Alles Geschichte - History von radioWissen   /     NS-TERROR - Euthanasie als Beginn der Massenmorde

Description

Vor dem Völkermord im Osten begannen die Nationalsozialisten mit der mörderischen Umsetzung ihrer rassistischen Ideologie im Reichsgebiet. Sie töteten Tausende von Kranken und Behinderten im Rahmen der sogenannten Aktion T4. Von Renate Eichmeier (BR 2018)

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Duration
00:00:00
Publishing date
2025-01-24 10:05
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/ns-terror-euthanasie-als-beginn-der-massenmorde/2102383
Contributors
  Renate Eichmeier
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Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2102383/c/feed/ns-terror-euthanasie-als-beginn-der-massenmorde.mp3
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Shownotes

Vor dem Völkermord im Osten begannen die Nationalsozialisten mit der mörderischen Umsetzung ihrer rassistischen Ideologie im Reichsgebiet. Sie töteten Tausende von Kranken und Behinderten im Rahmen der sogenannten Aktion T4. Von Renate Eichmeier (BR 2018)

Credits
Autorin: Renate Eichmeier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Gerrit Hohendorf

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Und hier noch ein paar besondere Tipps fĂŒr Geschichts-Interessierte:


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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLER:
Martin B., Schuhmachermeister, geboren 1901, erkrankt als Jugendlicher 1918 an einer GehirnentzĂŒndung und leidet jahrelang unter den Folgen: Parkinson-Symptome wie Zittern der linken Hand, spĂ€ter auch Nachziehen des linken Beines. Ab 1926 ist der junge Familienvater wiederholt in Behandlung in einer psychiatrischen Klinik in TĂŒbingen, arbeitet nach seiner Entlassung immer wieder als Schuhmacher. Im September 1938 weist ihn der behandelnde Arzt in die Heilanstalt Schussenried ein. Anfang Mai 1940 schreibt er eine letzte Postkarte an seine Familie. Zwei Monate spĂ€ter erhalten seine Frau und seine Kinder einen sogenannten „Trostbrief“ aus der Anstalt Schloss Grafeneck bei Reutlingen, in dem sie mit Bedauern darĂŒber informiert werden, dass Martin B. an einem Hirnschlag gestorben sei.

O-TON1 HOHENDORF 18‘‘
Aktion T4 bedeutet die systematische Erfassung, Selektion und Vernichtung der Patienten in psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Jahren 1939 bis 1941.

ERZÄHLER:
Ballastexistenzen – Rassenhygiene – Erbkranke – lebensunwertes Leben – Aufartung – Erbgesundheit – Volkskörper – minderwertige Erbmasse – Euthanasie – Gnadentod

ERZÄHLERIN:
T4 ist das KĂŒrzel fĂŒr die Tiergartenstraße 4 in Berlin und war die Adresse einer eleganten Stadtvilla aus der GrĂŒnderzeit, die sich nahe der heutigen Philharmonie befand. Im Auftrag der „Kanzlei des FĂŒhrers“, einer Dienststelle, die Adolf Hitler unmittelbar unterstand, waren dort ab 1940 Verwaltungsbeamte, Sachbearbeiter, SekretĂ€rinnen, Fahrer und Ärzte mit einer sogenannten „Geheimen Reichssache“ beschĂ€ftigt: Unter dem Tarnnamen „Zentraldienststelle T4“ organisierten sie die Ermordung von etwa siebzigtausend Menschen, die aus den unterschiedlichsten GrĂŒnden in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren. Dazu der Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf. 

O-TON2 HOHENDORF 1‘ 05‘‘
Wie bei vielen anderen nationalsozialistischen Massenvernichtungsaktionen auch gibt es hier nicht so etwas wie einen eindeutigen Befehl, eine eindeutige Anordnung. Es gibt die Euthanasie-ErmĂ€chtigung von Adolf Hitler, rĂŒckdatiert auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, aber wahrscheinlich im Oktober 1939 verfasst, die namentlich zu bestimmende Ärzte ermĂ€chtigen sollte, bei kritischer PrĂŒfung des Gesundheitszustandes den Gnadentod zu gewĂ€hren. Das klingt jetzt zunĂ€chst einmal sehr human, war aber eigentlich eine verklausulierte Formulierung, dass sich innerhalb der Psychiatrie ein Expertenkreis bilden sollte, der das Programm zur Vernichtung lebensunwerten Lebens plant und ausfĂŒhrt.

