Alles Geschichte - History von radioWissen   /     EURASIEN IM MITTELALTER - Globalisierung um das Jahr 1000

Description

Große VerĂ€nderungen passierten um das Jahr 1000: Die Wikinger kamen in Neufundland an, der Welthandel begann sich vor allem in Asien und Afrika zu entwickeln, in Europa brachten mildes Klima und Erfindungen AgrarĂŒberschuss, die StĂ€dte wuchsen. Die Epoche war aber auch von Endzeitstimmung geprĂ€gt. Von Brigitte Kramer (BR 2022)

Subtitle
Duration
00:20:55
Publishing date
2024-12-20 10:05
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/eurasien-im-mittelalter-globalisierung-um-das-jahr-1000/2101200
Contributors
  Brigitte Kramer
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2101200/c/feed/eurasien-im-mittelalter-globalisierung-um-das-jahr-1000.mp3
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Shownotes

Große VerĂ€nderungen passierten um das Jahr 1000: Die Wikinger kamen in Neufundland an, der Welthandel begann sich vor allem in Asien und Afrika zu entwickeln, in Europa brachten mildes Klima und Erfindungen AgrarĂŒberschuss, die StĂ€dte wuchsen. Die Epoche war aber auch von Endzeitstimmung geprĂ€gt. Von Brigitte Kramer (BR 2022)

Credits
Autorin: Brigitte Kramer          
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik:Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Johannes Preiser-Kapeller, Prof. Dr. Kristin Skottki

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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

SPRECHERIN
Im Jahr 1000 eröffneten die Fahrten der Wikinger von Skandinavien nach Kanada erstmals eine Route von Europa nach Amerika. Die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen setzt dieses Ereignis in ihrem Buch „Das Jahr 1000, als die Globalisierung begann“ mit der Entstehung eines globalen Netzwerkes gleich: Waren, Wissen und Menschen konnten erstmals quer ĂŒber den Globus transportiert werden – theoretisch zumindest.

SPRECHER
Mitgekriegt hat die Anlandung von Leif Eriksson vor Neufundland allerdings kaum jemand. Und viel passiert ist auf dieser ersten, europĂ€isch-amerikanischen Achse auch nicht. Anderswo auf dem Globus dagegen schon. Hansens knapp 400 Seiten dickes Buch erklĂ€rt, wie die Welt um die erste Jahrtausendwende aussah, wer mit wem wo Handel trieb und wie groß die kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede der Regionen damals waren. GeschĂ€tzte 250 Millionen Menschen lebten damals auf der Welt, davon allein 100 Millionen in China. Die meisten Menschen wussten gar nichts von anderen Völkern und Kulturen. Dazu fehlten ihnen Bildung und Zeit. Ihr Leben glich sich in gewisser Weise, sagt der Wiener Historiker Johannes Preiser-Kapeller:

O 0 JPK
80 bis 90 Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tĂ€tig und deren Leben ist natĂŒrlich ein sehr stark von harter Arbeit, von Entbehrungen geprĂ€gtes. Das können wir auch sehen, etwa in palĂ€o-pathologischen Befunden. Wenn man Skelette dieser Menschen sich anschaut, dass die eigentlich starke Belastungserscheinungen haben, auch immer wieder von Phasen durch, wenn nicht von Hunger, zumindest von MangelernĂ€hrung. Im Gegensatz etwa zu den Skeletten der Eliten, wo man eben zeigen kann, dass die besser ernĂ€hrt waren. Die waren grĂ¶ĂŸer, die haben mehr Fleisch konsumiert. Die haben manchmal mehr Verletzungen, weil sie dann eben im Krieg kĂ€mpften.

SPRECHERIN
Abgesehen von einigen Gelehrten der islamischen Welt hatten im Jahr 1000 nur wenige ĂŒberhaupt eine Vorstellung von der Welt. Die vollstĂ€ndigste Weltkarte – die den grĂ¶ĂŸten Teil Afro-Eurasiens, aber nichts von Amerika zeigte –wurde erst im Jahr 1154 auf Sizilien angefertigt.

