Alles Geschichte - History von radioWissen   /     ARBEITEN UND LEBEN IN DER FREMDE - Waren schleppen ĂĽber die Alpen

Description

Oft trugen sie 50 Kilo auf dem Rücken. Sie kamen dahin, wo die Säumer mit ihren Pferden und Wagen nicht hinkamen. Zu Fuß trugen sie auf ihren "Kraxen"-Gestellen Waren über die Alpen und bedienten einen inneralpinen Handel, der heute schon fast vergessen ist. Von Markus Mähner (BR 2021)

Subtitle
Duration
00:22:36
Publishing date
2025-01-17 10:45
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/arbeiten-und-leben-in-der-fremde-waren-schleppen-ueber-die-alpen/2102076
Contributors
  Markus Mähner
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2102076/c/feed/arbeiten-und-leben-in-der-fremde-waren-schleppen-ueber-die-alpen.mp3
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Shownotes

Oft trugen sie 50 Kilo auf dem Rücken. Sie kamen dahin, wo die Säumer mit ihren Pferden und Wagen nicht hinkamen. Zu Fuß trugen sie auf ihren "Kraxen"-Gestellen Waren über die Alpen und bedienten einen inneralpinen Handel, der heute schon fast vergessen ist. Von Markus Mähner (BR 2021)

Credits
Autor: Markus Mähner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Friedrich Schloffer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Robert BĂĽchner

Besonderer Linktipp der Redaktion:

Radiowissen (2025): Rezepte des Ăśberlebens

Ganz typische Verhaltensweisen rund ums Essen gibt es in fast jeder Familie - dass man zum Beispiel als Kind immer seinen Teller leer essen sollte. So war es jedenfalls bei Iska Schreglmann. Als ihre Mutter stirbt und sie die Wohnung ausräumt, fällt Iska ein Kochbuch von 1871 in die Hände. Als sie erfährt, dass ihre Eltern als Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg hungern mussten, beginnt sie zu recherchieren: Was hat das rätselhafte Kochbuch mit dem Hungerwinter von 1946/47 zu tun? Und was mit ihr selbst - etwa damit, dass sie immer alles aufessen musste? ZUM PODCAST

Linktipp:

SWR (2023): Hast du mal ‚nen Euro? Zur Kulturgeschichte des Bettelns

Mal sind es Hilfsbedürftige in auswegloser Lage, mal arbeitsunwillige Faulenzer oder gar Kriminelle - das Bild des Bettelns ist widersprüchlich und wandelbar: Genoss es im Mittelalter noch einen guten Ruf, störten Bettler in der Neuzeit immer öfter die öffentliche Ordnung und Arbeitsmoral. Und heute? Welche Rolle hat Bitten und Betteln in unseren Gesellschaften? Warum hat sich das Bild vom Betteln so verändert? Und ist Crowdfunding auch eine Form des Bettelns? JETZT ANHÖREN


Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂĽr Geschichts-Interessierte:


Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

SPRECHER
Ein bekanntes Gemälde Carl Spitzwegs zeigt einen Mann mit langem Stock und mannshoher Holzkiste auf dem Rücken, wie er gerade auf einem Baumstamm, der als Brücke dient, eine Schlucht überquert. Er trägt zerfranste Kleidung und einen Tirolerhut mit Feder. Das Vorbild für diesen „Kraxenträger“, wie der Bildtitel den Mann bezeichnet, war der Berchtesgadener Anton Adner, den Spitzweg als Kind noch kennengelernt hatte. Adner, der im Jahr 1822 im stolzen Alter von 117 Jahren starb, gilt heute noch als der älteste bekannte Bayer. Ein Zusammentreffen mit dem bayerischen König Maximilian I. Joseph, fünf Jahre vor seinem Tod, machte den Berchtesgadener endgültig unsterblich.

