Witold Pilecki war wohl der einzige Häftling, der freiwillig im KZ Auschwitz war. Unter falschem Namen berichtete der polnische Untergrundkämpfer von 1940 bis 1943 den Alliierten von den Zuständen im Lager. Von Niklas Nau (BR 2017)
Witold Pilecki war wohl der einzige Häftling, der freiwillig im KZ Auschwitz war. Unter falschem Namen berichtete der polnische Untergrundkämpfer von 1940 bis 1943 den Alliierten von den Zuständen im Lager. Von Niklas Nau (BR 2017)
Credits
Autor: Niklas Nau
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Merki
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Giles Bennett
Linktipps:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & ATMO StraĂźenatmosphäre, Schreie Â
SPRECHERIN
19. September 1940, 6 Uhr morgens. Razzia im besetzten Warschau. Die SS treibt aufgegriffene Männer in FĂĽnfergruppen zusammen. Einer von ihnen trägt einen Pass mit dem Namen Tomasz SerafiĹ„ski bei sich. Doch der Pass ist falsch, und der Mann, der ihn bei sich trägt, hat sich absichtlich festnehmen lassen, um nach Auschwitz verfrachtet zu werden. Tatsächlich heiĂźt er Witold Pilecki und ist ein polnischer Untergrundkämpfer. Er ist wohl der einzige Mensch der Welt, der freiwillig ins Konzentrationslager Auschwitz geht. 945 Tage wird Pilecki dort zubringen und später alles genau niederschreiben. Tag 1: Ankunft im Lager:  Â
ZITATOR
Wir wurden auf eine größere Gruppe Scheinwerfer zugetrieben. Unterwegs wurde einem von uns befohlen, zu einem Posten am Straßenrand zu laufen; ein kurzer Feuerstoß aus einer automatischen Waffe mähte ihn nieder. Zehn Mann wurden willkürlich aus der Gruppe herausgezerrt und als „Kollektivstrafe“ für den von der SS inszenierten „Fluchtversuch“ mit Pistolen erschossen. Die elf Leichen wurden dann mit Stricken an den Beinen hinterhergeschleift, die Hunde auf die blutigen Körper gehetzt. All das unter Gelächter und Scherzen. Wir kamen zu einem Tor in einem Stacheldrahtzaun, über dem „Arbeit macht frei“ zu lesen stand. Erst später verstand ich, was das bedeutete.
MUSIK
SPRECHERIN
Auschwitz. Ein Name, der gleichbedeutend geworden ist mit der Vergasung von Millionen Juden durch die Nazis. Doch bei seiner Errichtung 1940 hat das Lager einen anderen Zweck, erklärt Giles Bennett vom Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München.
GILES BENNETT 1
Das, was wir heute Vernichtungslager nennen, war es nicht, es gab keine industrielle Massenvernichtung, und es gab dort auch noch keine Vergasung. Am Anfang, 1940, ist das Lager Auschwitz ganz klar gegründet, um die polnischen Eliten zu unterdrücken. In den Augen Hitlers, in den Augen des Nationalsozialismus galten die slawischen Völker, darunter die Polen, als – in Anführungszeichen – minderwertig. Und Ziel war es, die Eliten Polens zu zerstören, um aus ihnen ein – in Anführungszeichen – anführerloses Sklavenvolk zu machen.
SPRECHERIN
In dieses Lager kommt Witold Pilecki. Ein Foto zeigt ihn in gestreifter Lageruniform, die Haare kurz rasiert, mit der Häftlingsnummer 4859. Scharf geschnittene Nase, buschige Brauen und tief liegende Augen, in denen man glaubt, Entschlossenheit zu sehen. Ein polnischer Patriot. Später beschreibt er die Erlebnisse in einem Bericht, der unter dem Titel "Freiwillig nach Auschwitz" von Orell Füssli auch auf Deutsch herausgegeben wurde. Darin schildert Pilecki, warum er nach Auschwitz gekommen ist:
ZITATOR
Die Hauptaufgabe war: Die Einrichtung einer militärischen Organisation, um die Moral der Kameraden zu stärken, indem ich Nachrichten aus der Außenwelt beschaffte und weitergab; wann immer möglich, Nahrungsmittel und Kleidung zu organisieren und unter den Mitgliedern zu verteilen; Informationen aus dem Lager an die Außenwelt weiterzuleiten und, als krönenden Abschluss, unsere eigenen Kräfte aufzustellen, um das Lager zu übernehmen, wenn die Zeit reif war, uns durch Fallschirmtruppen oder abgeworfene Waffen zu unterstützen.
