Sagenhafte Reichtümer, weise Herrscher, seltsame Bräuche. Marco Polos Bericht von seiner Asienreise macht ihn bis heute zum berühmten Abenteurer. Doch lässt sich der historische Marco Polo von seinem Mythos trennen? Von Niklas Nau (BR 2018)
Sagenhafte Reichtümer, weise Herrscher, seltsame Bräuche. Marco Polos Bericht von seiner Asienreise macht ihn bis heute zum berühmten Abenteurer. Doch lässt sich der historische Marco Polo von seinem Mythos trennen? Von Niklas Nau (BR 2018)
Credits
Autor: Niklas Nau
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Stefan Wilkening, Beate Himmelstoß, Christian Schuler
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Dr. Marina Münkler
Linktipps:
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Spätestens seit den Reiseberichten Marco Polos strahlen die Länder der Seidenstraße eine ungeheure Faszination aus. Daran hat sich bis heute nichts geändert, wie ein Besuch in Kirgistan und Usbekistan zeigt. JETZT ANSEHEN
WDR (2024): „Die Wunder der Welt“ – Der venezianische Reisende Marco Polo
Am 8.1.1324 ist Marco Polo gestorben, das steht fest. Aber was ist wahr von all den unglaublichen Geschichten und Abenteuern, die er auf der Reise seines Lebens erlebt haben will? Der venezianische Asienreisende Marco Polo wird durch die Berichte über seine Reise ins Kaiserreich China des 13. Jahrhunderts bekannt. Obwohl einzelne Historiker Zweifel an der China-Reise äußern, wird diese von den meisten Historikern als erwiesen angesehen. JETZT ANHÖREN
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
SPRECHER
Es ist der 11. April 1241. Als die Sonne untergeht, ist vom dem einst so stolzen ungarischen Heer, das sein Lager südwestlich des Flusses Sajó aufgeschlagen hat, fast nichts mehr übrig. Eine mongolische Streitmacht hatte den Fluss überschritten und das ungarische Camp dem Erdboden gleichgemacht.
SPRECHERIN
Nur zwei Tage zuvor hatte ein anderes mongolisches Heer bei Liegnitz ein schlesisch-polnisches Heer vernichtend geschlagen. Nichts scheint den mongolischen Eroberungszug Europas aufhalten zu können.
SPRECHER
Doch so schnell die furchterregenden Reiter gekommen waren, so schnell verschwinden sie damals auch wieder. Der mongolische Heerführer will bei der Wahl des neuen Großkhans weit entfernt in der asiatischen Steppe mitreden und zieht sich zurück – er hinterlässt das Abendland im Schockzustand.
MUSIK
SPRECHERIN
Wer waren diese Krieger, denen die schwerfälligen christlichen Ritter so wenig entgegenzusetzen hatten? Man nannte sie damals „Tartaren“, das Volk aus dem Tartaros – der Hölle. Religiöse Hysterie machte sich breit, erklärt die Literaturwissenschafts-Professorin Marina Münkler von der TU Dresden:
Prof. Marina Münkler 1
„Man hat sich gefragt, ob das die Vorboten des Weltendes sind, ob das apokalyptische Völker sind, die nun die Welt verheeren werden. Und deswegen hat man die ersten Gesandtschaften in den Osten gesandt.“
SPRECHER
Doch es sind nicht diese ersten Gesandten zu den Mongolen, mit klingenden Namen wie Johannes de Plano Carpini, Andreas von Longjumenau oder Wilhelm von Rubruk, an die wir uns heute noch erinnern. Nein, es ist der Name eines anderen Mannes, der erst einige Jahre später überhaupt geboren werden sollte, der die Jahrhunderte überdauern wird.
MUSIK
SPRECHERIN
Marco Polo
SPRECHER
Der Name eines Abenteurers, ja des Abenteurers schlechthin. Warum wurde gerade aus ihm, dem Sohn eines venezianischen Kaufmanns, ein weltweit bekannter Mythos? Venedig, im Jahr 1254, dreizehn Jahre nach dem mongolischen Einfall in Europa: Es ist das Geburtsjahr Marco Polos. Wo genau er das Licht der Welt erblickt, weiß man nicht. Doch es ist wahrscheinlich, dass er seine Jugend irgendwo hier, in den Gassen und auf den Kanälen Venedigs verbringt.