ZITATOR
„Der Mann mit seinen Silberhaaren, klein und mager von Gestalt, aber noch frisch und froh, ohne alle Stütze eines Stabes, nahte sich dem freundlich ihm zugewandten Könige.“

SPRECHER
Heißt es über Adner in einem 1827 veröffentlichen Buch mit „Anekdoten aus dem Leben Maximilian I. Joseph“

ZITATOR
„Nachdem er früh sich mit dem Gewerbehandel mit Berchtoldsgadner Waren zu widmen begann, trug er noch in dem Alter von hundert Jahren zu Fuß hölzerne Fabrikarbeiten und Spielzeuge aus der Heimat mit dem beladenen Tragkorbe auf dem Rücken über die Berge nach Salzburg, der Schweiz, Tirol, Steiermark, Österreich und Bayern. Seine weiße Kappe trug er bereits 33 und seinen Rock 55 Jahre.“

SPECHER
Was hier wie ein romantisch verklärtes Idyll klingt, war für die Betroffenen oft die einzige Möglichkeit ihren dürftigen Lebensunterhalt zu verdienen. Und Adner war beileibe nicht der Einzige. In manchen Gegenden stellten die „Kraxenträger“ zeitweise einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung dar. Denn die Hochgebirgsregionen wie das Walsertal, das Zillertal oder das Defereggental waren noch keine Tourismusziele. Robert Büchner, emeritierter Geschichtsprofessor an der Universität Innsbruck:

BĂĽchner
Die Hochzeit für sie war so 1760 bis erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dann kommt schon die Massenproduktion und so weiter, Massenindustrie.

SPRECHER
Wanderhandel gab es schon immer. Doch dass im 18. Jahrhundert dieses mĂĽhsame Gewerbe - besonders in gebirgigen oder moorigen Regionen - besonders stark anwuchs, lag an zwei Faktoren.

BĂĽchner
[...] Bleiben wir mal bei Bayern und bei Tirol und angrenzende Länder: Im Alpenvorland und in den Gebirgsgegenden, besonders den Hochgebirgsgegenden wie in Tirol, war zu wenig Land vorhanden, das bebaubar war, war ein karger Boden. Das heißt zu gut Deutsch: Wenn die Bevölkerung wächst - und sie wächst bei uns seit Ende des 15. Jahrhunderts im Reich deutlich sichtbar an, die Verluste seit der großen Pest von 1348 sind dann aufgeholt - es waren zu viele Leute da.
Aus Studien aus Oberbayern wissen wir, dass die Landwirtschaft nicht mehr genĂĽgend Leute anstellen / aufnehmen konnte.

SPRECHER
Und somit war es nicht nur für landwirtschaftliche Tagelöhner ohne eigenen Grund notwendig sich ein anderes Auskommen zu suchen. Auch mancher Hof ernährte nur mehr den Erstgeborenen. Die jüngeren Geschwister mussten „auf Wanderschaft“ gehen, wie Robert Büchner sagt:

BĂĽchner
Das sind also alles einkommensschwache, unterbäuerliche Schichten, die gezwungen sind, aus Armut auf Wanderschaft zu gehen und einen Nebenverdienst zu suchen. Und der war bei einem normalen Kraxenträger um 1800 sehr gering. 30 Gulden pro Mann. Davon konnten sie - selbst wenn sie eine kleine Bauernschaft mit zwei Kühen hatten und zwei, drei Feldern - nicht leben. Sie konnten leben davon, wenn die ganze Familie auf Reisehandel sich einließ.

SPRECHER
Denn auch die Frauen – ja manchmal sogar Kinder, obgleich das eigentlich verboten war – durchstreiften die Lande als Händler. Zunächst verkauften sie eigene landwirtschaftliche Produkte oder gesammelte Kräuter auf dem Markt einer nahen Stadt. Doch schon bald zog es sie auch weiter in die Ferne mit anderen, oft selbst hergestellten Produkten. Vielerorts waren ein Drittel der Händler Frauen. Gerade ledige, verwitwete oder geschiedene Frauen hatten keine andere Chance als sich als Kleinhändler/innen durchzuschlagen und selbst ausgegrabene Enzianwurzeln – zum Brennen von Schnaps – oder selbstgeklöppelte Spitze zu verkaufen. Im Grödnertal, wo das Spitzklöppeln große Tradition hatte, gab es teils sogar mehr Frauen als Männer im Wanderhandel.