SPRECHERIN
Die Ausgangsbedingungen, die Pilecki für diese Aufgabe bei seiner Ankunft im Lager vorfindet, erscheinen ihm auf entsetzliche Weise – günstig.
MUSIK
ZITATOR
Krankenmann war dafür zuständig, die fast täglichen Häftlingszugänge so schnell wie möglich umzubringen. Sein Charakter war für diese Aufgabe besonders gut geeignet. Wenn jemand versehentlich einige Zentimeter zu weit vorne stand, rammte ihm Krankenmann das Messer, das er im rechten Ärmel trug, in den Bauch. Wer davor so viel Angst hatte, dass er zu weit zurückwich, bekam von diesem Mörder einen Messerstich von hinten in die Nieren, während er durch die Reihen lief. Der Anblick des schreiend zusammenbrechenden Häftlings, dessen Beine im Sand scharrten, brachte Krankenmann in Wut. Er sprang dem Mann auf die Brust, trat ihm in die Nieren und in die Genitalien und brachte ihn so schnell wie möglich um, während wir gezwungen waren, schweigend zuzusehen. Der Anblick traf uns wie ein elektrischer Schlag. Dann spürte ich einen einzigen Gedanken, der diese Schulter an Schulter aufgestellten Polen durchlief. Ich spürte, dass wir alle endlich durch dieselbe Wut vereint waren, in einem Durst nach Rache. Ich spürte, dass ich hier die perfekte Umgebung für meine Arbeit finden würde, und empfand tatsächlich so etwas wie Freude…
SPRECHERIN:
Der brutale Krankenmann ist dabei kein Angehöriger der SS, sondern Teil eines perfiden Systems, das die SS schon im „Modell-Lager“ Dachau entwickelt hat:
Aus den Reihen der Gefangenen werden Vorarbeiter – sogenannte Kapos – sowie Blockälteste und Lagerälteste ausgewählt. Funktionshäftlinge:
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Diese Funktionshäftlinge, die hatten durch ihre Position gewisse Privilegien, also ein eigenes getrenntes Bett, mehr zu essen, ein bisschen andere Kleidung. Gleichzeitig mussten sie dann auch die Befehle der SS tatsächlich umsetzen – und hatten dabei aber manchmal auch kleine Spielräume, also wenn es hieß, du musst fünf Leute von deinem Block in das schlechte Arbeitskommando schicken, dann konnte der Funktionshäftling oft entscheiden, welche fünf das waren.
SPRECHERIN
Doch viele der – anfangs meist deutschen - Funktionshäftlinge gehen mit besonderer Brutalität gegen ihre Mitgefangenen vor, wie etwa Krankenmann.
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Solche Dinge passieren auch, wenn man Menschen die Möglichkeit dazu einfach gibt, ihren niedersten Instinkten nachzugehen. Und man darf auch nicht vergessen, auch jeder Funktionshäftling befindet sich in einem Kampf ums nackte Überleben. Es ist also eine künstlich durch die SS hergestellte Situation, in der es einen Kampf aller gegen alle grundsätzlich ums Überleben gibt. Und das ist denke ich auch ein Grund, warum dann diese Positionen von „ein kleines bisschen Macht“ – nicht von allen aber von vielen Funktionshäftlingen – so missbraucht wurden.
SPRECHERIN
In den Auschwitzprozessen nach Kriegsende werden mehrere Funktionshäftlinge wegen mehrfachen Mordes oder Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Krankenmann ist nicht darunter. Er war schon 1941 bei der SS in Ungnade gefallen und auf dem Weg in ein anderes Lager entweder von seinen Mithäftlingen erhängt, oder später mit ihnen vergast worden.
