Vor 30.000 Jahren hatte die Eiszeit Europa noch fest im Griff. Damals, in der Altsteinzeit, verdrängte der anatomisch moderne Mensch zunehmend den Neandertaler. Was wissen wir über unsere Vorfahren? Von Katharina Hübel (BR 2024) Hier der Link zur Umfrage für die ARD Audiothek: https://1.ard.de/umfrage-alles-geschichte- Für alle anderen Podcast-Plattformen: Bitte nutzt den Link in den Shownotes.
Vor 30.000 Jahren hatte die Eiszeit Europa noch fest im Griff. Damals, in der Altsteinzeit, verdrängte der anatomisch moderne Mensch zunehmend den Neandertaler. Was wissen wir über unsere Vorfahren? Von Katharina Hübel (BR 2024) Hier der Link zur Umfrage für die ARD Audiothek: https://1.ard.de/umfrage-alles-geschichte- Für alle anderen Podcast-Plattformen: Bitte nutzt den Link in den Shownotes.
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Credits
Autorin: Katharina HĂĽbel
Regie: Irene Schuck
Sprecherin: Jennifer GĂĽzel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. George McGlynn, Prof. Dr. Cosimo Posth, Prof. Dr. Wilfried Rosendahl, Prof. Dr. Thorsten Uthmeier
Besonderer Linktipp der Redaktion:
NDR (2024): Becoming the Beatles – Hamburger Jahre
"We grew up in Hamburg", hat John Lennon gesagt. Und auch: "Live waren wir nie besser." Obwohl der erste Auftritt der Band in einem Stripclub auf St. Pauli ein totaler Reinfall war. Was ist da also passiert auf dem Hamburger Kiez zwischen 1960 und 1963? Wie wurden aus ein paar unbedarften Liverpooler Jungs absolute Superstars? Der Podcast erzählt, wie die jungen Beatles auf den Bühnen der Reeperbahn die Nächte durchspielen. Mit eisernem Willen einen Traum verfolgen. Und für immer die Popmusik-Geschichte verändern. Eine sechsteilige Podcast-Serie von NDR Kultur. ZUM PODCAST
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Linktipps:
WDR (2023): Die Eiszeitkünstler – Als der Homo Sapiens kreativ wurde
Die ältesten Kunstwerke der Menschheit liegen in einer schwäbischen Höhle - das berichtet "Nature" am 18.12.2003. Ein neuer Blick auf die frühe Menschheitsgeschichte ... Wissenschaftler finden bei Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb drei kleine Skulpturen aus Mammutelfenbein. Sie sind ein neuer Beleg dafür, dass das Gebiet an der oberen Donau ein wichtiges Zentrum der kulturellen Entwicklung des anatomisch modernen Menschen ist. JETZT ANHÖREN
ARD alpha (2022): Vom Geben und Nehmen – Jäger und Sammler
Steinzeitmensch Ötzi erzählt uns von seinen Vorfahren und aus seiner Zeit. Vor 15000 Jahren arbeiteten die Menschen zwei bis vier Stunden täglich. Sie arbeiteten und lebten für den Moment und planten nicht für die Zukunft. Die Männer jagten, die Frauen sammelten: eine erste klare Arbeitsteilung! Trotzdem waren alle gleichgestellt. Das Ergebnis der eigenen Arbeit ließ man - anders als heute - anderen zukommen. Man teilte, weil es sich so gehörte. Ab ca. 10000 v. Chr. wurden die Menschen dann sesshaft. Zu ihnen gehörte auch Ötzi. Sie betrieben Ackerbau und Viehzucht. Die Frauen hatten ihren "Preis". Nach und nach entstand die wirtschaftliche Basis für Herrschaft und Ungleichheit. JETZT ANSEHEN
ARD alpha Uni (2024): Archäologin