MUSIK

SPRECHER
Doch meist waren es doch die Männer die mit der Kraxe losgingen. Und meist auch länger und weiter als die Frauen. Wie sehr das auch das Leben in manchen Orten verändert hat, zeigt sich noch heute in Chroniken aus dieser Zeit. Manche sprichwörtliche „Wanderhändlerdörfer“, wie in Bayern zum Beispiel Mittenwald oder Dießen am Ammersee, waren im Sommer oft menschenleer. Da besonders die männliche Bevölkerung in diesen Monaten unterwegs war, fanden Hochzeiten nahezu ausschließlich im Januar und Februar statt. Geburten gab es dementsprechend hauptsächlich im Oktober und November. Denn: Ein Wanderhändler war oft den ganzen Sommer hindurch unterwegs, er kehrte nicht einfach um, sobald er seine Waren verkauft hatte.

BĂĽchner
Das Problem ist - sie haben es ja schon sagt – mitnehmen: Selbst, wenn man die Kraxe voll hat. Man geht ja nicht gleich wieder nach Hause. [...] Man geht von zu Hause aus mit den heimischen Waren. Aber damit man nicht immer wieder gleich die Kraxe leer hat, wenn man kein Warenlager anlegen konnte, hat man im Ausland Waren zugekauft. Das wäre viel zu schlecht gewesen für den Verdienst, wenn man nur mit einer Kraxe rausgeht. […] Die haben sich alle im Ausland weiter eingedeckt und das mussten nicht dieselben Waren sein. Man geht mit Kurzwaren, mit Schnittwaren von Tirol aus und deckt sich in Nürnberg mit anderen Kurzwaren ein oder anderswo mit Spielzeug und geht dann weiter hausieren.

SPRECHER
Der Begriff „Hausieren“ beschreibt sehr deutlich die Eigenheit dieses Handels. Denn die meisten Kraxenträger haben sich nicht auf den Markt gestellt und gewartet bis ein Käufer zu ihnen kommt, sondern sind tatsächlich von Haus zu Haus gegangen, um ihre Waren zu verkaufen. Eine solch unökonomische Tätigkeit kennt man heute – in Zeiten von Kaufhäusern und Internethandel - nicht einmal mehr vom Staubsaugervertreter! Denn da Wanderhändler ja nicht nur in Städten unterwegs waren, lagen die Häuser oft sehr weit auseinander:

BĂĽchner
In einem Jahr hatte so ein Kraxenträger leicht mal 700-800 Kilometer zurückgelegt. Die waren das gewohnt, und die sind ja zum Verkauf - als dann die Massenproduktion gekommen ist im 19. Jahrhundert – sind sie weitergezogen. Sie sind dann die abgelegensten Einödhöfe weiterhin gegangen. Wegen zwei, drei Kunden sind sie 20 Kilometer gegangen.

SPRECHER
Und dort wurden sie oft schon erwartet. Denn nicht jeder hatte die Möglichkeit in eine Stadt mit reichhaltigem Warenangebot zu fahren. Und in vielen Dörfern oder kleineren Städten gab es selbst Dinge des alltäglichen Bedarfs nicht immer zu kaufen. Das wussten die Kraxenträger und konnten somit zielgerichtet mit einem spezifischen Warenangebot all jene besuchen, die sie sehnlichst erwarteten.

Büchner 
Es gibt kaum einen Krämer, einen Kraxenträger, der ein breites Warensortiment hat. Man hat sich schon spezialisiert. Aber wenn Sie so wollen, das reichte bei den Kraxenträgern von Kurzwaren - darunter sind etwa zu verstehen Nägel, Messer, Scheren, Nadeln, Knöpfe, Garn, Zwirn, Fingerhüte, Bleistifte, Tinte, Schnürsenkel, Borten, Seitenbänder und so weiter - über Haushaltswaren wie Glas und Tongeschirr, Töpfe und Pfannen. Ferner waren Kraxenträger unterwegs mit Decken, Strümpfen, Bettfedern, landwirtschaftlichen Geräten wie Sensen, Sicheln und Wettstein und meistens einfachem Schmuck, Paternoster - also Rosenkränze - Ringe, Ohrgehänge, Broschen, Ketten. Sie sehen, das ist ein ganz breites Spektrum.

SPRECHER
Doch auch Spezialwaren wie Barometer, Thermometer oder Ferngläser, die hauptsächlich im Friaul hergestellt wurden, trugen sie von Norditalien über die Alpen bis nach Bayern. Dort konnten sie dann Waren kaufen, auf die man sich in diesen Gegenden spezialisiert hatte. Wie zum Beispiel von den sprichwörtlichen „Herrgottsschnitzern“ aus Oberammergau, den Hinterglasmalern aus Murnau am Staffelsee oder den Uhrmachern im Schwarzwald.