SPRECHERIN
Schon damals war die „schwimmende Stadt“ eine blühende Handelsmetropole – mit gehöriger militärischer Schlagkraft. Ihre Macht reichte bis weit in den Osten, in Städte wie Konstantinopel oder Soldaia auf der Krim – wichtige Tore nach Asien, ins Reich der Khans.
MUSIK
SPRECHER
Dorthin blickte Europa, nachdem die ersten Gesandten zurückkehrt waren, mit gemischten Gefühlen. Die religiöse Hysterie war zwar abgeebbt, aber die Furcht vor den Tartaren, die damals das bis heute größte zusammenhängende Landimperium der Welt errichteten, blieb. Doch gleichzeitig keimte die Hoffnung, in den Mongolen Verbündete im Kampf gegen die muslimischen Heere im Heiligen Land zu finden. Und gerade hier in Venedig muss damals noch ein anderes Versprechen in der Luft gehangen haben - von den sagenhaften Reichtümern des Ostens.
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SPRECHERIN
Wenn der junge Marco Polo seine Gedanken nach Osten schweifen ließ, sehnte er sich vielleicht nach etwas ganz anderem: Denn er wuchs als Halbwaise bei Verwandten auf. Seine Mutter war gestorben, und sein Vater Niccolò Polo war schon vor Marco‘s Geburt zusammen mit seinem Bruder Maffeo den Verheißungen des Ostens gefolgt und als Händler schließlich sogar bis an den Hof Kublai Khans gelangt. So behauptet es jedenfalls der Bericht, den Marco Polo viele Jahre später über sein eigenes großes Abenteuer verfassen sollte. Laut diesem Bericht empfing der Großkhan Niccolò und Maffeo Polo freundlich, mehr noch - er machte sie kurzerhand zu seinen Gesandten:
MUSIK
ZITATOR
„Hierauf befahl er, dass in seinem Namen an den Papst zu Rom Briefe in tatarischer Sprache abgefasst und ihnen in ihre Hände übergeben werden sollten. Auch ließ er ihnen eine goldene Tafel geben, auf welche das kaiserliche Zeichen eingegraben war, nach dem Brauch, den seine Majestät eingeführt hatte: der, dem diese Tafel verliehen, wird mit samt seinem Gefolge von den Gouverneuren aller Plätze in den kaiserlichen Ländern von Station zu Station sicher geleitet.“
SPRECHER
Marco Polo soll 15 Jahre alt gewesen sein, als sein Vater zurückkehrte. Wie lief die erste Begegnung ab? In Polos Bericht steht darüber kein Wort. Nur, dass Niccolò und Maffeo Polo sich zwei Jahre später abermals auf den Weg zum Großkhan machten. Mit Geschenken, einem Antwortbrief des Papstes – und dem jungen Marco. Dieser sollte Venedig lange Jahre nicht wiedersehen.
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Prof. Marina Münkler 2
„Das war eine weite und auch nicht ungefährliche Reise, denn natürlich konnte auf dem Weg alles Mögliche passieren. Andererseits hatten die Mongolen zu diesem Zeitpunkt schon ein sehr gut funktionierendes Postsystem aufgebaut, das heißt, es gab Stationen an denen man die Pferde wechseln konnte. Wenn man denn eine solche mongolische Gesandtentafel hatte, dann wurde man tatsächlich geleitet.“
SPRECHERIN
Man könnte nun vermuten, die vielen packenden Abenteuer, die der junge Mann trotz goldener Tafel auf der Reise durch fremde Länder bestehen musste, seien der Grundstein seines Mythos. Doch paradoxerweise sind vom großen Abenteurer so gut wie keine Abenteuer überliefert.
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SPRECHERIN
Der Prolog von Polos Bericht fasst die Reise in nur wenigen Zeilen zusammen: Sie habe dreieinhalb Jahre gedauert und die Polos an manch gefährliche Orte geführt. Auch über seine Zeit im Reich Kublai Khans, wo Polo 17 Jahre zugebracht haben will, und die vier Jahre dauernde Rückreise verliert der Prolog nur wenige Worte.