Elena arbeitet als Archäologin bei einer Grabungsfirma in Bayern. Natürlich ist das Ziel alte Befunde auszugraben, doch ein großer Teil der Arbeit ist Koordination, Bürokratie, Spurensuche bei den kleinsten Details und auch Fehlschläge. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂĽr Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.Â
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & ATMO (Knistern)
01 OT McGlynn
Wie Sie sehen: sehr gut verpackt, um den Schutz zu gewähren… In diesem Fall haben wir hier einen Oberschenkel und sehr schön intakt…
Sprecherin:
In drei unspektakulär grauen Pappkartons – Spezialanfertigung, säurefrei – lagert er: der älteste Homo Sapiens, den Wissenschaftler bislang in Deutschland gefunden haben, der Menschentyp, der dem Neandertaler den Rang ablaufen wird. Rund 34.000 Jahre alt, aus der Eiszeit. Ein „Bayer“, wenn man so will. Der so genannte „Mann von Neu-Essing“. In den Kisten der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München lagert sein Schädel, mit deutlichen Löchern zwar, aber dennoch gut erkennbar als menschlich, die beiden Kiefer mit Zähnen, Rückenwirbel, Arm- und Fingerknochen, Rippenbögen, Bruchstücke des Beckens, Schenkelknochen…
02 OT McGylnn
Knochenoberflächengelenk hier… und Muskelansätze auf der anderen Seite sehr gut zu erkennen…
MUSIK
Sprecherin:
Der „Mann von Neu-Essing“ ist einer der ersten anatomisch modernen Menschen, die in Europa überhaupt gelebt haben. Menschen, die uns mitgeprägt haben. Können deren Skelette Antworten geben auf die Fragen: Woher stammen wir? Wer sind unsere Vorfahren?
03 OT McGlynn
Funde aus dieser Zeit sind absolute Raritäten.
Sprecherin
Sagt der Wissenschaftler Dr. George McGlynn. Das heutige Nordspanien, Frankreich oder Belgien, beispielsweise, sind Regionen, die vor 34.000 Jahren ebenfalls eisfrei waren und bewohnt von homo sapiens. Zudem waren Teile des heutigen Tschechiens und Österreichs von einzelnen Menschengruppen bewohnt. Jäger und Sammler, die mobil waren und den Tieren hinterher zogen.
04 OT McGlynn
Wir sprechen von einem Zeitpunkt, wo doch viel Vergletscherung war und eine sehr harsche Umgebung. Der Neuessinger Mann ist ein fast vollständig intakter Skelettfund, manche von den anderen Funden sind lediglich einzelne Knochenfunde, ein Kiefer, ein Schädelstück, deshalb ist der Neuessinger Fund auch etwas ganz Besonderes wegen seiner Intaktheit. Man kann schon sagen, die Fundzahl von fünf, sechs Fundplätzen beträgt so um die 35 bis 40 Funde. Das ist ein absoluter Glücksfall, wenn man etwas findet, ganz selten findet man mehrere Teile eines einzelnen Individuums. Und anhand dieser fragmentierten Funde ist man praktisch als Wissenschaftler gezwungen, sehr viel reinzulesen. Aber es ist auch eine Riesenherausforderung.
Sprecherin
Die George McGlynn nicht alleine angeht.
MUSIK
Sprecherin
Die Archäologie hat im letzten Jahrzehnt durch naturwissenschaftliche Methoden einen Modernisierungsschub bekommen. Archäologen kooperieren mit Chemikern, Genetikern, Informatikern. Denn manchmal trügt der Anschein und erst das Labor verrät die korrekten Daten. Wie beim „Mann von Neu-Essing“, der über viele Jahrzehnte falsch datiert, nämlich viel jünger geschätzt, in den Archiven verschwunden war. Sein Fall ist nun wieder aufgerollt und liefert neue Erkenntnisse über die Menschen in der Eiszeit.