MUSIK

SPRECHER
Die Welt war also alles andere als globalisiert, wenn man den Begriff im modernen Zusammenhang versteht: Alles ist weltweit vernetzt und verfĂŒgbar, heute vor allem durch’s Internet, aber auch durch Containerschiffe, Flugzeuge, HochgeschwindigkeitszĂŒge. Der Begriff Globalisierung, geprĂ€gt in den 1960er Jahren, hat etwas mit Gleichzeitigkeit, Geschwindigkeit und Technologie zu tun – und ist in diesem Sinne natĂŒrlich nicht auf das Jahr 1000 anwendbar.

SPRECHERIN
Immerhin gibt es an der Wende vom FrĂŒh- zum Hochmittelalter vielleicht aber dennoch „globalisierende Tendenzen“. Kleriker und Herrschende kommunizierten zunehmend schriftlich. Die EuropĂ€er begannen, Arabisch zu lernen und arabische Texte zu ĂŒbersetzen, und so gelangten immer mehr Kenntnisse ĂŒber die islamische Welt nach Europa. Auch spirituell war die Welt in Bewegung: Die Weltreligionen begannen, sich zu verbreiten. Das Christentum kam nach West-, Ost- und Nordeuropa, zeitgleich breitete sich der Islam in Westafrika und Zentralasien aus. Und christliche und muslimische Lehren erkannten das Judentum als legitime Religion an. Kristin Skottki ist Mittelalterexpertin. Sie lehrt an der UniversitĂ€t von Bayreuth:

 O 1 Skottki
Das Mittelalter ist ja eigentlich ne Zeit, die in der Global- Geschichtsschreibung, sagen wir mal immer relativ hinten runterfĂ€llt, weil man immer davon ausgeht, dass natĂŒrlich die Globalisierung ein PhĂ€nomen der Moderne ist. Oder die meisten setzen das eben frĂŒhestens ab 1500 an, mit der Entdeckung der Amerikas 


SPRECHER
Entdeckung Amerikas durch die Spanier, die darĂŒber auch ausfĂŒhrlich und zeitnah berichtet haben, im Gegensatz zu den Skandinaviern 500 Jahre zuvor.

O 2 Skottki
Die Quellenlage fĂŒr Westeuropa um Eintausend ist einfach nicht besonders gut, so dass das Alltagsleben sich da relativ schlecht nachvollziehen lĂ€sst.

SPRECHERIN
Auch Johannes Preiser-Kapeller hĂ€lt Hansens Einordnung der Nordamerika-Expeditionen fĂŒr gewagt:

O 3 JPK
Hansen in ihrem Buch verknĂŒpft das dann sehr spekulativ mit der Idee, dass dann die Wikinger vielleicht sogar weiter bis Mittelamerika vorgestoßen sein, weil dort in bestimmten Darstellungen der Maya auf blonde Menschen auftauchen. Das ist aber reine Spekulation. Also wir haben keine Belege, dass die Wikinger ĂŒber diese kurzzeitigen Besitzungen oder Kolonien, die sie da in Nordamerika hatten, weiter nach SĂŒden vorgestoßen sind.

MUSIK

SPRECHER
Als Quelle der Amerika-Expeditionen dient vor allem die Vinland-Saga – Vinland war der Name, den die NordmĂ€nner einer Region an der amerikanischen OstkĂŒste gaben, vermutlich zwischen New Jersey und dem Sankt-Lorenz-Golf. Die Texte der Saga, die erst im 13. und 14. Jahrhundert verfasst wurden, also mehrere hundert Jahre nach den Ereignissen, dienten der Unterhaltung aber auch der Verherrlichung von Ruhmestaten der Vorfahren – viele Historiker lehnen sie als zuverlĂ€ssige Quellen ab.

SPRECHERIN
Laut Vinland-Saga legte Leif Eriksson genau im Jahr Tausend im Nordosten Kanadas an. Er war von Island ĂŒber Grönland gekommen und suchte vor allem Holz zum Schiffsbau. Es folgten mehrere Expeditionen, bei denen mit den kanadischen Ureinwohnern Handel aufgebaut wurde.

