Die Pyramiden hÀtte es ohne Wanderarbeit nie gegeben. Bis heute sind ganze Wirtschaftszweige auf Menschen angewiesen, die oft von weit her kommen. Von Susanne Hofmann (BR 2021)
Die Pyramiden hÀtte es ohne Wanderarbeit nie gegeben. Bis heute sind ganze Wirtschaftszweige auf Menschen angewiesen, die oft von weit her kommen. Von Susanne Hofmann (BR 2021)
Credits
Autorin: Susanne Hofmann
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Christian Baumann, Katja BĂŒrkle, Christian Schuler
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Willi Kulke, Lars Petersen
Besonderer Linktipp der Redaktion:
MDR (2025): Iron East â Heavy Metal im Osten
Heavy Metal war in der DDR eine besonders laute und pulsierende Subkultur. Mit dem Mauerfall Ă€nderte sich fĂŒr diese Metal-Szene alles. Fans reisten in den Westen, um ihre Ikonen auf der BĂŒhne zu sehen. Ost-Metal-Bands bekamen Konkurrenz. Und der DDR-Metal wurde Teil von etwas GröĂerem. Wie ging es in den 90er Jahren mit dem Ost-Metal weiter? Und was ist heute noch davon geblieben? Darum geht es in der zweiten Staffel Iron East â Heavy Metal im Osten. Host und Autor Jan Kubon begibt sich auf eine Zeitreise durch die 90er und Nullerjahre in Ostdeutschland. Dabei spricht er mit vielen Ost- und auch West-Metal-GröĂen: Mit Kerstin Radtke von Blitzz und Sabina ClaaĂen von Holy Moses, mit Eric und Ingo von Subway to Sally und mit Maik Weichert von Heaven Shall Burn. ZUM PODCAST
Linktipps:
hr (2024): Magie & Medizin â die Geheimnisse des Papyrus Ebers
Der Papyrus Ebers ist mit seinen etwa 3.500 Jahren das Ă€lteste, vollstĂ€ndig erhaltene Medizinhandbuch der Welt. Auf 18,6 Metern wurden hier im alten Ăgypten Rezepte niedergeschrieben, unter anderem gegen Haarausfall, Husten oder Verdauungsprobleme. Als sich Georg Ebers 1872 auf die Suche nach der Schriftrolle macht, ist ihre Existenz fraglich und ihr sensationeller Zustand nur ein GerĂŒcht. Der Film begleitet den Ăgyptologen bei seinem Abenteuer und erzĂ€hlt dazu die fast vergessene Geschichte eines königlichen Schreibstoffes, der jahrtausendealtes Wissen zugĂ€nglich und heute anwendbar macht. JETZT ANSEHEN
radioWissen (2024): Söldner â Geschichte der Schattenarmeen Â
Der Krieg ist ihr Handwerk. Doch sie kĂ€mpfen nicht als Soldaten fĂŒr ihr Land, sondern gegen Sold, also gegen Bezahlung, fĂŒr eine fremde Macht. Das Söldnertum besteht schon seit langem. JETZT ANHĂREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:
Im Podcast âTATORT GESCHICHTEâ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt ĂŒber bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime â und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzĂ€hlt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrĂŒhrend, witzig und oft ĂŒberraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.Â
Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ERZĂHLER
Nach der sengenden Hitze des Tages legt sich die kĂŒhlende Nacht ĂŒber das Land, diesen sĂŒdlichsten Teil der Ă€gyptischen WĂŒste. Beinahe lautlos gleitet das Boot des deutschen Ăgyptologen Johannes DĂŒmichen den Nil entlang, der Mond erhellt die zerklĂŒfteten Felsen am Ufer in dieser Sommernacht des Jahres 1869. Fasziniert lĂ€sst der Reisende seinen Blick schweifen â und traut seinen Augen nicht:Â
ZITATOR
âWar es TĂ€uschung oder Wirklichkeit? ⊠Wir kamen nĂ€her und ich konnte nun die Erscheinung in ihrer ganzen Grossartigkeit, konnte die riesenhafte Gestalt, wie die der anderen, ganz ebenso gebildeten neben ihr, deutlich ĂŒbersehen, wie sie, mit dem RĂŒcken an die Felswand gelehnt, die Hand auf das Knie gestĂŒtzt, in imposanter Ruhe dasassen und auf den Strom zu ihren FĂŒssen herniederschauten.â
ERZĂHLERIN
Vier gigantische Statuen. Sie sitzen vor dem Felsentempel Ramses des Zweiten in Abu Simbel. Gut 20 Meter ragen sie in die Höhe. Ein Monument, das vom Selbstbewusstsein des Pharaos zeugt, der sich vor mehr als 3.000 Jahren in diesen Statuen verewigen lieĂ: Ramses der GroĂe. Seine gröĂte Errungenschaft ist jedoch nicht die Vielzahl imposanter Bauwerke, die er hinterlĂ€sst. Die Ăgypter verdanken ihm eine nie dagewesene BlĂŒtezeit, ein halbes Jahrhundert in Wohlstand und Frieden.