ERZÄHLERIN:
Die Idee vom sogenannten „lebensunwerten Leben“ war keine nationalsozialistische Erfindung, sondern lĂ€sst sich zurĂŒckverfolgen ins 19. Jahrhundert. Auf dem Hintergrund von Kolonialismus und aufstrebenden Naturwissenschaften braute sich ein explosives Gedankengemisch zusammen, das biologistische Vorstellungen zu gesellschaftlichen MaßstĂ€ben machte. Sozialdarwinisten wie der britische Soziologe Herbert Spencer prĂ€gten Begriffe wie den vom „survival of the fittest“, wörtlich dem „Überleben der Passendsten“. Autoren wie der Franzose Arthur Gobineau fantasierten von Ariern und dem unterschiedlichen Wert von menschlichen Rassen.
Ärzte wie der Deutsche Alfred Plötz beschĂ€ftigten sich mit der in Mode gekommenen „Eugenik“, sprich: „Erbgesundheitslehre“, in der es um die Verbesserung des menschlichen Erbgutes ging. Und die Diskussionen um Sterbehilfe, ursprĂŒnglich gedacht als Erlösung fĂŒr Schwerkranke, verlagerten ihren Fokus zusehends auf eine Pflicht zum Tod fĂŒr all diejenigen, die der Gesellschaft keinen ökonomischen Nutzen brachten. Begriffe wie „Rassenhygiene“ und „lebensunwertes Leben“ etablierten sich und kursierten weltweit in wissenschaftlich verbrĂ€mten Diskussionen.

ERZÄHLER:
1920 veröffentlichte Alfred Hoche, Professor fĂŒr Psychiatrie in Heidelberg, gemeinsam mit dem Juristen Karl Bindung in dem renommierten Wissenschaftsverlag Felix Meiner in Leipzig ein Buch mit dem Titel: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“; in dem befĂŒrworteten die beiden Autoren neben der Sterbehilfe fĂŒr Schwerkranke auch die Tötung von Zitat: „geistig toten Menschen“. Darunter subsummierten sie Menschen mit den verschiedensten geistigen, psychischen oder körperlichen Handicaps, die als „Ballastexistenzen“ der Gesellschaft Geld kosten und ihr schaden wĂŒrden.

ERZÄHLERIN:
Sozialdarwinistische und rassistische Vorstellungen eskalierten in der nationalsozialistischen Ideologie zu einer Extremform. Auf der einen Seite das arische Ideal des germanischen Herren-Menschen: blond, blauĂ€ugig, stark, gesund. Auf der anderen Seite die – in AnfĂŒhrungszeichen „Untermenschen“: die Juden, die Kranken, die Schwachen 
 Sofort nach der MachtĂŒbernahme 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der politischen Umsetzung ihrer rassistischen Ideologie. Einerseits sollten durch Projekte wie dem „Lebensborn e.V.“ diejenigen zur Fortpflanzung animiert werden, die dem blonden Ideal entsprachen. Andrerseits diente eine Flut von Gesetzen der Durchsetzung der sogenannten „Rassenhygiene“ und legalisierte staatliche Sanktionen gegen Menschen mit unerwĂŒnschtem Erbgut – egal ob aus gesundheitlichen oder anderen GrĂŒnden.

ERZÄHLER:
Vom Juli 1933 stammte das „Gesetz zur VerhĂŒtung erbkranken Nachwuchses“, das staatlich verordnete Zwangssterilisationen erlaubte und im Laufe der Jahre systematisch erweitert wurde, ebenfalls 1933 „Gesetz ĂŒber Förderung der Eheschließungen“, Juni 1935 „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur VerhĂŒtung erbkranken Nachwuchses“, September 1935 „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, Oktober 1935 „Ehegesundheitsgesetz“ ...