MUSIK

SPRECHER
Und auch den Vogelhändler gab es, wie wir ihn noch aus Mozarts Singspiel kennen.

SPRECHER
Manche Wanderhändler haben ihre Waren zum Teil selber hergestellt, wie Anton Adner, der im Anfertigen von Holzschachteln und wohl auch im Stricken einiges Talent zeigte. Doch die Meisten kauften ihre Waren bei lokalen Händlern – auf Reisen wäre das anders auch gar nicht rentabel gewesen. Da sie aber oft nicht genug Geld hatten, standen sie immer wieder in der Schuld dieser lokalen Händler:

BĂĽchner
Oft ist es so, dass Kraxenträger auf Kredit gehandelt haben. […] Und wenn sie dann von ihrer Handelsreise zurückkamen, um im nächsten Jahr wieder auf Reise zu gehen, dann haben Sie erst mal die Altware, die sie verkauft hatten, bezahlt und neue wieder eingekauft. Kraxenträger sind eher die Ärmeren - besonders arm waren etwa unter den Kraxenträgern die Glashändler und die mit Tonwaren, also Küchengeschirr. Man hat ja gesagt: Wenn ein Glashändler hinfällt, steht dann ein Bettelmann wieder auf.

SPRECHER
Viele ortsansässige Händler rechneten mit diesen billigen Lieferdiensten und banden sie fest an sich. Wie zum Beispiel der Verleger Matthäus Rieger, der in Augsburg 1745 eine riesige Buchhandlung eröffnete. Der Schriftsteller Johann Pezzl schrieb über ihn:

ZITATOR
„Sein Verlag ist sehr dick und er hat dabei ein schönes Vermögen gesammelt. Er hält das ganze Jahr hindurch einige dreißig Kerle, die mit Butten auf den Rücken, oder mit Karren voll heiliger Sermone ganz Tirol, Bayern, Schwaben, Franken und Österreich durchstreifen und den gemächlichen Pfarrern das Futter für ihre geistliche Herde auf Jahre lang verkaufen. Es soll manchen alten Ruraldekan geben, der schon den ganzen Riegerschen Verlag durchgepredigt hat."

SPRECHER
Weniger an Pfarrer, mehr an das bäuerliche Volk wurden auch gerne Schriften wie frivole Gedicht- und Liederbüchlein oder religiöse und politische Traktate verkauft. Da durften dann gerne wieder die Frauen und Kinder übernehmen von Tür zu Tür zu gehen. Denn sollten sie aufgegriffen werden, so drohte ihnen eine mildere Strafe als den Männern, wenn sie solch „anstößige“ Literatur vertrieben!

MUSIK

SPRECHER
Tatsächlich war der Kleinhandel mit Büchern, Bilddrucken oder Heiligenbildchen sehr gefragt. Schon im 17.Jahrhundert beschäftigte der in Padua geborene Giovanni Antonio Remondini mehrere Wanderhändler und baute so ein europaweites Handelsnetz aus, das farbenfrohe Drucke und kleine Bücher an die einfachen Leute brachte. Manchmal haben sich aber auch Wanderhändler selbst untereinander zusammengetan um gemeinsam ein Lager im Ausland zu finanzieren. Robert Büchner:

BĂĽchner
Dann kamen Sie darauf: Sie können gemeinsam einkaufen und verkaufen. Und je nach der Einlage mussten sie die Unkosten tragen und wurden aber nach der Einlage auch am Gewinn beteiligt. Und aus diesen Warenlagern sind oft Handelsgesellschaften entstanden, die dann etwa in den Niederlanden - das konnte bis nach Spanien und so weitergehen - floriert haben. Das ist aber alles ursprünglich entstanden aus dem Zusammenschluss von Buckelträgern. […] Peek & Cloppenburg, das ist doch eine Bekleidungskette. Die sind aus ursprünglich Wanderhändlern, die mit Stoffen und Tuchen und Leinen und so weiter, unterwegs waren, entstanden.