ERZĂHLER
Denn Ramses gelingt die Aussöhnung mit den Erzfeinden Ăgyptens, den Hethitern. Die Herrscher beider LĂ€nder schlieĂen den ersten erhaltenen schriftlichen Friedensvertrag der Geschichte, und beide Höfe nehmen einen regen Austausch auf, schildert der Ăgyptologe Lars Petersen. Er arbeitet am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.
1. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)
âMan will dann ja auch sich weiterhin gut vertragen. Und dazu gehörten dann natĂŒrlich Prestigeobjekte und wertvolle Geschenke, die dann von beiden Seiten ausgetauscht worden sind.â
ERZĂHLERIN
Bei diesen diplomatischen Beziehungen spielt eine Personengruppe eine besondere Rolle: Ă€gyptische Ărzte, die die damalige Welt in Erstaunen versetzen. FĂŒr Lars Petersen sind diese Ă€gyptischen Ărzte die ersten Wanderarbeiter der Antike, von denen man sicher weiĂ. Wanderarbeiter - also Menschen, die, so die Definition des Duden, ihren âArbeitsplatz weit entfernt von ihrem Wohnort aufsuchenâ mĂŒssen. Der Ăgyptologe Lars Petersen:
2. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)
âWeil diese Ă€gyptischen Ărzte so bedeutend waren, hat dann der hethitische Herrscher darum gebeten, dass fĂŒr eine Zeit die Ărzte zu ihm kommen, um da auch die Bevölkerung medizinisch zu versorgen - also die ganze Bevölkerung wahrscheinlich nicht â das ist dann der Königshof gewesen. Also die Ă€gyptische Medizin war in der Zeit sehr, sehr fortschrittlich, man hatte erste chirurgische Eingriffe, die fĂŒr die damalige Zeit, das ist ja 3.300 Jahre her, so bedeutend waren, dass sich die gesamte damalige Welt die HĂ€nde nach ihnen geleckt hat, um auch die an ihren Hof zu bekommen.â
ERZĂHLER
Allerdings dĂŒrfte die zeitweilige BetĂ€tigung am hethitischen Hof nicht wie bei den spĂ€teren und heutigen Wanderarbeitern aus ökonomischer Notwendigkeit erfolgt sein, so Petersen, sondern im Rahmen eines Austausches im Dienste der Diplomatie.
ERZĂHLERIN
Die Ă€gyptischen Ărzte waren hoch spezialisiert, davon zeugen Papyrus-Quellen. Sie praktizierten beispielsweise als Augen-, Zahn- oder OhrenĂ€rzte. Und Untersuchungen der erhaltenen Mumien mit den Mitteln der Endoskopie und der Computertomographie haben ergeben: Die Ă€gyptischen Chirurgen konnten sogar Amputationen vornehmen und Prothesen einsetzen â eine Kunst, die in anderen Kulturen damals wahrscheinlich unbekannt war. Der Ăgyptologe Petersen ist ĂŒberzeugt, dass diese frĂŒhen Wanderarbeiter, âŠ
3. ZUSPIELUNG Petersen 12:04
â⊠die FachkrĂ€fte der damaligen Zeit dann natĂŒrlich ihre Techniken und ihr Wissen auch weitergegeben haben. Und so hat sich natĂŒrlich auch die gesamte antike Welt immer auch weiterentwickelt. ⊠FĂŒr einen Ăgypter war es sehr, sehr wichtig, von seiner Religion her, dass er wieder zurĂŒck kehrt nach Ăgypten, ⊠dass er, wenn er verstirbt, in der Erde Ăgyptens nahe beim Nil bestattet wird ⊠Deshalb wissen wir auch, dass diese Ă€gyptischen Ărzte auch wieder zurĂŒck nach Ăgypten kamen.â
MUSIK
ERZĂHLER
Ebenfalls im antiken Ăgypten finden sich erste Spuren einer weiteren Gruppe historisch bedeutsamer Wanderarbeiter: Als Anfang des 19. Jahrhunderts europĂ€ische Abenteuerreisende die monumentalen Ramses-Statuen im Ă€gyptischen Abu Simbel wiederentdecken, machen sie an den Figuren eine spannende Beobachtung. Lars Petersen:
4. ZUSPIELUNG Petersen 21:00
âDie waren ganz erstaunt, dass sie neben den Ă€gyptischen Hieroglyphen auch griechische Inschriften gefunden haben, also keine offiziellen Inschriften, die wirklich gezielt in Stein gemeiĂelt waren, sondern wie heute, so Graffiti, also âI was hereâ.