ERZÄHLERIN:
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges war der normale Alltag außer Kraft gesetzt. Die Nationalsozialisten begannen mit der Ermordung all jener, die sie vorher gesellschaftlich ausgegrenzt hatten. Um die Mordaktion zu verschleiern, trat die Zentraldienststelle T4 nach außen hin je nach Bedarf unter verschiedenen Tarnnamen auf.

ERZÄHLER:
Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, GemeinnĂŒtzige Stiftung fĂŒr Anstaltspflege, GemeinnĂŒtzige Krankentransport GmbH und Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten.

ERZÄHLERIN:
Im Deutschen Reich gab es etwa 800 psychiatrische Einrichtungen. Initiiert durch die Zentraldienststelle T4 in Berlin wurden ab Oktober 1939 sechs der großen Pflegeanstalten gemietet oder beschlagnahmt:

ERZÄHLER:
Als erstes Schloss Grafeneck in WĂŒrttemberg, weitere folgten in Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale, Hartheim bei Linz, Hadamar bei Limburg und auf Schloss Sonnenstein bei Pirna.

ERZÄHLERIN:
Gaskammern und Krematorien wurden eingebaut und zuverlĂ€ssiges Personal angeworben: Verwaltungspersonal, Fahrer fĂŒr die Deportationen, Leichenbrenner, Ärzte, die das Töten der Patienten ĂŒbernahmen.

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Bei der Rekrutierung wurde den Leuten noch nicht klar gesagt, was auf sie zukommt. Die wurden also so sukzessive damit konfrontiert. Man hat die Aktion im Groben erlĂ€utert. Aber dass es sich tatsĂ€chlich um ein industrielles Massenvernichtungs-Programm gehandelt hat, das ist, glaub ich, vielen erst klargeworden, als sie dann tatsĂ€chlich in den Tötungsanstalten angekommen sind. Angedeutet wurde das in jedem Fall, verklausuliert formuliert, aber die ganz konkrete brutale Umsetzung – die haben sie, denke ich, vor Ort erfahren.

ERZÄHLER:
Unter dem Decknamen Doktor Schmitt war der junge Arzt Aquillin Ullrich 1940 einige Monate in der Tötungsanstalt in Brandenburg tĂ€tig – als Vertreter des Leiters Irmfried Eberl, der als Arzt fĂŒr die Ermordung zustĂ€ndig war. Nach dem Krieg sagte Ullrich aus, dass er – wie fĂŒr die Ärzte vorgeschrieben – bei der Untersuchung der entkleideten Opfer und bei der sich daran anschließenden Ermordung in der Gaskammer beteiligt war. Aus seiner Studentenzeit kannte Ullrich den WĂŒrzburger Professor fĂŒr Psychiatrie Werner Heyde, der von Beginn an in die Euthanasie-Morde verwickelt war. Heyde hatte ihm von der Aktion erzĂ€hlt und gefragt, ob er als Assistenzarzt beim Zitat: „EinschlĂ€fern“ ausgewĂ€hlter Patienten mitarbeiten wolle. Nach einiger Bedenkzeit hatte er zugesagt, weil er – so sagte er aus – den „unheilbar Kranken“ bei der Erlösung von ihren Leiden habe helfen wollen. Bei seinem ersten Besuch in der Tötungsanstalt Brandenburg sei ihm klargeworden, dass es sich um industriellen Massenmord handle, er habe sich niedergeschlagen gefĂŒhlt, habe aber nicht den Mut aufgebracht abzusagen.

ERZÄHLERIN:
Aquillin Ullrich warb Studienfreunde fĂŒr die T4 Aktion und wechselte Ende 1940 in die Zentraldienststelle nach Berlin, wo er in der Planungsabteilung arbeitete. Mit großem bĂŒrokratischen Aufwand plante und organisierte die Berliner Zentrale die Morde – nicht zuletzt auch aus GrĂŒnden der Verschleierung. In Zusammenarbeit mit dem Reichsministerium des Inneren erfolgte die Auswahl der Opfer mittels Meldebogen –

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wo gefragt wurde nach der Diagnose der Erkrankung, nach der Dauer der Erkrankung, nach der Dauer der Anstaltsbehandlung, nach der Prognose, nach dem Kontakt zu Angehörigen und vor allem auch nach dem Verhalten. Und ganz am Ende sollte dann die ArbeitsfĂ€higkeit in Prozent der Arbeitsleistung Gesunder eingeschĂ€tzt werden. Diese fehlende ökonomische Brauchbarkeit der Anstaltspatienten war das entscheidende Selektionskriterium der Aktion T4.