ATMO (Wind und Schritte)
Sprecherin
Wobei mit „Eiszeit“ die letzte Kaltzeit in der Geschichte unseres Planeten gemeint ist. Durchgängig kalt und eisig war es dabei gar nicht immer, erklärt Prof. Thorsten Uthmeier, der am Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg arbeitet und den Fundort des Mannes von Neu-Essing mit untersucht hat.
OT05 Uthmeier
Im Schnitt ist es so, dass die Jahresmitteltemperaturen bestimmt so zwischen sechs und acht Grad niedriger waren als die heutigen Jahresmittelwerte, mit auch während der Eiszeiten relativ milden Sommern, aber eine kurze Vegetationsperiode und sehr, sehr kalte Winter. Also im Schnitt Temperaturen von minus zwanzig bis minus zehn Grad.
ATMO (Schritte auf Schnee / Wintersturm)
Sprecherin
Die Temperaturen konnten aber auch auf Minus vierzig Grad fallen, Dauerfrost war angesagt. Und oft gab es Winterstürme. Klima-Archäologen rekonstruieren die Temperaturen der Vergangenheit über Eisbohrkerne, aus Grönland oder der Antarktis. Gigantische Bohrkerne von über 3 Kilometern Länge.
MUSIK
Sprecherin
Im Eis ist Staub eingeschlossen, außerdem Luft. Noch wichtiger: Sauerstoff, der im gefrorenen Eiszeitwasser konserviert ist. Er kann Chemikern etwas über die damalige Temperatur verraten. Je nachdem, wie viele Neutronen sich in den Sauerstoffatomen befinden. Ihre Anzahl schwankt je nach Außentemperatur. Außerdem geben Knochen-Funde Aufschluss über die eiszeitlichen Lebensbedingungen. Wissenschaftler nennen sie: „Umwelt-Archive“. Über die Knochen bestimmen die Archäologen die Tierarten und wann sie gelebt haben. Damit wissen sie, wovon sich die Menschen damals ernährt haben und bekommen auch eine Vorstellung von den Temperaturen.
07 OT Uthmeier
Hier sind es in der Regel Rentiere, zum Teil auch Pferde, die haben eine große Temperaturtoleranz, die weichen dann vielleicht auf andere Weidegebiete aus. Die können auch niedrigeren Temperaturen widerstehen.
Sprecherin
Kleinere Tiere wie bestimmte Maus- oder Nagerarten hingegen halten extreme Kälte nicht so gut aus. Auch Pflanzen verraten mehr über das Klima und über die Möglichkeiten der Menschen.
OT08 Uthmeier
Wir dürfen uns das nicht so vorstellen, dass das Wälder gewesen sind, sondern in aller Regel sind das so kleine buschartige Gewächse von Nadelgehölzen. Wir wissen, dass die Beschaffung von Brennholz wahrscheinlich eine relativ schwierige Aufgabe gewesen ist. Weil es durchaus Konstruktionen gibt, um mit dem Brennholz besonders ökonomisch umzugehen. Regelrechte Herdkonstruktionen, eine Steinsetzung, die man dann mit einer Steinplatte abgedeckt hat. Und auf diese Art und Weise hatte man eigentlich einen kleinen Ofen und konnte auf diese Weise mit der Erhitzung der Steine ganz ökonomisch mit dem Brennholz umgehen, und das waren meistens nur kleine Zweige.
Sprecherin
Das Eis der kilometerhohen Gletscher bedeckte vor 34.000 Jahren ganz Nordeuropa, aber auch das heutige Nord- und Ostdeutschland, sowie den untersten Zipfel Süddeutschlands. Bayern hingegen – der Lebensraum des Mannes von Neu-Essing - war größtenteils eisfrei. Die Gebiete des heutigen Bodensees, Ammersees, Starnberger Sees und Chiemsees lagen allerdings unter einer über ein Kilometer dicken Eisschicht. Die Landschaft weiter nördlich bestand aus üppigen Steppen, die im Sommer auch schnee- und eisfrei waren und in denen Jäger und Sammler ein gutes Nahrungsangebot finden konnten. Da viel Wasser in den Gletschern gespeichert war, war der Himmel recht wolkenfrei und hell, mit viel Sonnenschein.