MUSIK
SPRECHERIN
Pilecki beginnt mit dem Aufbau seiner Organisation. Er organisiert Mithäftlinge, von denen er viele noch aus dem polnischen Untergrund kennt, in Fünfergruppen.
MUSIK
Einzelne Zellen, die vorerst nichts voneinander wissen sollen, damit bei der Enttarnung einer Zelle nicht die gesamte Organisation gefährdet wird. Doch mit steigender Anzahl der Zellen gibt es zufällige Aufeinandertreffen:
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Mehr als einmal kam ein Angehöriger dann zu mir und berichtete: „Übrigens, da ist noch irgendeine andere Organisation als unsere im Lager tätig.“ Ich sagte dann immer, er solle sich keine Gedanken machen.
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Auch andere Häftlinge gründen in Auschwitz Widerstandsgruppen, mit denen Pileckis Organisation teilweise zusammenarbeitet. Schon relativ bald nach seiner Ankunft, im November 1940, gelingt es Pilecki außerdem, mittels eines freigekauften Häftlings, der zu seiner Organisation gehört, einen ersten Bericht an seine Vorgesetzten in Warschau zu schicken. Ab jetzt werden weitere Berichte über verschiedene Kanäle folgen, die der Welt Informationen über die Zustände im Lager liefern.
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'41 kommt der erste längere Bericht, wo auf Grundlage seiner Informationen im polnischen Untergrund ein Bericht über Auschwitz verfasst wird, nach London übermittelt wird, über Kuriere meistens, über Funksprüche, wo sehr viele Leute also ihr Leben riskiert haben, um diese Informationen nach draußen zu bringen. Und diese Informationen hat die polnische Exilregierung dann auch an die anderen Alliierten weitergegeben.
SPRECHERIN
Pilecki hofft, dass die Alliierten durch seine Informationen überzeugt werden, das Lager zu bombardieren oder zumindest Waffen für einen Aufstand abzuwerfen. Dann will er das Lager mit seiner Organisation übernehmen. Doch Generalleutnant Peirse, Oberbefehlshaber des britischen Bomberkommandos, erklärt 1941, dies sei momentan unmöglich. Die britischen Bomber würden für Einsätze gegen die deutsche Industrie gebraucht, und bei Angriffen auf Auschwitz würde man wahrscheinlich lediglich selbst Häftlinge töten. Pilecki plant langfristig – und weiß selbst doch nie, ob er den nächsten Tag noch erleben wird. In Auschwitz gibt es viele Möglichkeiten, zu sterben. Anfang 1941 kämpft Pilecki im läuseverseuchten Lazarett, das viele Häftlinge nicht mehr lebend verlassen, mit einem schweren Fieber; wahrscheinlich aufgrund einer Lungenentzündung.
ZITATOR
Im Sommer war es eine Zeit lang verboten gewesen, die Fenster zu öffnen – die Kranken hätten sich ja erkälten können. Alle litten unter der Hitze und dem Gestank. Jetzt, bei scharfem Frost, wurden zweimal täglich alle Fenster aufgerissen und der Krankenbau ausführlich gelüftet.
SPRECHERIN
Am dritten Tag kann Pilecki Kontakt zu einem polnischen Arzt aufnehmen, der Pfleger im Lazarett ist – und eines der ersten Organisationsmitglieder.
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Wenn du mich nicht sofort rausholst, verbrauche ich meine letzten Kräfte im Kampf gegen die Läuse. In meinem jetzigen Zustand habe ich es nicht mehr weit bis zum Schornstein des Krematoriums.Â
SPRECHERIN
Der Arzt schafft es, ihn auf eine andere Station zu verlegen, ihm Decken und Medizin zu verschaffen. Pilecki entkommt dem Krematorium – dank seines langsam wachsenden Netzwerkes.