MUSIK

SPRECHER
UnabhĂ€ngig von den Sagas gibt es handfeste Beweise fĂŒr die PrĂ€senz der Wikinger in Nordamerika: Im Jahr 1960 begann das norwegische Paar Helge und Anne-Stine Ingstad mit Ausgrabungen an der kanadischen KĂŒste. Die Beschaffenheit der Landschaft ist dort so, wie sie in der Grönland-Saga beschrieben wird: Ebenes, bewaldetes Land, das sanft zum Meer hin abfĂ€llt. In L’Anse aux Meadows, an der Ă€ußersten NordkĂŒste der kanadischen Insel Neufundland, legten die Ingstads ĂŒber mehrere Jahre insgesamt acht GebĂ€ude frei, in denen sie Reste einer Schmiede, einer Feuerstelle und verrostete NĂ€gel fanden. Eisenverarbeitung war damals in Nordamerika weitgehend unbekannt. Schließlich fanden sie auch eine bronzene Ringnadel. Skandinavier nutzten solche Nadeln, um damit ihre UmhĂ€nge im Nacken zusammenzuhalten. Doch wie lange die Skandinavier dort waren, wie wichtig der Ort war und wie weit sie auf dem amerikanischen Kontinent herumkamen – dazu fehlen verlĂ€ssliche Quellen.

SPRECHERIN
Valerie Hansen schreibt, der Kontakt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen habe sich auf einige GesprĂ€che, gelegentliche TauschgeschĂ€fte und hin und wieder Handgemenge reduziert. Schließlich gaben die Skandinavier nach wenigen Jahren L’Anse aux Meadows auf und wandten sich anderen Gebieten zu.
Selbst Hansen kommt somit zu dem Schluss, dass, verglichen mit anderen Begegnungen der Skandinavier um das Jahr 1000, der Kontakt mit den amerikanischen Ureinwohnern kaum langfristige Auswirkungen hatte. Allerdings gibt es seit den 980er Jahren bis ins spĂ€te 14., frĂŒhe 15. Jahrhundert anderswo im geografisch als Nordamerika zu betrachtenden Teil der Welt stabile, europĂ€ische Siedlungen:

O 4 JPK
Was aber stimmt, ist, dass Grönland dauerhaft besiedelt wird. Da entstehen zwei Siedlungen und Grönland ist ja geografisch Teil schon von Nordamerika. Und diese Kolonien wÀren tatsÀchlich mit dem Rest Europas vernetzt.

MUSIK

SPRECHER
Wie sah Westeuropa rund um das Jahr 1000 aus? Es gab kaum StĂ€dte. Paris, eines der europĂ€ischen Zentren, hatte etwa 20.000 bis 30.000 Einwohner. Die Herrscher hatten noch keinen festen Wohnsitz, und es gab einen sehr starken Christianisierungs-Schub. Karl der Große hatte in Europa schon vor 200 Jahren begonnen, das Christentum zu verbreiten, auch mit Gewalt. Und jetzt? Kristin Skottki:

O 5 Skottki
Da sind ganz interessanterweise um 1000 vor allem die einheimischen Herrscher:innen dabei, selbst das Christentum anzunehmen, weil sich das fĂŒr sie sozusagen als doppelter Gewinn herausstellt. Einerseits können sie damit nĂ€mlich die missionarischen TĂ€tigkeiten ihrer Nachbarn abwehren, und andererseits ist es natĂŒrlich die schriftliche Kultur, die mit dem Christentum Einzug hĂ€lt und natĂŒrlich auch die Institution wie eben Kirchen und Klöster, eine ganz wichtige Herrschafts- und Machtbasis.

SPRECHERIN
Die europÀische Missionierung verfolgte die Strategie der Ausbreitung des Glaubens von oben nach unten:

O 6 Skottki
Dann gibt es sozusagen die kirchliche Nacharbeit durch die Priester, Prediger, Bischöfe. Und das gilt natĂŒrlich insbesondere fĂŒr Mitteleuropa und Osteuropa. Und wann kommt sozusagen das Christentum dann wirklich bei den Leuten an? Ich wĂŒrde jetzt einfach mal so behaupten nach zwei bis drei Generationen, so 60 bis 90 Jahre, nachdem eben so ein Territorium offiziell christlich geworden ist, können wir wohl schon davon ausgehen, dass dann auch in der Tiefe die Leute vertraut sind mit dem Christentum.