ERZÄHLERIN:
Die Direktoren der Heil- und Pflegeanstalten fĂŒllten die Meldebögen aus und schickten sie nach Berlin. Die Zentraldienststelle T4 verteilte sie dann an die psychiatrischen Gutachter, die in einem KĂ€stchen am linken unteren Rand des Meldebogens ihr Urteil abgaben: ein rotes Kreuz stand fĂŒr Liquidierung des Patienten; ein blaues Minus-Zeichen bedeutete, dass der Patient weiterleben durfte. Das war alles. Danach ging der Meldebogen an einen Obergutachter, der letztendlich ĂŒber Leben und Tod entschied. Insgesamt waren etwa 40 Psychiater als Gutachter fĂŒr die T4 Aktion tĂ€tig. Darunter waren UniversitĂ€ts- und Anstaltspsychiater, die sich in den 1920er Jahren intensiv fĂŒr die Reform der Psychiatrie eingesetzt hatten, nationalsozialistische ÜberzeugungstĂ€ter und auch solche, die sich eher als Verwaltungsbeamte verstanden und die Kosten in den ĂŒberfĂŒllten Anstalten reduzieren wollten.

O-TON5 HOHENDORF 1‘12‘‘
Der Großteil der Psychiater hat in den 1930er Jahren den Schwerpunkt seiner Arbeit auf PrĂ€vention gelegt und gesagt: Unsere Hauptaufgabe ist eigentlich das deutsche Volk auf erbliche psychiatrische Erkrankungen zu screenen, das Sterilisationsprogramm zu unterstĂŒtzen und an einem großen Erlösungswerk teilzuhaben. Und ich glaube, dass dies es den Psychiatern erleichtert hat, die Patienten dann auch letztlich den Deportationen der Aktion T4 auszuliefern. Es gibt eine enge VerknĂŒpfung zwischen Heilen und Vernichten, also zwischen der Idee, dass man die unheilbaren Patienten, die sich auch durch die damals modernen Schocktherapieverfahren therapeutisch nicht positiv beeinflussen lassen, dass man diese Patienten loswird, um die damit verbundenen Ressourcen lieber fĂŒr die heilbaren Patienten einzusetzen.

ERZÄHLERIN:
Die Direktoren der Pflege- und Heilanstalten wurden nicht offiziell darĂŒber informiert, welchen Zweck die Erfassung durch die Meldebogen hatte. SpĂ€testens aber als die ersten Transportlisten kamen mit den Namen von denjenigen, die verlegt werden sollten, war klar, dass es sich nicht nur um eine Erfassung fĂŒr bĂŒrokratische Zwecke handelte. Unter dem Decknamen „GemeinnĂŒtzige Krankentransport GmbH“ organisierte die Zentralstelle die Deportationen in die Tötungsanstalten. Pro Transport wurden 40 bis maximal 150 Personen abgeholt: Menschen mit körperlichen oder geistigen Handicaps, mit psychischen Störungen, chronischen Krankheiten, Lernschwierigkeiten, Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, Akademiker, Kaufleute, Handwerker, Arbeiter, Menschen, die sozial auffĂ€llig waren – etwa als Obdachlose oder Prostituierte.

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Im Grunde genommen setzen sich die T4 Opfer zusammen aus den Menschen, die damals aus den unterschiedlichsten GrĂŒnden heraus in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen wurden, weil sie als psychisch krank angesehen waren, weil sie mit den Leistungsanforderungen der NS Volksgemeinschaft nicht zurecht gekommen sind, weil sie vielleicht auch Straftaten begangen haben oder auf der Straße auffĂ€llig geworden sind, von der Polizei aufgegriffen wurden und dann eben in eine Heil- und Pflegeanstalt kamen.