MUSIK
SPRECHERIN
Im Jahr 1941 werden einige der Häftlinge, die bei Straßenrazzien aufgegriffen wurden, von ihren Familien aus Auschwitz freigekauft. Eine Chance für Pilecki, das Lager zu verlassen. Er hat bereits reichlich Informationen gesammelt und mit dem Aufbau des Widerstandes begonnen. Außerhalb des Lagers warten seine Frau und seine zwei Kinder. Doch in seinen Bericht schreibt er später:
ZITATOR (S. 114)
Die Aufgabe, die ich auszuführen begonnen hatte, nahm mich inzwischen aber so völlig in Anspruch, dass ich mir, seit mein Plan in Gang gekommen war, wirklich Sorgen machte, dass meine Familie mich womöglich freikaufen und so mein Spiel durchkreuzen würde, denn auch ich saß ja ohne Anklage hier und war bloß bei einer Razzia aufgegriffen worden. Ich durfte meine Aufgabe hier natürlich nicht erwähnen und schrieb deshalb an meine Familie, es gehe mir gut, sie sollten meinen Fall nicht wieder aufbringen, und ich wolle bleiben und abwarten, was das Schicksal für mich bereit halte.
MUSIK
SPRECHERIN
Als Hitler im Sommer 1941 die Sowjetunion überfällt, wird in Auschwitz zum ersten Mal das Giftgas Zyklon B gegen sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt. Pilecki berichtet von einer dieser Vergasungen, bei der mehrere hundert sowjetische Offiziere in einen Raum gesperrt werden.
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Am Abend traf eine Gruppe deutscher Soldaten unter Führung eines Offiziers ein. Die Gruppe betrat den Raum, legte Gasmasken an, warf einige Behälter mit Gas hinein und beobachtete die Auswirkungen. Kameraden von uns, die als Pfleger arbeiteten und am folgenden Tag die Leichen bergen mussten, erzählten, wie schrecklich es war. Die Männer waren so dicht zusammengequetscht, dass sie sogar als Tote nicht umfallen konnten.
SPRECHERIN
Rudolf Höß, der Lagerkommandant von Auschwitz, schreibt in seinen Aufzeichnungen, der Anblick der vergasten Menschen habe ihn damals beruhigt. Denn es müsse ja „in absehbarer Zeit mit der Massen-Vernichtung der Juden begonnen werden“, und nun habe man endlich die richtige Methode dafür entdeckt. Pilecki selbst reagierte damals noch naiv, als ihm ein Mitglied seiner Organisation von der Vergasung berichtet:
ZITATOR
Er war sehr verstört und kam schnell zu der Vermutung, dass diesem Versuch weitere folgen würden, womöglich mit Häftlingen. Das erschien damals noch unwahrscheinlich.
MUSIK
SPRECHERIN
Der polnische Untergrund im Lager Auschwitz ist langsam stark genug, um mehr zu tun, als seine Leute in guten Arbeitskommandos zu platzieren und einige der Kapos auf seine Seite zu ziehen. Er schafft regelmäßig Informationen nach draußen und erhält Medizin und andere Hilfsgüter, etwa über zivile Arbeiter, die im Lager ein und aus gehen können. 1942 bauen die Widerständler aus Einzelteilen einen funktionierenden Radiosender zusammen und berichten der Außenwelt über das Lager. Die Lagerleitung tobt, und bald müssen sie den Sender wieder abbauen, um nicht aufzufliegen. Als Fleckfieber, von Pilecki als Typhus bezeichnet, unter den Häftlingen ausbricht, versucht sich der Untergrund sogar in biologischer Kriegsführung.
ZITATOR
Im Labor des Krankenbaus züchteten wir typhusinfizierte Läuse und setzten sie bei jedem Apell und bei Blockinspektionen den SS-Männern auf die Mäntel.