ERZĂHLERIN
Die griechischen âGraffitiâ geben den ArchĂ€ologen zunĂ€chst RĂ€tsel auf. Wie haben sich Griechen nach Ăgypten verirrt, mehrere Tausend Kilometer sĂŒdlich ihrer Heimat?
5. ZUSPIELUNG Petersen 21:00
âDa haben sich griechische Söldner, die unter einem bestimmten Pharao tĂ€tig waren, nĂ€mlich dem Pharao Psammetich dem Zweiten im sechsten Jahrhundert, die haben sich da verewigt, und die haben dann quasi so aufgeschrieben ihren Namen und ihre Kompagnie und unter wem sie gedient haben. Die mĂŒssen da irgendwie eine Rast gehalten haben.â
ERZĂHLER
Griechische Söldner sind ab 600 vor Christus im östlichen Mittelmeerraum ĂŒberaus gefragt â nicht nur bei den Ă€gyptischen Herrschern. In der Region kommt es immer wieder zu militĂ€rischen Konflikten, gute KĂ€mpfer sind gefragt. In den Quellen werden die griechischen Söldner âeherne MĂ€nnerâ genannt, in Anspielung auf ihre RĂŒstung und ihre Waffen, die aus Eisen geschmiedet sind, so Lars Petersen:
6. ZUSPIELUNG Petersen 24:47
âDie waren sehr gut ausgebildet, aber auch ausgerĂŒstet, und das war vor allem das, was man schĂ€tzte. Die kamen mit Sack und Pack, also die hatten ihre RĂŒstung, ihre selbstgeschmiedeten oder die sie sich haben fertigen lassen, die sie natĂŒrlich gut schĂŒtzten. Sie hatten prĂ€zise, gute Waffen, die sie selbst verwendeten, und die einfach dann den Gegnern ĂŒberlegen waren. ⊠also das muss wohl so eine richtige Eliteeinheit gewesen sein, ⊠vielleicht so etwas wie die französische Fremdenlegion, die bestimmte Aufgaben dann im MilitĂ€rdienst in Ăgypten ĂŒbernommen haben.â
MUSIK
ERZĂHLERIN
FĂŒr ihre Dienste unter fremden Herrschern und in fremden Regionen werden diese frĂŒhen militĂ€rischen Wanderarbeiter fĂŒrstlich entlohnt. In Ăgypten erhalten sie pures Gold. DafĂŒr mĂŒssen sie allerdings auch fern der Heimat kĂ€mpfen, und manch einer muss in der Fremde auch sein Leben lassen.