SPRECHER
Im Hauptteil seiner Erzählung taucht Marco Polo selbst dann nur noch sehr selten auf. Etwa, wenn bei der Beschreibung der heilenden, reinen Bergluft in der Provinz Balaschan kurz angemerkt ist, dass Marco Polo diese Heilung am eigenen Leib beobachten konnte, weil er ein Jahr lang „krank darniederlag“.
MUSIK
SPRECHERIN
An anderer Stelle berichtet Polo von einem Räuberstamm, den Karaunas:
ZITATOR
„In Indien erlangten sie die Kenntnis magischer und teuflischer Künste, vermittels derer sie eine Finsternis hervorbringen können, die das Licht des Tages so sehr verdunkelt, dass die Leute einander unsichtbar werden […] Marco Polo wurde selbst in eine solche zauberkünstliche Finsternis gehüllt, entkam aber daraus in das Schloß Konsalmi. Einige seiner Gefährten jedoch wurden gefangen und verkauft und andere erlagen den Schwertern der Feinde.“
SPRECHER
Doch von solch spärlichen Ausnahmen abgesehen: Der Bericht ist kein Abenteuerroman, sondern eine enzyklopädische Abhandlung des Ostens: Hier gibt es Gewürze und Gold, hier Rhabarber, dort prächtige Pferde und Falken. Doch Polo beschreibt nicht nur Waren, sondern auch Land und Leute – natürlich auch die in Europa als grausam und hinterlistig gefürchteten Mongolen.
Prof. Marina Münkler 3
„Aber Marco Polo beschreibt die Mongolen ganz anders. Marco Polo beschreibt den Mongolischen Aufstieg seit 1206 unter Dschingis Khan, er beschreibt ihn aber unter dem Vorzeichen einer guten Herrschaft, die die Mongolen über den Osten ausgeübt hätten. Er beschreibt die weise Herrschaft Kublai Khans, das ist der Mongolenherrscher, mit dem er es dann zu tun hat, und hat eine ganz neue Perspektive, und die ist sehr stark von Faszination und nicht von Furcht geprägt.“
SPRECHERIN
Der berüchtigte Dschingis Khan, dessen Feldzüge wohl Millionen Menschen das Leben kosteten – bei Polo wird er zum überall bejubelten Befreier. Vor allem aber schwärmt der Venezianer von Dschingis Khans Enkel – Kublai Khan.
MUSIK
SPRECHER
Dieser Kublai Khan sei nicht nur mächtiger als alle anderen Fürsten der Welt zusammen und sammle in seinen Palästen unermessliche Reichtümer. Sondern eben auch ein tapferer, tugendhafter Krieger, gerecht und gütig:
ZITATOR
„Der Großkhan sendet jedes Jahr Abgeordnete aus, um zu sehen, ob irgend welche von seinen Untertanen in ihren Kornernten von ungünstigem Wetter, von Sturm oder heftigem Regen, oder von Heuschrecken, Würmern oder irgend anderen Plagen gelitten haben, und in solchen Fällen steht er nicht allein von Eintreibung der gewöhnlichen Schatzung ab, sondern versorgt sie von seinen Kornböden.
SPRECHERIN
Wie kommt Marco Polo zu einer so positiven Einschätzung?
Prof. Marina Münkler 5
„Man könnte sagen, Marco Polo ist so etwas wie ein kultureller Überläufer. Er ist ja wenn seine zeitlichen Angaben korrekt sind, fast 25 Jahre im Reich des Großkhans gewesen, wenn man die Hin und Rückreise mitnimmt jedenfalls, und da ist es relativ plausibel, dass er in dieser Zeit einfach sehr viel gesehen und erfahren hat, was ihm den Eindruck vermittelt hat, die Mongolen seien den Europäern in vielen Belangen überlegen.“
SPRECHER
Die riesigen Städte Chinas etwa, über das Kublai damals herrschte, oder das ausgeklügelte Post- und Kuriersystem müssen Eindruck auf ihn gemacht haben. Besonders hat es ihm außerdem das Papiergeld, das im Reich des Großkhans damals verwendet wird, angetan.