MUSIK

SPRECHER
Und politisch? Wo heute Teile von Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich sind, lag das Ostfrankenreich. Es wurde regiert von der sĂ€chsischen Dynastie der Ottonen, den damals mĂ€chtigsten MĂ€nnern Westeuropas. Und wie lebten die Menschen in diesem Reich? Die Bauern stellten auf Fruchtwechsel um, was die Ernten steigerte und die Versorgung mit Nahrung verbesserte. Sie begannen, zwischen Rüben und Klee, Gerste und Weizen abzuwechseln. Pferdegezogene PflĂŒge, WindmĂŒhlen, eisernes Werkzeug kamen erstmals zum Einsatz.

SPRECHERIN
Immer mehr FlĂ€che wurde landwirtschaftlich genutzt – Europas Landschaft verĂ€nderte sich. Die Bevölkerung wuchs, auch weil in Westeuropa zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert die so genannte mittelalterliche Warmzeit herrschte.

SPRECHER
Globalisiert, also vernetzt, waren die Menschen hier aber nicht. Westeuropa war damals, wie Johannes Preiser-Kapeller sagt, nur das „westliche AnhĂ€ngsel“ einer Welt, die sich vor allem rund um den Indischen Ozean und in Asien entwickelte.

MUSIK

SPRECHERIN
Die chinesische Hafenstadt Guangzhou war damals zum Beispiel schon eine Millionenstadt. Metallarbeiter hatten dort um 1000 gelernt, Eisendraht zu hÀrten, Magnetnadeln daraus zu fertigen und so die ersten frei beweglichen Kompassnadeln herzustellen. Der Kompass brachte den chinesischen Handelsschiffen enorme Vorteile, denn er zeigte im Gegensatz zum Astrolabium auch bei bedecktem Himmel den Weg.

SPRECHER
Die Chinesen exportierten am Übergang vom 10. zum 11. Jahrhundert hochwertige Keramik und andere Waren in den Mittleren Osten, nach Afrika, Indien und Südostasien, und importierten vor allem Aromastoffe, Perlen und Edelsteine. China befand sich nicht erst in der Phase der Vorbereitung auf die Globalisierung, es lebte mittendrin, wie Valerie Hansen schreibt. Auch Chinesen der unteren stĂ€dtischen Schichten profitierten von den Importwaren, zum Beispiel fĂŒr KörperdĂŒfte und Raum-Aromen: Die Menschen badeten selten.

SPRECHERIN
ZurĂŒck ins „rĂŒckstĂ€ndige“ Europa. Kristin Skottki findet hier an der ersten Jahrtausendwende viele Ereignisse spannender als die Fahrten der Skandinavier ĂŒber den Atlantik:

O 7 Skottki
Das Kalifat von Cordoba um die Zeit ist fĂŒr mich persönlich sogar eigentlich der fast interessanteste Ort in Westeuropa um 1000 –  wirklich eine internationale Metropole. Offensichtlich hat eben diese Gesellschaft derartig prosperiert, weil man eben besonders tolerant und weltoffen war.

SPRECHER
CĂłrdoba in SĂŒdspanien war mit 450.000 Menschen die grĂ¶ĂŸte Stadt Europas. Auf der Iberischen Halbinsel lebten Moslems, Christen und Juden unter muslimischer Herrschaft, die fast 800 Jahre dauerte.

O 8 Skottki
Da ist eben Wissensaustausch da, da haben wir eine internationale Metropole, die eingebunden ist in diese globalisierte Welt, die Valerie Hansen ja so stark betont. Sie lĂ€sst ja Westeuropa doch auch in ihrem Buch weitestgehend außen vor. Genau aus diesen GrĂŒnden, weil da einfach, muss man sagen, im Vergleich zu anderen Regionen der Welt nicht so wahnsinnig viel Spannendes passiert ist. Also es ist ja auch ein PlĂ€doyer gegen den Eurozentrismus.