ERZÄHLERIN:
Die Tötungsanstalten gaben sich den Schein einer normalen Heil- und Pflegeanstalt. Das Personal trug weiße Kittel. Bei Ankunft wurden die MĂ€nner und Frauen in einen Aufenthaltsraum gebracht, wo sie sich unter dem Vorwand einer Untersuchung ausziehen mussten. Anschließend wurden sie Ärzten wie Aquillin Ullrich vorgefĂŒhrt, die ihre IdentitĂ€t ĂŒberprĂŒften, kontrollierten, ob die Entscheidung eines Obergutachters vorlag und entschieden, welche Todesursache offiziell angegeben werden sollte. Unter dem Vorwand, dass sie eine Dusche nehmen sollten, wurden die Gruppen dann geschlossen in die Gaskammern gefĂŒhrt. Das EinfĂŒhren von Kohlenmonoxid war die Aufgabe der Ärzte. Durch ein Sichtfenster konnten sie das Sterben der Menschen beobachten. Nach einer knappen halben Stunde wurde der Gashahn zugedreht, die Gaskammern entlĂŒftet und die Leichen dann ein bis zwei Stunden spĂ€ter von Pflegern in einen Totenraum gebracht, wo ihnen vor ihrer Verbrennung im Krematorium GoldzĂ€hne herausgenommen wurden.

ERZÄHLER:  
Schloss Grafeneck bei Reutlingen: 9.839 Ermordete; Brandenburg an der Havel: 9.772 Ermordete; Bernburg an der Saale: 8.601 Ermordete; Hadamar in Nordhessen: 10.072 Ermordete; Hartheim bei Linz: 18.269 Ermordete; Schloss Sonnenstein bei Pirna 13.720 Ermordete.

ERZÄHLERIN:  
Jeder Tötungsanstalt war ein Standesamt angeschlossen. Es stellte die Sterbeurkunden fĂŒr die Ermordeten aus, die den Hinterbliebenen mit einem Begleitschreiben zugesandt wurden.

ERZÄHLER:  
In diesen sogenannten „Trostbriefen“ drĂŒckten die Verantwortlichen ihr Bedauern aus, gaben natĂŒrliche Todesursachen wie Hirnschlag an und verwiesen darauf, dass nach dem langen unheilbaren Leiden der Tod sicher eine Erlösung gewesen sei.

ERZÄHLERIN:
Trotz strengster Geheimhaltung machten GerĂŒchte die Runde. Die grauen Busse, der Rauch ĂŒber den Tötungsanstalten, der Gestank nach verbrannten Leichen 
 Das massenhafte Sterben der Psychiatriepatienten und -patientinnen sorgte fĂŒr Aufsehen in der Öffentlichkeit. Im FrĂŒhjahr 1940 wussten oder ahnten zumindest weite Teile der Bevölkerung, was in den Tötungsanstalten vor sich ging. Widerstand und Protest regte sich insbesondere in kirchlichen Kreisen. Katholische und evangelische Bischöfe haben sich mit Eingaben an das Justizministerium gewandt, StaatsanwĂ€lte Ermittlungsverfahren eingeleitet. Doch der Versuch, die Morde auf legalem Weg zu stoppen, hatte keinen Erfolg.

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Das einzige was Erfolg hatte, war der öffentliche Protest. Und den hat beispielhaft der Bischof von MĂŒnster, Graf von Galen, in seiner Predigt am 3. August 1941 in der Lambertikirche in MĂŒnster umgesetzt, wo er öffentlich ĂŒber die Deportation der MĂŒnsteraner Psychiatriepatienten berichtet hat.

ERZÄHLERIN:
Die mutige Predigt Graf von Galens gegen die Euthanasiemorde schlug hohe Wellen in der Öffentlichkeit. Um die Bevölkerung zu beruhigen, ließ Adolf Hitler im August 1941 die Mordaktion unterbrechen. Die Zentraldienststelle T4 in Berlin stellte ihre TĂ€tigkeit zwar nicht ein, die Meldebogenerfassung ging weiter, aber die Deportationen der Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten fanden nicht mehr statt. Die Tötungsanstalten haben das Morden zum Teil ganz eingestellt. Andere hatten eine neue Opfergruppe.