SPRECHER
Doch so eine Karriere war den wenigsten vergönnt. Schon allein deshalb, weil die „Hausierer“ nicht immer gerne gesehen waren. So erließ zum Beispiel die Stadt München im Jahr 1690 ein Verbot „des Hausiererhandels“. In Landsberg am Lech wurde 1715 ein „Bettelverbot“ verabschiedet. Um die Jahrhundertwende 1800 gab es überall „Hausierordnungen“. So durfte in Österreich nur mit bestimmten Waren gehandelt werden; Arzneiwaren zum Beispiel wurden verboten – sowohl für Tier als auch für den Menschen. Ferner durften keine Wagen zum Transport benutzt werden. Ausschließlich Tragegeräte – also Kraxen – waren erlaubt. Die meisten Wanderhändler konnten sich mehr ohnehin nicht leisten – nicht einmal einen Schubkarren, der von einem Hund mitgezogen wurde. Denn auch das gab es.

BĂĽchner
Die Kraxenträger stellen überhaupt die größte Gruppe unter den Wanderhändlern. Also die Leute, die mit Karren und mit Pferd und Wagen und Saumtieren zogen, sind deutlich in der Minderzahl gegenüber den Kraxenträgern.

SPRECHER
Besonders beim Kleinhandel über die Alpen war die Kraxe oft auch sinnvoller als ein Wagen. Denn die Wege waren oft schlecht und mit Wägen gar nicht zu befahren – oder sie blieben im Schnee stecken. Zudem konnte man beim Überschreiten eines hohen Alpenpasses auch Zoll- und Mautgebühren sparen. Wenngleich es natürlich Schwerstarbeit war, die mit den Jahren oft zu Rückengratverkrümmungen, Knochen-, Gelenk- oder Wirbelsäulenschäden führte.

BĂĽchner
Und Kraxenträger haben die Männer in der Regel bis 50 Kilo getragen, die Frauen bis 30 Kilo.

SPRECHER
So eine Warenkraxe war demnach mehr als nur ein kleines Rückengestell. Denn man wollte ja möglichst viel transportieren.

BĂĽchner
[...] bei uns war es üblich, dass der Kopf mitgetragen hat. Die Kraxe wurde bis über den Kopf gezogen und in Höhe des Kopfes war ein Riegel, ein Brett gepolstert, das direkt auf dem Kopf auflag. So hat der Kopf mitgetragen, nicht nur die Schultern.

SPRECHER
Die Form und das Material, aus dem die Kraxe gefertigt wurde, hing von den Waren ab, die ein Händler dabeihatte. Für Töpfe und Geschirr reichte oft ein grob geflochtener Korb aus. Vogelhändler stapelten die Käfige bis weit über ihren Kopf hinaus. Teppiche oder größere Drucke wurden einfach zusammengebunden und über die Schultern geworfen. Frauen benutzten oft ein Tragetuch. Und: Kleidung oder Hüte wurden auch schon mal selbst übereinander angezogen.
Doch viele Kraxen waren kompliziert gebaute Gestelle aus verschiedenen Holzkisten. Etwa wenn mit ganz unterschiedlichen Waren gehandelt wurde. Denn die Kraxe stellte ja gleichzeitig den Verkaufsladen da.

BĂĽchner
Ätherische Öle, Seifen, Balsam, Pulver, gebrannte Wässer und die Allheilmittel wie Theriak oder Vitridat. Das sind alles kleine Sachen, aber die konnte man nicht zusammen haben. Dann haben sie richtig kleine Schubfächer gehabt und haben die Sachen da rausgeholt. Genauso wenn sie mit Kurzwaren gehen: In einem kleinen Schubfach haben sie Nadeln, in einem anderen Zwirn und so weiter. Gerade bei Arzneien und Olitheken sehen Sie immer die Kraxenhändler mit solchen Kästen auf den Rücken. Das ist kein einfaches Gestell mehr.

MUSIK

SPRECHER
Die Zeiten wurden immer schwerer für die Wanderhändler, besonders, wenn sie aus dem Ausland kamen. Wer im frühen 19. Jahrhundert in Österreich einen „Hausierpass“ erwerben wollte, der musste mindestens 20 Jahre alt sein und die Österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Dadurch dachte man zumindest die ausländischen Wanderhändler in ihrer ständig steigenden Zahl einzuschränken.
Doch oft gab es diese Regeln nur auf dem Papier, um die ortsansässigen Händler zu beschwichtigen. Tatsächlich wurden Verstöße von der Obrigkeit selten geahndet. Denn die Kraxenträger behoben einfach ein Versorgungsdefizit: Sie befriedigten Bedürfnisse, die die sesshaften Kaufleute schuldig blieben.