MUSIK

SPRECHERIN
Doch bleiben wir noch zumindest zum Teil in Europa, denn nicht nur auf der iberischen Halbinsel, auch im östlichen Mittelmeerraum netzwerkte man schon. Das Byzantinische Reich, das sich um das Jahr 1000 auf Teile der heutigen TĂŒrkei und des Balkans beschrĂ€nkte, brachte bedeutende Werke des Rechts, der Literatur und Kunst hervor und spielte bei der Christianisierung des Balkanraums und Russlands eine wichtige Rolle. In der Hauptstadt Konstantinopel – heute Istanbul – vertrat der Patriarch die Oströmische Kirche – und stand mit dem Papst in ewigem Konkurrenzkampf, gegenseitige Exkommunikation inbegriffen.

MUSIK

SPRECHER
Byzanz stand auch mit Skandinavien im Austausch, denn die NordmĂ€nner legten nicht nur nach Westen ab, sie erkundeten auch die Ostsee: Etwa um das Jahr 1000 eröffneten sie neue Routen in Osteuropa, die viel ergiebiger, langfristiger und folgenschwerer waren als die Verbindung ĂŒber den Atlantik. Heute kennen wir diese Skandinavier als die Rus, die Russland ihren Namen gaben. Sie waren den Bevölkerungsgruppen der WĂ€lder Osteuropas ĂŒberlegen. Diese lebten von Fischfang und Fallenstellen und betrieben sozusagen ambulante Landwirtschaft: Im FrĂŒhjahr sĂ€ten sie bestimmte Pflanzen, die sie bei ihrer RĂŒckkehr im Herbst ernteten.

SPRECHERIN
Die skandinavischen Einwanderer handelten mit Pelzen und versklavten Einheimische, die sie an byzantinische und muslimische Abnehmer verkauften: In Konstantinopel und Bagdad waren „slawische Sklaven“ sehr gefragt. Die Wörter Ă€hneln sich seit dem elften Jahrhundert, als das griechische Wort Sklabos, Slawe, seine ursprĂŒngliche Bedeutung verlor und fĂŒr „Sklave“ verwendet wurde, wie Hansen erklĂ€rt. Das Gold und Silber, das die Rus in Osteuropa in großen Mengen verdienten, revolutionierte die Wirtschaft in der alten Heimat: Im heutigen Norwegen, Schweden und DĂ€nemark entstanden StĂ€dte, Wohlstand verbreitete sich. Der Handel mit osteuropĂ€ischen Pelzen und Sklaven war also viel lukrativer als die Verbindungen nach Neufundland.

SPRECHER
Wachstum, Fortschritt, Entwicklung - auch durch Kriege und Sklaverei. Das spĂ€te 10., frĂŒhe 11. Jahrhundert war eine wegweisende Zeit fĂŒr die EuropĂ€er Wie empfanden die Menschen ihre Gegenwart? Hatten sie das GefĂŒhl, in einer Zeit zu leben, die etwas Besonderes war? Johannes Preiser-Kapeller erkennt vor allem eine Phase der StabilitĂ€t:

O 9 JPK
Also etwa in Westeuropa enden dann im spĂ€ten 10. Jahrhundert die EinfĂ€lle der Ungarn in Mitteleuropa, der arabischen Seefahrer im Mittelmeerraum und auch allmĂ€hlich der Wikinger in Skandinavien. Das heißt, es wird etwas ruhiger, auch an den Außengrenzen. Ähnliches kann man fĂŒr Byzanz beobachten.

O 10 JPK
Was wir uns aber nicht vorstellen dĂŒrfen, ist, dass deswegen dann eine große Aufbruchsstimmung gibt. Also man hat das jetzt nicht wahrgenommen, so wie das heute oft ist mit einem Fortschrittsnarrativ. Ja, jetzt beginnt das neue Jahrtausend und alles wird besser. Das ist vor allem eine moderne Idee.

SPRECHERIN
Wer hat sich damals in der christlichen Welt ĂŒberhaupt Gedanken ĂŒber eine mögliche ZĂ€sur gemacht, wie sie das runde Jahr 1000 bedeuten könnte? – Vor allem Kleriker spekulierten ĂŒber das volle Jahrtausend seit Christi Geburt, aber auch nur einige.

SPRECHER
Der Großteil der Weltbevölkerung lebte ohnehin in einer anderen Zeitrechnung, und auch in Europa wird die Datierung, die mit Christi Geburt beginnt, erst um 1500 von der Kirche offiziell anerkannt. Viele nennen das Jahr 1000 einfach das zweite Jahr der Herrschaft von Papst Silvester dem Zweiten. Und die, die im Jahr 1000 leben und es als ein besonderes Datum wahrnehmen ...

