nicht. Der Westen braucht die Welt.“
SPRECHER
Das sind Worte, die sitzen. Vorhin hatte Abba schon gesagt, dass BRICS ein Wind der Hoffnung sei. Die Sehnsucht, dass sich etwas ändert, ist in China, in Afrika, aber auch in anderen Regionen groß. Thomas Gomart aus Paris kann die Kritik nachvollziehen. Der Westen sei nicht unfehlbar. Trotzdem, so Gomart, müssten sich dieselben Staaten, die Vorwürfe erheben, auch welche gefallen lassen:
21 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 15
„Wir beobachten auch, dass die Führer der Länder, die den Westen heftig kritisieren, Vermögen im Westen haben, ihre Kinder hier auf Schulen und Universitäten schicken. Sie kaufen Privilegien und Sicherheit. Und das ist auch ein Paradoxon, das man ansprechen muss. Menschen machen sich auf den Weg nach Europa, nach Kanada, in die USA, in offene Systeme. Da sieht man, welch Anziehungskraft die westlichen Gesellschaften haben.“
SPRECHER
An Gomarts Argument merkt man, dass es der Debatte guttut, wenn man sie differenziert führt. Ja, die westlichen Länder haben viele Fehler gemacht und sich auf Kosten von schwächeren Staaten bereichert. Aber heißt das, dass sie für alles verantwortlich gemacht werden können? Als erstes müsse der Westen vor allem eines schaffen, meint der Leiter des Thinktanks Ifri: Entwicklungsländer als gleichwertige Partner anzuerkennen. Und Anerkennung fängt damit an, verstehen zu wollen, wie der andere die Welt sieht:
22 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 18
„Der grundlegende Unterschied zwischen dem Westen und dem globalen, ich sage lieber transaktionalen, also geschäftsorientierten Süden auf der anderen Seite ist meiner Meinung nach der historische Referenzpunkt. Wir bauen unsere Politik, unsere politische Kultur, unsere philosophischen und intellektuellen Debatten seit 1945 auf der Erinnerung an die Shoah auf. Im globalen Süden wiederum, so kommt es mir vor, ist der Referenzpunkt die Erinnerung an den Kolonialismus.“
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Natürlich müssten auch konkrete politische und wirtschaftliche Ergebnisse aus einer Zusammenarbeit folgen. Aber dem vorgeschaltet ist, so Gomart, dass der Westen nicht mehr als belehrend und anmaßend wahrgenommen werden darf. Sondern dass sich die ehemals unterworfenen Länder von denen, die sie einst beherrschten, ernstgenommen und gleichberechtigt fühlen. Der Historiker Heinrich August Winkler bleibt zuversichtlich, dass das möglich ist:
23 Heinrich August Winkler, Historiker 10
„Sklaverei und Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, die gehören zum historischen Sündenregister des Westens. Die Geschichte des Westens war immer auch eine Geschichte von brutalen Verstößen gegen die eigenen Werte, sie ist aber auch eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen.“
SPRECHER
Der Westen hat es über Jahrhunderte geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden, sagt Heinrich August Winkler. Gelingt ihm das auch dieses Mal? Oder steht das, wie Winkler es nennt, „normative Projekt des Westens“ vor dem Aus? Darum wird es in der dritten und letzten Folge gehen.
Ich bin Jean-Marie Magro, und das die zweite Folge unseres Dreiteilers „Der Westen“: Wie uns die anderen sehen.
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