OT09 Rosendahl
Damals waren die Tiergruppen, die in groĂźen Herden vorhanden waren, das wichtige Lebenspotenzial.
Sprecherin
Professor Wilfried Rosendahl ist wissenschaftlicher Vorstand des „Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie“, das den „Mann von Neu-Essing“ neu durchleuchtet hat.
MUSIK
Sprecherin
Weitläufige Gras-Steppen voller Kräuter und Blumen sind der Lebensraum für zahlreiche Herden von Wollhaar-Mammuts, Wild-Pferden, Riesenhirschen oder Moschusochsen. Aber auch für gefährlichere Tiere, die sich heute in Mitteleuropa nicht mehr wohl fühlen würden wie Flusspferde und Wollhaarnashörner; zottelige Höhlenbären, -Löwen, -Hyänen und Säbelzahntiger. Die Menschen zur letzten Kaltzeit hatten – trotz aller Gefahren – also einen reich gedeckten Tisch:
OT10 Rosendahl
Die können Wurzeln essen. Sie können im Herbst Nüsse essen, im Frühjahr Beeren. Sie können frische Blätter essen, aber das limitiert sich natürlich mit dem Vorhandensein von Vegetation. Aber im Frühjahr gibt es eben Pflanzensprösslinge, die sie essen können.
Sprecherin
Löwenzahnblätter, junge Fichtenspitzen. Heilende Kräuter wie Thymian oder Spitzwegerich, Birkenblätter. Als besondere Delikatesse gab es manchmal sogar Honig – und fischen konnten die Menschen vor 34.000 Jahren natürlich auch schon.
ATMO (peitschender Wind)
Sprecherin
Der Winter konnte mit Stürmen recht ungemütlich und kalt werden, aber die Jäger und Sammler wussten sich zu helfen – mit Zeltkonstruktionen, Rückzug in Höhlen und natürlich: Feuer.
11 OT Rosendahl
Die Menschen konnten Leder gerben, sie konnten Kleidung herstellen, sie konnten nähen, sie haben Knochenwerkzeuge hergestellt, Steinwerkzeuge hergestellt. Sie haben aus Elfenbein Kunstwerke geschnitzt. Sie haben aus Knochen Flöten gemacht, sie haben sich wahrscheinlich geschminkt. Also sie hatten ein ganz, ganz buntes Leben. Um das tägliche Überleben zu sichern, mussten sie nicht acht Stunden am Tag arbeiten. Man muss sich bewusst machen: Es gibt Eiszeit-Kunstwerke in Südwestfrankreich, da sind in die Felswand hineingepickelt mit Steinwerkzeugen Pferde, die galoppieren über einen Meter Länge, drei, vier Pferde hintereinander. Das machen Sie nicht, wenn Sie täglich jede Sekunde irgendwie am Lebenslimit nagen und gucken müssen, dass Sie überleben, da ist auch Zeit für Muße, für Schönes und für Kreativität.
Sprecherin
Für die Jäger und Sammler vor zehntausenden von Jahren gab es mehr im Leben als nur das Überleben. Das Neu-Essing-Skelett wurde in einer Höhle gefunden, gut vier, fünf Meter unter der Erdoberfläche begraben. Eingefärbt mit Rötel.
12 OT Rosendahl
Also mit einem roten, pulverartigen Ton, das kann rituelle Bedeutung haben. Und wenn ich eine Bestattung habe, dann verrät mir das schon was, dann muss das mit einer Glaubensvorstellung verbunden sein. Dass es nach dem Tod noch was gibt, das zeigt schon mal wie intensiv auch das Gruppenleben war und wie die Gedankenwelt dieser Menschen war.