O 11 JPK

 die sind doch sehr stark in Denkmustern drinnen, die die Vergangenheit verklÀren und weniger auf eine hoffnungsvolle Zukunft setzen.

SPRECHERIN
Also herrschte eher eine gedrĂŒckte Stimmung? Es hing tatsĂ€chlich etwas in der Luft. Kristin Skottki:

O 12 Skottki
Wie kommen die Leute ĂŒberhaupt darauf, im Jahr 1000 vielleicht irgendwas Besonderes zu erwarten? Und zwar gibt es so ein paar Passagen in der Offenbarung des Johannes, die man dann wiederum mit Texten aus dem Alten Testament auch kombiniert hat. Und in der Offenbarung des Johannes wird beispielsweise beschrieben, dass eben nach 1000 Jahren wird der Antichrist fĂŒr dreieinhalb Jahre freigelassen und treibt sein Unwesen und dann besiegt ihn Christus.

SPRECHER
Die Texte beschreiben in sehr bildhafter Sprache Katastrophen, Kriege und Seuchen als Zeichen dafĂŒr, dass Christus kommen und das Weltgericht abhalten wird. Glaubten die Menschen also, das JĂŒngste Gericht sei nah? TatsĂ€chlich wurden viele Kirchen gebaut und viele Pilgerfahrten unternommen, wohl um vorsorglich das eigene SĂŒndenkonto auszugleichen.

O 13 Skottki
Das Interessante ist aber, dass diese biblischen Texte viel weniger auf die Hölle fokussieren. Das interessiert die eigentlich weniger als vielmehr eben diese Hoffnung auf das himmlische Reich, auf das Himmelreich, auf diese Erlösung, auf die Auferstehung. Also witzigerweise ist tatsĂ€chlich die Endzeiterwartung grundsĂ€tzlich nach diesem biblischen Zeugen erst mal etwas, worauf man sich freuen kann. Denn die Rezipienten dieser Texte, die waren ja davon ĂŒberzeugt, sie sind ja Christen, sie sind wahrhaft GlĂ€ubige, also wird das fĂŒr sie gut ausgehen.

MUSIK

SPRECHERIN
Vorfreude auf das JĂŒngste Gericht? Die Angst vor Hölle und Fegefeuer wurde erst im 13. Jahrhundert gezielt verbreitet. GlĂŒckselige Christen des 11. Jahrhunderts also? Die Historiker sind sich uneins, weil sich das ohnehin magere Quellenmaterial nicht eindeutig interpretieren lĂ€sst:

O 14 Skottki
Das Hauptproblem ist natĂŒrlich, dass im Nachhinein Endzeiterwartungen immer enttĂ€uscht wurden, bis heute ist die Welt noch nicht komplett untergegangen, und das war im Grunde auch eigentlich etwas Peinliches fĂŒr die Christen im Mittelalter. Denn der Kirchenvater Augustinus, der ja schon im fĂŒnften Jahrhundert nach Christus lebte, aber im Mittelalter extrem wichtig war, der hatte den Christen im Grunde ein BeschĂ€ftigungsverbot fĂŒr die Endzeit auferlegt.

ATMO (Uhr tickt)

SPRECHER
Einige, gerade Intellektuelle, warteten also nicht auf eine Zukunft in einer globalisierten Welt, sondern auf den Untergang der Welt. Leif Eriksson, der vermutlich erste EuropĂ€er auf amerikanischem Boden spielte in der Epoche kaum eine Rolle, ja die Entdeckungsfahrten waren nicht einmal fĂŒr die NordmĂ€nner selbst von großer wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung – abgesehen davon, dass sie den Stoff fĂŒr Heldensagen lieferten.

SPRECHERIN
All das weiß auch die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen. Sie nutzt die Ereignisse in ihrer Heimat vor allem dazu, um unser Interesse an der ersten Jahrtausendwende zu wecken. Die Welt war viel vernetzter, als wir das auf Anhieb vermuten. Globalisiert war sie allerdings nicht. Dazu tickten die Uhren damals noch zu langsam.


MUSIK & ATMO