ERZÄHLER:
In den Gaskammern in Bernburg an der Saale, auf Schloss Sonnenstein bei Pirna und in Hartheim bei Linz wurden HÀftlinge aus Konzentrationslagern ermordet, die als arbeitsunfÀhig galten.

ERZÄHLERIN:
Neben der Ermordung der etwa siebzigtausend Patienten und Patientinnen, die von der Berliner Zentraldienststelle T4 aus den psychiatrischen Anstalten deportiert wurden, ließen die Nationalsozialisten noch weitere Zehntausende von Menschen unter dem Deckmantel der Euthanasie töten. Bereits seit 1939 wurden im Reichsgebiet Kinder und Jugendliche mit geistigen oder körperlichen Handicaps in extra dafĂŒr eingerichteten Kinderfachabteilungen ermordet. In den besetzten Ostgebieten wurden Psychiatrieinsassen erschossen, mit Gas oder wie auch immer getötet. Und in den psychiatrischen Anstalten vor Ort wurden ab August 1941 Patienten zwar nicht mehr von Bussen abgeholt und in den Tötungsanstalten ermordet, aber man forcierte ihr Sterben auf verschiedenste Art und Weise. Die Sterblichkeit in den Heil- und Pflegeanstalten stieg rapide an: von etwa 5 Prozent Ende der 1930er Jahre auf 20, 30 oder 40 Prozent in einzelnen Anstalten.

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Das hatte natĂŒrlich System, das bedeutet, dass man durch die Sparmaßnahmen und die schlechte Versorgung der Patienten einen deutlichen Anstieg der Sterblichkeit, insbesondere beispielsweise an Infektionskrankheiten, an Tuberkulose, bewusst in Kauf genommen hat. Und diese deutliche Erhöhung der Sterblichkeit, die muss man eigentlich zu den dezentralen Formen der Euthanasie rechnen. Und dann kommt man letztlich zu dem Ergebnis, dass durch VernachlĂ€ssigung, schlechte medizinische Versorgung, durch Verhungernlassen, aber auch durch ĂŒberdosierte Medikamente in den Heil- und Pflegeanstalt noch deutlich mehr Patienten gestorben sind und zu Tode gebracht wurden, als der Aktion T4 zum Opfer gefallen waren. Dadurch erklĂ€rt sich auch die hohe Gesamtopferzahl geschĂ€tzt mit den besetzten Gebieten auf 300.000.

ERZÄHLERIN:
In den nationalsozialistischen Mörder-Kreisen diskutierte man immer wieder die Möglichkeit, die Morde durch ein Euthanasie-Gesetz zu legalisieren. Doch Adolf Hitler war dagegen. Noch wollte er kein Euthanasie-Gesetz, weil er sich damit öffentlich zu der Ermordung von Patienten psychiatrischer Anstalten hĂ€tte bekennen mĂŒssen. Er hatte Angst vor Widerstand und Protest in der Bevölkerung.
 
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Er hat gedacht, wir können die Euthanasie, die Vernichtung lebensunwerten Lebens, eigentlich erst dann in unsere Lebensform integrieren, ja, also Euthanasie als normaler Bestandteil der medizinischen Norm psychiatrischen Versorgung, wenn das deutsche Volk reif dafĂŒr ist und wenn der Widerstand der Kirche gebrochen ist. Und das erhoffte man sich eben erst nach dem Endsieg. Da wollte man alles offenlegen. Und da wollte man mit allen Gegnern abrechnen.

ERZÄHLERIN:
Vorerst jedoch begannen die Massenmorde an der jĂŒdischen Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten. Die Zentraldienststelle T4 in Berlin stellte morderprobte Experten zur VerfĂŒgung: Köche, Fahrer, Kuriere, Krankenpfleger, Leichenbrenner, aber auch FĂŒhrungspersonal, das sich mit Gas-Massenmorden auskannte. Sie fanden ein neues Aufgabengebiet in den Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka, in deren Gaskammern 1942/43 innerhalb weniger Monate ein bis zwei Millionen jĂŒdische MĂ€nner, Frauen und Kinder getötet wurden.