SPRECHERIN
Doch was hat Marco Polo eigentlich während dieser ganzen 25 Jahre gemacht? In seinem Buch heißt es lediglich, er sei im Dienste des Großkhans durch dessen riesiges Reich gereist, und habe sich so sein einzigartiges Wissen über den Osten erworben:
Prof. Marina Münkler 6
„Also man weiß im Grunde nichts. Die einzige Angabe, die er macht, ist, er sei als Gesandter tätig gewesen. Das kann man nicht ganz ausschließen, denn die Mongolen haben gerne Europäer aber auch andere Nicht-Chinesen in ihre Dienste genommen und ihnen Aufträge gegeben. Möglich wäre auch und das lässt sich schlussfolgern aus den Gegenständen, über die Marco Polo besonders viel weiß, dass er so eine Art Beamter in der Salzbehörde gewesen ist.
SPRECHERIN
Doch es gibt auch Zweifel an Marco Polos Bericht.
MUSIK
SPRECHER
1995, London. Die Historikerin Frances Wood veröffentlicht ihr Buch: „Did Marco Polo go to China?“. Und schreibt: Nein, Marco Polo hat es selbst nie bis an den Hof Kublai Khans im heutigen Peking geschafft. Sein Wissen über den Osten: Aufgeschnappt oder aus anderen Quellen abgeschrieben.
SPRECHERIN
Medien und Öffentlichkeit stürzten sich damals auf das Buch. Der große Marco Polo – nichts weiter als ein gemeiner Schwindler?
SPRECHER
Tatsächlich ist Polos mehrere hundert Seiten langer Bericht gespickt mit Fehlern und Ungenauigkeiten. Er vertut sich beim Todesdatum von Dschingis Khan, bringt Ortsnamen, Entfernungen und Herrscher durcheinander.
SPRECHERIN
Als zentralen Beleg für ihre These führt Frances Wood aber etwas anderes an: nämlich dass Polo über viele Dinge nichts geschrieben hat, die ihm doch hätten auffallen müssen, wenn er selbst in China gewesen wäre: die chinesische Teekultur, die Schrift – die chinesische Mauer! Für Marina Münkler ist diese Argumentation zu einfach:
Prof. Marina Münkler 6
„Das sind alles argumenta ex silentio, also aus dem Schweigen über bestimmte Sachverhalte. Aber das unterschlägt einerseits die historische Differenz, denn was einem Autor vor 700 Jahren aufgefallen sein muss, kann etwas ganz anderes sein, als das, was Frances Wood, als sie in China war, selbst aufgefallen ist. Dann kommt noch hinzu, dass die chinesische Mauer beispielsweise überhaupt nicht so ausgesehen hat im 13.Jahrhundert, wie sie im 17.Jahrundert dann erbaut ist und bis heute steht. Also zu erwarten, dass Marco Polo etwas beschrieben haben müsste, was es in der Form noch gar nicht gegeben hat, das ist schon reichlich absurd.“
SPRECHER
2013, Tübingen. Der Sinologe Hans-Ulrich Vogel veröffentlicht „Marco Polo was in China“, gewissermaßen eine Gegenschrift zum Buch von Frances Wood. Während Wood sich auf das konzentriert hat, was Polo nicht aufgeschrieben hat, analysiert Vogel das, was er aufgeschrieben hat. Und kommt zu dem Schluss: Marco Polo besaß ein unglaubliches Detailwissen über das mongolische Reich. Vom Papiergeld, das den Venezianer so faszinierte, kennt er etwa nicht nur Farbe und Größe, sondern weiß auch, zu welchem Kurs beschädigtes Geld gegen neues eingetauscht werden konnte. Und: Moderne Laboruntersuchungen an gefundenen Scheinen zeigen: Das Geld wurde – wie von Polo behauptet – tatsächlich aus Rindenfasern des Maulbeerbaums hergestellt. Auch zu Verwaltungsorganisation oder den Feinheiten des Salzhandels hat Polo solches Detailwissen.
Kein endgültiger Beweis. Doch vieles scheint darauf hinzudeuten, dass Polo tatsächlich vor Ort war.
SPRECHERIN
Und doch hat die intensive historische Forschung auch gezeigt: Marco Polo war zu seiner Zeit keine Ausnahme: Auch andere Händler waren bis tief nach Asien gereist, hatten lange Jahre dort verbracht oder sich dauerhaft niedergelassen. Warum also wurde gerade ihm solcher Ruhm zuteil?