Sprecherin
Beim Fund von Neu-Essing handelt es sich um die älteste menschliche Bestattung, die Archäologen in Deutschland bislang finden konnten.
MUSIK
Sprecherin
Es ist deshalb ein so wichtiger Fund, weil er ein entscheidendes Puzzle-Teil mehr für die Forscher darstellt. 1913 wurde er von Archäologen ausgegraben – an einem vielschichtigen Fundort in der Nähe von Kelheim in Niederbayern, den inzwischen auch Thorsten Uthmeier mit seinem Team untersucht hat.
13 OT Uthmeier
Wenn man auf dem Kirchplatz in Neu-Essing steht, dann links sieht man den Felsen, wo die Sesselfelsgrotte ist. Da gibt es Fundschichten aus der Zeit der Neandertaler. Da gibt es zehntausende von Steinwerkzeugen. Es gibt die ganze Jagdbeute, es gibt Umweltdaten. Und dann gibt es aber auch Daten aus der Zeit der späteiszeitlichen Jäger und Sammler…
Sprecherin
Ein ganzer Höhlenkomplex. In der so genannten „Mittleren Klause“ war der „Mann von Neu-Essing“ bestattet. Auch wenn der „Mann von Neu-Essing“ schon 1913 eine Sensation war, als er ausgegraben wurde – die wirkliche Dimension des Fundes ist erst in den letzten Jahren deutlich geworden.
MUSIK
Sprecherin
Ein großes, interdisziplinäres Archäologenteam beginnt, den Fund nach modernsten Standards zu untersuchen. George McGlynn von der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München schaut sich zunächst die Knochen an, vermisst sie und prüft ihren Zustand. Da gibt es die nächste Überraschung für die Forscher – die eine bis dahin gültige Annahme über die Eiszeit widerlegt:
15 OT McGlynn
Der Neu-Essinger ist interessanterweise kein großer, robuster, kräftiger Kerl, wie man es vielleicht erwarten würde bei solch widrigen Lebensumständen, allein die Kälte und die Wildtiere. Wir wissen, dass der frühere Mensch, der Homo Sapiens, in Europa und auch in Afrika, wo er herkommt, in Gruppen gelebt hat – er muss in Gruppen gelebt haben...
Sprecherin
Als Gruppe zu funktionieren war der entscheidende Vorteil des Homo sapiens in der Kältezeit.
16 OT McGlynn
Vielleicht 30 Personen, ist jetzt rein spekulativ, aber damit eine kleine Gruppe von Jägern und Sammlern überleben kann, muss es diese Anzahl betragen. Sie haben ganz sicher miteinander gejagt, miteinander gesammelt, einander verteidigt, füreinander gesorgt. Und genau diese Gruppendynamik muss existiert haben, um die Überlebenschancen zu sichern. Ein Einzelkämpfer in so einer Umgebung, das gab es einfach nicht.
Sprecherin
So konnte er auch mit gerade mal ein Meter sechzig und nicht besonders muskulös gesund alt werden. Wie ausgeprägt die Muskeln waren, kann George McGlynn an Veränderungen und Verfärbungen auf der Knochenoberfläche erkennen.
17 OT McGlynn
Unser Neu-Essinger Mann ist eigentlich ein kleiner, grazil gebauter Mann, er hat auch kaum irgendeine nennenswerte Knochenveränderung, was auf Gewalt oder Verletzungen hindeuten würde. Und ist aber trotzdem fast 50 Jahre alt geworden.
Sprecherin
George McGlynn schätzt sein Sterbealter, indem er sich anschaut, wie sehr die Backenzähne und Beckengelenke abgenutzt sind. Demnach ist der Mann von Neu-Essing mit zirka 50 Jahren deutlicher älter geworden als Forscher das bislang für Menschen aus der Eiszeit angenommen haben – mit einem Durchschnittsalter von 30 bis 35 Jahren. Knochen und Zähne des Neu-Essingers sehen mustergültig aus, stellt Archäologe George McGlynn fest.