ERZĂHLER
Daheim ist das Ansehen von Söldnern eher gering, sie gelten als AuĂenseiter, leben meist abseits der Polis. Aber oft sehen MĂ€nner keinen anderen Ausweg: Die Bevölkerung Griechenlands wĂ€chst und im gebirgigen Land werden die Lebensmittel knapp. Viele MĂ€nner mĂŒssen sich anderswo nach einer Lebensgrundlage umschauen und entscheiden sich oft fĂŒr ein Leben als Söldner auf fremden Territorien.Â
MUSIK
ERZĂHLERIN
Im gleichen Zeitraum, um 500 vor Christus, sind andere frĂŒhe Wanderarbeiter dokumentiert: Im antiken Persien entsteht die heutige Weltkulturerbe-StĂ€tte Persepolis, die Stadt der Perser. Eine riesige, prachtvolle Palast- und Tempel-Anlage. Erbauen lieĂen sie die persischen GroĂkönige, so Lars Petersen:
7. ZUSPIELUNG Petersen
âDie haben wirklich gezielt aus ihren neuen Provinzen oder Satrapien, so hieĂ es bei den Persern, haben die sich dann die interessanten Leute geholt. Also da gibt es âŠQuellen aus Persepolis, die dann sagen: Auf unserer Baustelle des Königspalastes haben 200 Ăgypter und 200 Syrer gearbeitet⊠teilweise Namen und die Gehaltsforderungen und was die bekommen haben und was die auch gemacht haben - also das waren Steinmetze, das waren Holzhandwerker, also Schreiner, die auf diesen Baustellen dann auch gearbeitet haben, und dann wahrscheinlich auch wieder in die Regionen zurĂŒckgegangen sind, wo sie ursprĂŒnglich herkamen.â
ERZĂHLER
Auch fĂŒr das römische Reich ist der Einsatz diverser Wanderarbeiter verbĂŒrgt. Insbesondere in der Landwirtschaft waren sie gang und gĂ€be. Zu Erntezeiten waren Kolonnen von Erntehelfern aus anderen Regionen fĂŒr GroĂgrundbesitzer tĂ€tig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
ERZĂHLERIN
Schon die frĂŒhen Wanderarbeiter kommen bei TĂ€tigkeiten zum Einsatz, die besondere Kenntnisse und FĂ€higkeiten erfordern â und, wenn die heimische Bevölkerung nicht damit dienen kann oder will. Der Historiker Willi Kulke, der das Industriemuseum in Lage leitet, hat dem PhĂ€nomen der Wanderarbeit in Geschichte und Gegenwart eine Ausstellung gewidmet. Er ist davon ĂŒberzeugt: Wanderarbeiter gab es schon immer.
8. ZUSPIELUNG Kulke 1:39
âEs gab immer schon Gegenden, in denen Mehrbedarf war an Arbeit, und wo weniger Bedarf war und Wanderarbeit ist ganz hĂ€ufig auch davon bestimmt, dass die Arbeit nur saisonal anliegt. ⊠in der Landwirtschaft gibtâs ganz viele Bereiche, die nie existieren wĂŒrden, ⊠ohne dass Menschen aus Gegenden kommen, in der sie noch weniger verdienen und die deswegen ein Interesse daran haben, fĂŒr einen bestimmten Zeitraum auch in der Fremde zu arbeiten.â
MUSIK
ERZĂHLER
Gerade im Mittelalter gab es viele Handwerker, die davon lebten, mit ihrem Leiterwagen ĂŒber Land von Ort zu Ort zu ziehen, um den Menschen ihre Dienste und Waren anzubieten. Viele waren gezwungen, lĂ€ngere Zeit auf der StraĂe zu leben, sie schliefen in Schuppen oder UnterstĂ€nden. Liefen die GeschĂ€fte schlecht, waren sie auf Almosen angewiesen. Kesselflicker, BĂŒrstenbinder, Scherenschleifer, genauso wie etwa auch Hausierer â alle zĂ€hlen zum fahrenden Volk. Viele von ihnen sind Juden, Sinti und Roma, die sich nicht in den StĂ€dten niederlassen dĂŒrfen und von den ZĂŒnften ausgeschlossen sind. Der Historiker Willi Kulke:
9. ZUSPIELUNG Kulke 12:12