MUSIK
SPRECHER
1298, in einer Gefängniszelle in Genua: Marco Polo ist nach knapp 25 Jahren in der Fremde zurück nach Italien gekommen. Doch drei Jahre später gerät er in den Konflikt der Dauerrivalen Venedig und Genua. Er wird gefangen genommen. Und genau das ist das „Unglück“, das aus Polo letztlich eine Weltberühmtheit machen wird.
SPRECHERIN
Denn Polo‘s Zellengenosse ist Rustichello da Pisa, ein Autor von höfischen Romanen. Und Rustichello schreibt nieder – so behauptet es jedenfalls das fertige Buch –, was Marco Polo ihm von seinen wundersamen Reisen berichtet. Das ist es, was Marco Polo zu einer absoluten Ausnahme macht. Nicht, dass er als Händler nach Osten gereist war, sondern dass aufgeschrieben wurde, was er dort gesehen hatte.
SPRECHER
Rustichello macht Polo dabei aber eben nicht zur Hauptfigur eines Abenteuerromans, sondern zum Gewährsmann seines Tatsachenberichts.
Prof. Marina Münkler 7
„Wenn es dort heißt “Ihr Kaiser, Könige und Herren, nehmt dies Buch und lasst es euch vorlesen, denn kein anderer seit Adam weiß so viel über den Osten wie Messer Marco allein”, dann steckt darin der eigentliche Geltungsanspruch dieses Buches, nämlich ein Wissen zu vermitteln, das exklusiv ist und das auf Augenzeugenschaft beruht.“
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SPRECHERIN
Gleichzeitig verschwimmt der historische Marco Polo. Wie sehr hat der erfahrene Romanautor Rustichello das, was Marco Polo ihm erzählte, verändert, zusammengefasst, was hat er neu strukturiert, weggelassen oder hinzugedichtet? Niemand weiß das heute.
MUSIK
SPRECHER
Der Bericht, wird zum Bestseller. Was damals, in einer Zeit vor dem Buchdruck, bedeutet: Er wird wie verrückt abgeschrieben und in andere Sprachen übersetzt. Zu Marco Polo und Rustichello kommen so noch weitere „Koautoren“ dazu:
Prof. Marina Münkler 8
„Naja das Mittelalter kennt kein Urheberrecht. Das heißt, es gibt kein geschütztes Buch, sondern jeder kann im Grunde genommen, und das passiert beim Abschreiben auch immer wieder, denn das ist ja die Art und Weise, wie Literatur im Mittelalter verbreitet worden ist, (…) und bei diesem Prozess des Abschreibens ist es immer wieder zu Veränderungen gekommen. (...) Das hält diese Veränderer des Textes aber keineswegs davon ab, immer mal wieder einflechten zu lassen, “und das habe ich, Marco Polo, wirklich gesehen, und wenn ich es nicht selbst gesehen hätte würde ich es überhaupt nicht glauben.”
SPRECHERIN
Etwa 150 Versionen des Reiseberichts sind heute bekannt. Das Original gilt als verloren und kann aus den verschiedenen existierenden Versionen auch nicht rekonstruiert werden.
SPRECHER
Jede Abschrift, jede neue Version mehrt den Ruhm Marco Polos, als Mann, der mehr weiß über den Osten als jeder andere. Dabei werden Polo unterschiedlichste Aussagen in den Mund gelegt, die sich teilweise sogar widersprechen können. Etwa, wenn es um die sogenannte Gastprostitution in Tibet geht: Dass sich junge, unverheiratete Frauen dort gerne Reisende für eine Nacht ins Bett holen.