18 OT McGlynn
Er hatte auch keine so genannten physiologischen Stressmarker. Zum Beispiel, wenn im Kindesalter, wenn sich der Zahnschmelz vom Dauergebiss entwickelt, lang anhaltende Fieber oder Unterernährung oder schwere physiologische Stresse leiden, unterbricht der Körper den Entwicklungsprozess. Und das führt zu einer Verzögerung von dieser Bildung von Zahnschmelz. Diese Verzögerung führt dazu, dass man wellenartige Linien an den Zähnen sieht. Das ist ein Beispiel.
MUSIK
Sprecherin
George McGlynn konnte noch mehr herausfinden: Wo der Mann von Neu-Essing unterwegs war. Mit der so genannten Stronziumanalyse. In Knochen ist unter anderem auch Stronzium enthalten. Je nachdem, welche Nahrung ein Mensch zu sich nimmt, auf welchem Boden die Pflanzen gewachsen sind, die er isst, oder welche Luft er atmet, welche Temperaturen ihn umgeben haben, lagern sich andere Varianten der Elemente im menschlichen Körper ab – auch in Knochen und Zähnen, die Archäologen zehntausende Jahre später noch finden können. Diese chemische Varianz macht sich die Archäologie zu nutze.
19 OT McGlynn
Ich stamme persönlich aus den USA, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Das hat sich in meinen Knochen und meinen Zähnen verfestigt als Baustein und in den Zähnen, was Zahnschmelz wird. Diese werden nicht abgebaut, sie verändern sich nicht, sie sind praktisch amerikanische Zähne. Aber meine Knochen, die bauen sich ständig um. Jeden Tag, jede Minute. Binnen zehn Jahren sind alle Baustoffe in einem Knochen komplett ausgetauscht. Ich habe keine Spur von amerikanischen Knochen in mir. Wenn man meine Zähne und Knochen vergleichen würde auf chemischer Ebene, würde man sofort sehen: Dieser Mensch ist woanders geboren und aufgewachsen als wo er jetzt ist.
Sprecherin:
Archäologen können feststellen, in welcher Gegend ein Mensch gelebt haben muss, indem sie die chemischen Signaturen seiner Zähne und Knochen vergleichen mit Funden aus verschiedenen Regionen. Und wenn die chemische Signatur von Zähnen und Knochen gleich ist, wie beim Mann von Neu-Essing, wissen sie: Er ist zeitlebens in einer ähnlichen Gegend geblieben.
20 OT McGlynn
Allerdings heißt es nicht, dass er sich nicht bewegt hat. Jäger und Sammler haben sich mit den Saisonen sehr stark bewegt, an die Kältezeit, Wärmezeit, sie haben sich auch an die Herden angepasst, an die Bewegung von Tieren.
Sprecherin
Auch wissen die Forscherinnen und Forscher mehr ĂĽber seinen Speiseplan. Durch die Isotopen-Analyse. Dabei werden erneut chemische Elemente in den Knochen untersucht. Wie zum Beispiel Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Sie unterscheiden sich voneinander durch die Anzahl der Neutronen. Diese Varianten eines Elements heiĂźen Isotope.
21 OT McGlynn
Für Ernährung ist es wichtig, eine Isotopie-Karte von der Gegend zu machen. Das heißt, wir nehmen Pflanzen, Tiere, Erdproben, Knochenfunde aus der Zeit. Und wir untersuchen diese zuerst und kriegen für Kohlenstoff eine gewisse so genannte Signatur, was für Wollnashorn, für Mammut, für alle Rothirsche, für Gräser oder Baumrinde spezifisch ist.
Sprecherin
Die Isotopenwerte haben beim Mann von Neu-Essing ergeben, dass er eine Allround-Ernährung hatte: Er nahm Großwild wie Mammuts und Riesenhirsche genauso zu sich wie Hasen oder Eichhörnchen. Auch Schnecken, Raupen, Frösche, Beeren, Gräser, Kräuter und Fisch.