âDas waren vor allen Dingen Berufe, die in der Menge in der Stadt nicht gebraucht wurden â so ein Kesselschmied, der konnte ein ganzes Jahr nicht davon in einer Stadt leben. Genauso wenig ein Scherenschleifer, ⊠der zog durch ein bestimmtes Gebiet und war halt eins, zwei, vielleicht auch viermal im Jahr in den entsprechenden Dörfern fĂŒr einen Tag oder zwei, verrichtete seine Arbeit, aber dann war das auch erledigt mit der Menge der Scheren und Messer, die entsprechend nachzuschleifen waren, und er zog weiter in den nĂ€chsten Ort nach. Also bei diesen Berufen ist es vor allen Dingen ein Gewerbe, bei dem die Nachfrage in den einzelnen Orten nicht so groĂ war, zum anderen aber auch eine gewisse Fachkenntnis notwendig war, um Messer, Scheren entsprechend richtig zu schleifen oder einen Kupferkessel also wirklich wieder dicht zu bekommen, der unter UmstĂ€nden durchgescheuert war oder aus anderen GrĂŒnden Löcher bekommen hatte.â
MUSIK
ERZĂHLERIN
Diese Wanderhandwerker und-kaufleute decken Nischen ab, die die ansĂ€ssigen Handwerker und Kaufleute nicht bedienen. So bieten die Hausierer ein buntes Sortiment an Kurzwaren, TĂŒchern, BĂ€ndern, Kerzen, aber auch Tee, Kaffee oder Schmuck an. Die niedergelassenen KrĂ€mer betrachten sie oft als lĂ€stige Konkurrenz, sie werden als arbeitsscheu und sittlich verdorben verunglimpft. So heiĂt es in einem Bericht aus dem Jahr 1769:
ZITATORÂ
âSie betrĂŒgen den geringen Mann nicht nur mit schlechten Waren und ĂŒbersetzen ihn im Preise, sondern bestehlen ihn auch noch manchmal dazu. Sie verfĂŒhren die Weiber zu unnĂŒtzer Pracht und Ăppigkeit; sie schleppen ihnen heimlich Kaffee und starke GetrĂ€nke zu, und verleiten sie gar oftmals zu andern Ausschweifungen.â
ERZĂHLER
Die Dienste der umherziehenden Hausierer und Handwerker werden zwar benötigt, dennoch mĂŒssen sie eher am Rande der Gesellschaft leben, so der Historiker Willi Kulke. Man beĂ€ugt sie mit Argwohn. Fehlt irgendwo ein Silberlöffel, fĂ€llt der Verdacht schnell auf diese wandernden Arbeiter.
10. ZUSPIELUNG Kulke 13:31
âEs waren halt Menschen, von denen man nicht so genau wusste, wo sie herkamen, wo sie lebten, wie sie lebten. ⊠Das war dieser Makel der unehrenhaften Handwerker, Gewerke oder Gewerbe, die halt eben nicht wie ein Kaufmann oder ein Tischler oder ein Schumacher fest am Ort etabliert waren und entsprechend anerkannt. So waren halt eben Scherenschleifer, Kesselflicker oder andere halt schon eher ein unehrbares Handwerk.â
11. ZUSPIELUNG Museum (mit Musik)Â
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ERZĂHLERIN
Das Ziegelei-Museum Lage. Eine eigene Ausstellung ist hier einer besonderen Gruppe von Wanderarbeitern aus dem westfĂ€lischen Lippe gewidmet. Die lippischen Wanderziegler haben vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur ihre Heimat-Region geprĂ€gt, sagt der Leiter des Ziegeleimuseums, Willi Kulke.Â
12. ZUSPIELUNG Kulke
âIch wĂŒrde einfach mal so vereinfacht sagen: Die Lipper haben Berlin aufgebaut. Die saĂen in Glindow, Zehdenick rund um Berlin und haben Millionen von Ziegeln produziert, mit denen dann spĂ€ter diese riesen Mietskasernen mit drei, vier bis zu sieben HinterhĂ€usern entstanden, mit denen groĂe Fabriken entstanden â und ohne die Lipper wĂ€re diese Industrialisierung so nicht möglich gewesen, weil sie den Baustoff lieferten eben dafĂŒr.â
ERZĂHLER
Am Anfang ist die Not. Im damaligen FĂŒrstentum Lippe leben die meisten Menschen von der Handspinnerei und -weberei in Heimarbeit. Mit dem Aufkommen der Textilfabriken ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlieren sie ihr Einkommen. Die Landwirtschaft wirft zu wenig ab, um die ganze Bevölkerung davon zu ernĂ€hren. Da bietet der Bauboom in StĂ€dten wie Berlin, Hamburg oder Bremen den arbeitssuchenden Lippern eine Chance. Der Historiker Willi Kulke:
Â
13. ZUSPIELUNG Kulke 7:56