SPRECHER
Doch außer bei ihrer Kundschaft waren die Kraxenträger alles andere als beliebt. So wurde Ihnen oft nachgesagt, sie schleppten Krankheiten wie Cholera oder Typhus ein, sie hätten geklaut oder sie verdürben die Sitten – wie das der konservative Jurist und Literat Justus Möser in seinen „Patriotischen Phantasien“ schon im Jahr 1775 in einer „Klage wider die Packenträger“ behauptete.

ZITATOR
Die Packenträger sind der Verderb des ganzen Landes. Wer hat die guten Sitten verderbt? Gewiss niemand mehr als der Packenträger, der mit seinen Galanteriewaren nicht auf den Heerstraßen, sondern auf allen Bauernwegen wandelt, die kleinsten Hütten besucht, mit seinem Geschwätz Mutter und Tochter horchend macht, ihnen vorlügt, was diese und jene Nachbarin bereits gekauft.
Er hat von allem was sich für jeden Stand passt und weiß einer jeden gerade das anzupreisen, was sich am besten für sie schickt. Das Vermögen aller Familien ist ihm bekannt; er weiß wie die Frau mit dem Manne steht, und nimmt die Zeit wahr, jene heimlich zu bereden, wenn der grämliche Wirt nicht zu Hause ist. Kurz, der Packenträger ist der Modekrämer der Landwirtinnen, und verführt sie zu Dingen, woran sie ohne ihm niemals gedacht haben würden.

SPRECHER
Den sesshaften Händlern waren die Kraxenträger mehr als nur ein Dorn im Auge. Ihnen ging es schlichtweg darum, die unliebsame Konkurrenz loszuwerden. Und deswegen gab es auch allerlei üble Nachrede. Professor Robert Büchner:

BĂĽchner
Sie haben behauptet, sie hätten falsches Maß und Gewicht. Das hatten sie selbst wahrscheinlich noch öfter. Sie hätten schlechte, und verfälschte Ware. Ein Trick war zum Beispiel bei den Tuchhändlern: Es gab begehrte Tücher - etwa aus Brabant. Und ab einer gewissen Zeit bekamen die eine Plombe. Jetzt haben sie einfaches Tuch gekauft und haben die falsche Plombe drangemacht.

SPRECHER
Im Grunde gibt es das heute auch noch. Nur die nachgemachten Rolex-Uhren, Adidas-Turnschuhe und vermeintlichen Designerkleider werden heutzutage industriell hergestellt und weltweit im Internet vertrieben.

BĂĽchner
Oder ein anderer Trick bei den Tuchhändlern war: Man spannt das Tuch auf einen Rahmen, macht es nass und dehnt es. Dann schindet man wieder ein paar Zentimeter raus. Natürlich haben das aber auch die stationären Händler gemacht. Ich habe mal ausführlich darüber geschrieben. Und man kann absolut nicht sagen, dass die Wanderhändler mehr geschummelt hätten - um es höflich auszudrücken - als die lokalen Händler.

SPRECHER
Das war schon allein deswegen nicht möglich, weil sie sich ihr Geschäft damit kaputt gemacht hätten.

BĂĽchner
Denn man muss sich vorstellen, diese Kraxenträger gingen alljährlich fast dieselben Bezirke ab. Sie hatten ihre Stammkunden, die konnten sie gar nicht betrügen, denn dann wären sie diese Kundschaft los gewesen.

MUSIK

SPRECHER
Mit zunehmender Industrialisierung, der steigenden Mobilität – auch ländlicher Bevölkerungen – und dem Beginn der Massenproduktion im 20.Jahrhundert erledigte sich der Wanderhandel mit Kraxe auf dem Rücken von selbst. Wer heute etwas benötigt, bestellt immer öfter im Internet. Kurz darauf steht dann schon der Bote mit seinem Lieferwagen vor der Tür ... oder auch der moderne Kraxenträger: der Radler, der auf seinem Rücken die Pizzakisten ausfährt.