MUSIK
Sprecherin
Doch wer war der „Mann von Neu-Essing“? Darauf gibt die Genetik Antwort.
22 OT McGlynn
Die übliche Darstellung von Jägern und Sammlern aus dieser Zeit weicht sehr stark ab phänotypisch, wie er ausgesehen hat, von dem, was wir gefunden haben durch die molekulargenetischen Untersuchungen, die in Mainz von meinem Kollegen Burger und Team durchgeführt wurden. Diese Methoden gibt es erst seit vielleicht einem Jahrzehnt. Sein Aussehen ist mit bis zu 98, 99 Prozent dunkelhaarig, mit dunklen Augen, aber auch dunkler Hautfarbe, und die übliche Darstellung von den nordisch ausschauenden Menschen stimmt einfach nicht. Wir sehen, dass diese Wanderung aus der so genannten out of Africa-Theorie mit hundertprozentiger Sicherheit auch zutrifft. Diese Homo-Sapiens-Gruppen sind vor etwa 50.000 Jahren aus Afrika in zwei Wellen nach Europa ausgebreitet.
Sprecherin:
Auch die Vorstellung, davon, wie „Ötzi“ ausgesehen hat, ist übrigens erst 2023 durch die Gen-Analyse korrigiert worden: Auch die berühmte Gletschermumie aus den Südtiroler Alpen hatte dunkle Haut, dunkle Augen, dunkle Haare. Und Ötzi ist rund 30.000 Jahre jünger als der „Mann von Neu-Essing“. Die dunkle Hautfarbe der ersten Menschen in Europa hat sich also viel länger gehalten als bislang angenommen. Auch die Darstellung des Ötzi im Museum muss jetzt korrigiert werden. Dort steht immer noch eine Gestalt mit heller Haut. Die ersten Europäer – sie waren auf jeden Fall dunkelhäutig.
MUSIK
Sprecherin:
Und auf die Archäologinnen und Archäologen warten noch weitere Überraschungen. Jetzt hat ein Forscherteam von 125 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die bislang umfangreichste Genom-Analyse eiszeitlicher Jäger und Sammler in Europa begonnen: 116 Individuen, die eine Zeitspanne von rund 30.000 Jahren abdecken. Professor Cosimo Posth ist Paläogenetiker an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und leitet das Projekt. Ihn hat erstaunt, dass die eiszeitlichen Homo Sapiens genetisch längst nicht so einheitlich waren wie bislang angenommen. Es gab ihn nicht: DEN Eiszeit-Menschen. Besonders drastisch zeigt sich das an einem Beispiel. Lange haben sich Archäologen gefragt: Was ist eigentlich mit den ersten Menschen in Europa passiert, als sich die Eispanzer von Norden her weiter ausgebreitet haben, vor 25.000 bis 19.000 Jahren? Als viele Gebiete, auch im heutigen Bayern, unbewohnbar wurden? Eine Theorie war: Sie gingen ins heutige Italien. Das hat sich zwar bewahrheitet. Doch was dann geschehen ist, damit hatte Cosimo Posth nicht gerechnet: Die komplette Bevölkerung starb aus. Die Menschen, die danach im heutigen Italien lebten und nachweisbar zu unseren Vorfahren gehören, haben genetisch nichts mit den aus dem Norden zugewanderten Eiszeitmenschen zu tun.
24 OT Cosimo Posth
Wo ist der Ursprung der Population, die uns mehr als zehn Prozent der DNA gegeben hat?
MUSIK
Sprecherin:
Die Spurensuche geht weiter für die Archäologinnen und Archäologen. Sicher ist: Eiszeitmenschen gehören zu unseren Vorfahren, doch wie sich das genetisch darstellt, stellt sich heute komplexer dar, als jemals zuvor.