âDie schaffen einen Baustein, einen von vielen, um Industrialisierung in Deutschland ĂŒberhaupt möglich zu machen. ⊠Und da konnte man aber auch nur Wanderarbeiter gebrauchen, weil Ziegel kann man nur von MĂ€rz bis Oktober herstellen, danach es zu kalt und friert dieser Lehm. Und es ist nicht möglich, also Steine zu formen, die nicht wieder auseinanderbröseln. DafĂŒr braucht man dann Wanderarbeiter, die bereit sind, genau das tun, in einer bestimmten Saison zu arbeiten und dann das Land aber auch wieder zu verlassen oder die Gegend wieder zu verlassen, weil man sie nicht haben wollte, wenn sie keine Arbeit hatten.â
ERZĂHLERIN
In seinen âWanderungen durch die Mark Brandenburgâ beschreibt Theodor Fontane 1873 das arbeitsame Leben der lippischen Wanderarbeiter vor den Toren Berlins:
ZITATORÂ
âDie Lipper, nur MĂ€nner, kommen im April und bleiben bis Mitte Oktober. Die Leute sind von einem besonderen FleiĂ. Sie arbeiten von drei Uhr frĂŒh bis acht oder selbst neun Uhr abends, also nach Abzug einer EĂstunde immer noch nah an siebzehn Stunden. Sie verpflegen sich nach Lipper Landessitte, das heiĂt im wesentlichen westfĂ€lisch. Man darf sagen, sie leben von Erbsen und Speck, die beide [âŠ] aus der lippeschen Heimat bezogen werden, wo sie diese Artikel besser und billiger erhalten. Mitte Oktober treten sie, jeder mit einer ĂberschuĂsumme von nahezu 100 Talern, den RĂŒckweg an [âŠ].â
MUSIK
ERZĂHLER
In geschlossenen Gruppen fahren die Wanderziegler mit der Bahn jedes FrĂŒhjahr in die Fremde, um dort auf den Ziegeleien in Akkordarbeit ihr Geld zu verdienen. Vor allem die FamilienvĂ€ter schicken den GroĂteil ihres kargen Lohns sofort zurĂŒck in die Heimat, behalten nur ein kleines Taschengeld fĂŒr sich. Die finanzielle Lage der Ziegler bessert sich erst in den 1920er Jahren â da können sich einige den Luxus eines eigenen Fahrrads oder Radios leisten, allerdings nur, wenn sie dafĂŒr monatelang eisern sparen.
ERZĂHLERIN
Die MĂ€nner werden in der Fabrik angelernt und eingearbeitet, jeder spezialisiert sich auf eine bestimmte TĂ€tigkeit in der Produktion â sei es als TongrĂ€ber, Former oder Brenner. Bei schlechtem Lehm, Krankheit oder UnfĂ€llen mĂŒssen alle den Verlust tragen.
ERZĂHLER
Meist leben zwei Dutzend Arbeiter zusammen in einem Wohnhaus, manchmal auch nur in einer einfachen, spartanisch eingerichteten Bretterbude, immer jedoch in unmittelbarer NĂ€he zur Fabrik mit dem Ziegelofen. Immer wieder kommt es deshalb zu BrĂ€nden. Die MĂ€nner teilen sich einen Schlafsaal, jeder hat eine einfache Bettstatt, als Unterlage dient ein mit Stroh gefĂŒllter Leinensack. Oft werden die JĂŒngsten, vielfach erst 14-JĂ€hrigen, abstellt zum Kochen, spĂ€ter leisten sich viele Mannschaften eine HaushĂ€lterin. Die Mahlzeiten nehmen sie gemeinsam ein. Man bildet eine Ersatzfamilie, hat kaum Kontakt zur AuĂenwelt -das schweiĂt zusammen.
ERZĂHLERIN
Die Familie bleibt wĂ€hrend dieser Monate zuhause. Die meisten Frauen bewirtschaften einen kleinen Hof, halten HĂŒhner und vielleicht ein Schwein, bauen GemĂŒse an, ziehen die Kinder groĂ und mĂŒssen zum Teil fĂŒr die Pacht ihres Hofes beim GroĂbauern arbeiten. Ein richtiges Familienleben, einen Alltag, den Frau und Mann teilen, findet nur im Winter statt. Kontakt halten sie wĂ€hrend der Monate der Trennung ĂŒber Briefe, immer wieder bekommen die Wanderziegler auch ein StĂŒck Schinken oder Speck aus der Heimat geschickt. Der Lohn fĂŒr die Zieglerarbeit soll schlieĂlich am Ende der Saison möglichst vollstĂ€ndig in den gemeinsamen Haushalt flieĂen.Â
ERZĂHLER
Die Hochphase der Wanderarbeit der lippischen Ziegler endet nach dem Ersten Weltkrieg. In Lippe entwickelt sich eine eigene Industrie und die Ziegler werden zunehmen durch Maschinen ersetzt.