Prof. Marina Münkler 9
„Da steht in den franko-italienischen Varianten, weil das so sei, dass die tibetischen Frauen möglichst viele Sexualkontakte vor ihrer Heirat gehabt haben sollen, sei es ja sehr nett, wenn man dort vorbeikomme als junger Mann – hingegen steht in den lateinischen Fassungen, das sei ein widerwärtiger und abscheulicher Gebrauch, und an dem man dann quasi erkennen kann, auf welch niedriger zivilisatorischer und kultureller Stufe diese Völker stehen.“
MUSIK
SPRECHERIN
Trotz der vielen Abschriften hätten Marco Polo und seine Reise irgendwann in Vergessenheit geraten können, wie andere mittelalterliche Autoren auch. Dass das nicht passierte, hat er wohl auch einem anderen berühmten Abenteurer zu verdanken, vermutet Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler:
Prof. Marina Münkler 10
Dadurch, dass Cristoph Kolumbus diesen Bericht gelesen hat und im Grunde genommen ihn zum Anlass seiner Reise genommen hat, hat Marco Polo die Grenze zwischen Mittelalter und früher Neuzeit überschreiten können.“
ATMO (Sevilla)
SPRECHER
2018, Sevilla in Spanien. Vor der mächtigen gotischen Kathedrale drängen sich die Touristen in einer langen Warteschlange. Im Inneren: Das opulente Grabmal von Christoph Kolumbus. Nur einige Meter weiter aber, hinter einer unscheinbaren Pforte, liegt in der Kolumbus-Bibliothek noch heute die persönliche Marco-Polo Ausgabe des Amerika-Fahrers. In fein geschwungener Handschrift hat er sich am Rand Notizen gemacht. Häufig sind es nur einzelne Wörter, die er herausgeschrieben hat:
Prof. Marina Münkler
„Man kann sich das anschauen und dann stellt man fest, was ihn interessiert hat: Die Reichtümer des Ostens. Da wo Marco Polo von Perlen, Gold und Edelsteinen schreibt, da notiert das Kolumbus immer ganz eifrig ((am Rand)), das ist das was ihn interessiert.“
MUSIK
SPRECHER
Nach Amerika wollte Kolumbus nie. Er war auf der Suche nach einem neuen Seeweg nach Indien, um die von Marco Polo beschriebenen Reichtümer von dort nach Europa bringen zu können. Und auch wenn er sich im Kontinent irrte: Er machte sich selbst berühmt, und hielt die Berühmtheit Marco Polos weiter am Leben.
SPRECHERIN
Durch die vielen Jahrhunderte hindurch, hat sich allerdings durchaus die Form des Mythos Marco Polo geändert. Marco Polo ist eine wandelbare Projektionsfläche für die Tugenden eines Zeitalters.
Marina Münkler
„Mal ist Marco Polo der ritterliche Abenteurer, mal ist er der venezianische Kaufmann, mal ist er der gläubige Christ. Also das sind ganz unterschiedliche Gestalten, die da hervortreten. (…) Im 18. Jahrhundert interessiert man sich intensiv für Asien und schaut dann auch zurück, was wissen frühere Generationen (...)? Und dann ist man beeindruckt und macht aus Marco Polo so eine Art von frühem Wissenschaftler. Und im 19. Jahrhundert versucht man dann zu zeigen, dass Marco Polo der einzige Reisende ist, der wirklich etwas verstanden hat, weil er eben ein realistisch beschreibender Kaufmann gewesen sei, und im 20. Jahrhundert stellt man sich dann den großen Abenteurer, den man dann in Filmen verarbeiten, kann vor. Also es ändert sich relativ stark, was man sich von Marco Polo so alles vorstellt. Was sich nicht ändert ist, dass man sich unentwegt an ihm abarbeitet.“
MUSIK
SPRECHER
Diesem Abarbeiten ist zu verdanken, dass wir zumindest bruchstückhaft auch wissen, wie der historische Marco Polo sein Leben nach der Rückkehr nach Venedig verbrachte. Aus historischen Dokumenten lässt sich ablesen, dass er eine Frau aus dem venezianischen Adel heiratete, drei Töchter hatte und sich weiter an Handelsunternehmungen beteiligte. Mit rund 70 Jahren ist er gestorben. Sein Grab ist heute nicht mehr auffindbar. Der mythische Marco Polo aber ist unsterblich geworden.
SPRECHERIN
Wahrscheinlich ist es auch dieser mythische Marco Polo, dem man die Legende zurechnen muss, die man sich gerne von seinen letzten Stunden erzählt: Auf seinem Totenbett hätten seine Freunde ihn angefleht, nun endlich zuzugeben, dass sein fantastischer Bericht erlogen sei. Marco Polo soll darauf geantwortet haben: „Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe.“