SPRECHERIN
Welchen Anteil die Aktion daran hat, lässt sich nicht genau sagen, doch in den folgenden Monaten sterben mehrere Mitglieder der SS an Fleckfieber. Einer der größten mutmaßlichen Erfolge des Untergrunds ist, dass Lagerkommandant Höß seinen Posten vorübergehend räumen muss. Wohl deshalb, weil zu viele grausame Vorgänge aus dem Lager durch den Widerstand an die Weltöffentlichkeit gelangt waren. Doch die Vorgänge selbst kann der Widerstand nicht aufhalten. Neben dem bestehenden KZ Auschwitz wird ein neues Lager errichtet - das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
GILES BENNETT 5
Man beginnt dann ab der ersten Jahreshälfte 1942 im Stammlager Ausschwitz vor allen Dingen aber im neu damals zur errichtenden Lager Auschwitz 2, Auschwitz-Birkenau, in zwei umgebauten Bauernhäusern damit, Vergasungen durchzuführen mit Zyklon B, also mit Zyankali. Und da beginnt der Charakter von Auschwitz eine zusätzliche Dimension zu bekommen. Es bleibt die ganze Zeit auch ein Konzentrationslager, und ab dieser Zeit bekommt es zusätzlich den Charakter eines Vernichtungslagers, das heißt die Funktion dieses Lagers wird erweitert.
MUSIK
SPRECHERIN
Ab Sommer 1942 werden fast jeden Tag mehrere hundert, manchmal auch mehrere tausend Juden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau getötet, die anderen zu Arbeit für die deutsche Rüstungsindustrie gezwungen.
ZITATOR (S.157)
Man teilte sie in zwei Gruppen. Männer und Jugendliche über dreizehn bildeten die eine, Frauen und alle Kinder unter dreizehn die andere. Das geschah unter dem Vorwand, dass sie jetzt duschen würden und man sie, weil sie sich dazu ausziehen mussten, des Schamgefühls wegen trennte. Auch die Kleidung mussten die Angehörigen beider Gruppen auf großen Haufen deponieren, die angeblich zur Desinfektion gingen. Jetzt bekamen die Menschen wirklich Angst, dass ihre Kleidung und Unterwäsche durcheinandergeraten würden. Dann gingen sie zu Hunderten, Frauen und Kinder von den Männern getrennt, in die Gebäude, wo sich angeblich die Duschen befanden. In Wirklichkeit waren es die Gaskammern.
SPRECHERIN
Es wird noch bis Ende 1943 dauern, bis Auschwitz zum Zentrum der Judenvernichtung wird – dies sind im Moment noch die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Doch auch jetzt schon ist Auschwitz ein großindustrieller Schlachthof für Menschen.
MUSIK
SPRECHERIN
Auch im Stammlager werden die Häftlinge nun nicht mehr wahllos totgeprügelt. Der Tod kommt nun auch hier mit kalter Präzision. Erschießungen, Gas, Phenolspritzen. Doch groteskerweise sind die Bedingungen für die polnischen Häftlinge im Lager, die nicht durch Todesspritzen oder an der Erschießungswand sterben, besser als vielleicht jemals zuvor. Ihre Arbeitskraft wird gebraucht, Misshandlungen sind seltener geworden, sie dürfen sogar Lebensmittelpakete empfangen. Der Widerstand ist inzwischen gut organisiert und vernetzt, besitzt laut Pilecki sogar Nachschlüssel für die Waffenlager
MUSIK
Kommt es jetzt bald zum Aufstand, den Pilecki sich erträumt hat?
Im Frühjahr 1943 verlegt die Lagerleitung tausende von polnischen Häftlinge in andere Lager. Pileckis Organisation wird auseinandergerissen.
ZITATOR (S.212)
Da entschied ich, dass es jetzt zu schwierig sei, hier noch weiterzumachen. Nach zweieinhalb Jahren hätte ich mit „neuen Jungs“ völlig von vorne beginnen müssen.
SPRECHERIN
Pilecki beschlieĂźt, das Lager zu verlassen.
GILES BENNETT 6
Ich kann nicht in seinen Kopf blicken, und wir haben im Wesentlichen zu dieser Frage Aufzeichnungen, die ein, zwei Jahre später unter anderen Voraussetzungen aufgeschrieben wurden. Ich denke, dass es sicher ein Ursachenbündel ist. Es ist wahrscheinlich die sich verändernde Situation im Lager, der zunehmende Druck auf die Widerstandsorganisation im Lager, das Scheitern eines großen Aufstandsversuchs, aber es geht auch darum, dass er ausführliche Informationen über das Lager nach außen bringen möchte. Und so einen langen Bericht wie er ihn da geschrieben hat, den kann er eigentlich nur nach einer Flucht schreiben.