ERZĂHLERIN
Und heute? Heute sind weltweit ganze Wirtschaftszweige auf Wanderarbeiter angewiesen â Menschen, die ihrer Heimat vorĂŒbergehend oder regelmĂ€Ăig fĂŒr etliche Monate oder Jahre den RĂŒcken kehren, um dorthin zu ziehen, wo es Arbeit und ein Auskommen fĂŒr sie gibt. Viele von ihnen werden ausgebeutet und wie Sklaven behandelt.
China: Abermillionen von Chinesen ziehen durch das riesige Land und ermöglichen dort unter hĂ€rtesten Arbeitsbedingungen den gigantischen Bauboom. Indien: Rund 40 Millionen Wanderarbeiter kommen vom Land in die StĂ€dte, um dort meist als Tagelöhner in Fabriken, auf dem Bau oder fĂŒr Transportunternehmen zu schuften. UnzĂ€hlige leben in den Slums buchstĂ€blich von der Hand in den Mund, etliche schlafen auf der StraĂe.
ERZĂHLER
Deutschland: Altenpflegerinnen aus Osteuropa stemmen ein Gros der hĂ€uslichen Pflege hierzulande; sie leben im Haushalt mit den PflegebedĂŒrftigen, um die sich fĂŒr einen kargen Lohn kĂŒmmern, fern der eigenen Familie in der Heimat. Spanien: Ein Heer an Saisonarbeitern schwĂ€rmt alljĂ€hrlich auf die Felder, um Salat zu pflanzen, Melonen und Tomaten zu ernten oder Spargel zu stechen.
ERZĂHLERIN
In Europa arbeiten die SaisonarbeitskrĂ€fte zum Mindestlohn â zumindest auf dem Papier. Doch immer wieder ziehen die Arbeitgeber einen groĂen Anteil ab und behalten ihn ein â fĂŒr die Verpflegung, ArbeitsgerĂ€te und die Unterbringung; eine Unterbringung, oft in einfachen Containern oder ĂŒberfĂŒllten SammelunterkĂŒnften. Gewerkschaften kritisieren die Arbeitsbedingungen als Sklaverei: Oftmals muss ohne Ruhetage durchgearbeitet werden, Zehn-Stunden-Tage sind bei der körperlichen schweren Arbeit keine Ausnahme. Die Betriebe mĂŒssen fĂŒr die Arbeiter wĂ€hrend eines Zeitraums von drei Monaten keine Sozialabgaben zahlen.
MUSIK
ERZĂHLER
Auch wenn der Auszug in die Fremde quer durch die Geschichte sicherlich abenteuerliche Aspekte hat - als schiere Wanderslust ist das MassenphĂ€nomen der Wanderarbeit nicht zu erklĂ€ren. Freiwillig lassen die wenigsten ihr Zuhause und ihre Familie zurĂŒck, um der Arbeit nachzuwandern. Davon ist Willi Kulke ĂŒberzeugt. Der Arbeit wegen zeitweise oder langfristig seiner Heimat den RĂŒcken zu kehren, bedeutet fĂŒr die Menschen schlieĂlich den Sprung ins kalte Wasser, das Kappen von gewachsenen Beziehungen und den Verlust der Heimat. FĂŒr viele eröffnet Wanderarbeit aber auch eine Perspektive, oftmals die einzige. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geĂ€ndert.
14. ZUSPIELUNG Kulke 10:32
âSolange, wie Menschen arm sind irgendwo und Arbeit suchen, wird es immer Wanderarbeit geben. Und genauso wird es immer das BedĂŒrfnis geben, fĂŒr einen bestimmten Zeitraum möglichst billige ArbeitskrĂ€fte anzuwerben, die Dinge tun, die die heimische Gesellschaft selber so nicht tun will, so wie sie heute fast niemanden mehr finden, der bereit ist, fĂŒr diese Löhne Erdbeeren zu pflĂŒcken oder Spargel zu stechen. ⊠Solange wie keine gerechten, also wirklich auskömmliche Löhne dafĂŒr gezahlt werden fĂŒr eine wirklich sehr, sehr schwere körperliche Arbeit, solange wird man immer andere ArbeitskrĂ€fte anwerben, die oft aus eigener Not halt eben bereit sind, jetzt zum Beispiel aus der Ukraine zu kommen, um hier Spargel zu stechen.â