MUSIK
SPRECHERIN
Pilecki legt die Zukunft der Organisation in die Hände seiner Vertrauten im Lager und plant seine Flucht. Er schleust sich und zwei Mithäftlinge mit Unterstützung seines Netzwerkes in die Nachtschicht der Bäckerei ein, die außerhalb des Lagers liegt. Mithilfe eines vorher nachgemachten Schraubenschlüssels öffnen sie heimlich die schwere Stahltür nach draußen.
MUSIKÂ Â Â Â Â
ZITATOR
Dann geschah das Unerwartete. Von einem sechsten Sinn oder einfach einem momentanen Einfall getrieben, ging der SS-Mann zur Tür hinüber, stellte sich dicht davor und inspizierte sie. (…) Wenn der SS-Mann plötzlich Alarm gab, würden wir uns auf ihn stürzen, ihn bewusstlos schlagen und fesseln müssen, ohne uns erst absprechen zu müssen. Fiel ihm denn nichts auf? Schlief er mit offenen Augen, dachte er an etwas anderes? Ich weiß bis heute nicht, warum er nichts bemerkte.
SPRECHERIN
Pilecki und seinen Begleitern gelingt die Flucht. Nach 945 Tagen in Auschwitz ist Pilecki wieder frei. Er hat ĂĽberlebt.
MUSIK
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SPRECHERIN
Nach seiner Flucht schreibt Pilecki mehrere Fassungen seines Berichts. Zusammen mit anderen Berichten werden seine Schilderungen Teil der Auschwitz-Protokolle, die 1944 die Alliierten detailliert über die Vernichtung in Auschwitz aufklären und vor dem bevorstehenden Mord an den ungarischen Juden warnen. Doch die Alliierten konzentrieren ihre Bombenangriffe weiter auf militärische Ziele.
GILES BENNET 7
Die Überlegungen resultierten in einer Entscheidung, je schneller wir diesen Krieg gewinnen, desto schneller hört die Verfolgung auf. Und man darf nicht vergessen, damals für Präzisionsbombardierung, nach den damaligen technischen Gegebenheiten und geographischen Gegebenheiten, die lange lange Flugstrecke, das war eine hoch-schwierige, wahrscheinlich nicht wirklich mögliche Operation. Ein Flächenbombardement hätte immer auch bedeutet, die Häftlinge zu gefährden. Wir reden hier von einem Ziel am absoluten Limit der Bomberreichweiten.
MUSIK
SPRECHERIN
1944: Innerhalb weniger Wochen werden 450.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert und größtenteils sofort ermordet. Auschwitz ist zum Zentrum der Judenvernichtung geworden, als das wir es heute in Erinnerung haben.
SPRECHERIN
Neueste Forschung stellt in Frage, ob die Idee, sich nach Auschwitz bringen zu lassen, wirklich Pileckis eigene war oder die einer seiner Vorgesetzten.
GILES BENNETT 8Â
Es kann sein, dass ihm jemand da den Befehl gegeben hat, den er dann auch angenommen hat. Ich persönlich finde die Frage nicht so wichtig. „Freiwillig nach Auschwitz“ – das ist natürlich ein sehr plakativer Titel. Aber seine Leistung, seine Taten beschränken sich nicht in dieser einen Entscheidung. Sondern wir sehen hier jemanden, der bewusst, von der Freiheit seines Volkes überzeugt, sich in sehr gefährliche Situationen begibt.
MUSIK
Auch nach Auschwitz riskiert Witold Pilecki weiter alles. Er kämpft beim Warschauer Aufstand gegen die Deutschen. Er überlebt den Krieg und schließt sich im Nachkriegspolen dem antikommunistischen Untergrund an. Dann wird er von der kommunistischen polnischen Geheimpolizei festgenommen, gefoltert und 1948 nach einem Schauprozess hingerichtet. Ein imperialistischer Spion soll er sein, ein Vaterlandsverräter. Er, der ohne zu zögern für die Freiheit Polens nach Auschwitz ging.