Alles Geschichte - History von radioWissen   /     STADTGESCHICHTEN - Venedigs Gründung in der Laguna

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Die ersten Holzhütten in den Sümpfen der Lagune¬ - wann sind sie entstanden und vor allem: warum? Schließlich war nicht einmal Venedigs Boden unter den Füßen sicher. Wie konnte diese ärmliche Siedlung zu einer europäischen Großmacht aufsteigen? Von Thomas Morawetz (BR 2021)

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Duration
00:23:38
Publishing date
2025-02-21 13:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/stadtgeschichten-venedigs-gruendung-in-der-laguna/2103568
Contributors
  Thomas Morawetz
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Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2103568/c/feed/stadtgeschichten-venedigs-gruendung-in-der-laguna.mp3
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Shownotes

Die ersten Holzhütten in den Sümpfen der Lagune¬ - wann sind sie entstanden und vor allem: warum? Schließlich war nicht einmal Venedigs Boden unter den Füßen sicher. Wie konnte diese ärmliche Siedlung zu einer europäischen Großmacht aufsteigen? Von Thomas Morawetz (BR 2021)

Credits
Autor: Thomas Morawetz
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Irina Wanka
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Arne Karsten, Dr. Francesco Borri

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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK & ATMO Wasserwellen, Frösche

SPRECHERIN
Kann man es sich so vorstellen? Beginnt so der einzigartige Zauber, der Venedig weltberühmt machen wird? Haben die ersten Besiedler dieses Ortes mit ihren Kähnen einfach angehalten? An ein paar beieinanderliegenden Inseln im brackigen Sumpf… So muss es damals auf jeden Fall in der Lagune ausgesehen haben. Dr. Arne Karsten ist Historiker an der Bergischen Universität Wuppertal und der Autor mehrerer Bücher über die Geschichte Venedigs:

1 Zusp. Karsten
In der Spätantike, da gab es eine ganze Serie von Lagunen im Bereich der nördlichen Adria. Ein ganz eigenartig amphibischer, könnte man sagen, Lebensraum, zum Meer getrennt durch schmale Sandbänke, die sogenannten Lidi. Vom Land kommt Wasser nach durch Flussmündungen, und so haben wir einen Lebensraum der höchstgradig labil ist, bedroht einerseits durch Sedimentierung aus den Flüssen oder Erosion vom Meerwasser, was zufolge hatte, dass tatsächlich auch die meisten dieser Lagunen heute verschwunden, sind, entweder vom Meer gefressen oder vom Lande zugespült.

MUSIK & ATMO Wasserwellen

SPRECHER
Ein Wunder, dass man in einer solchen Landschaft überhaupt eine dauerhafte Siedlung anlegen konnte. Zunächst musste der sandig-sumpfige Untergrund für Hütten und Holzhäuser stabil befestigt werden. Wie genau die ersten Hüttenbauer dabei vorgegangen sind, weiß man heute nicht mehr. Aber das Prinzip, wie man unter diesen Bedingungen sicheren Grund zum Bauen gewann, ist für spätere Jahrhunderte belegt – und auf diesem Prinzip steht Venedig bis heute.

2 Zusp Karsten
Die entscheidende Rolle spielt dabei, das Einrammen von idealerweise in Teer getränkten Baumstämmen in den sandigen, morastigen Untergrund. Wenn diese Baumstämme dann tatsächlich unter Wasser sind, halten die ewig. Das Problem ist immer, Oxidation und Zerstörungsprozesse setzen ein, wenn durch Tidenhub, durch unterschiedliche Wasserhöhen, Luft an diese Stämme kommt.

MUSIK

SPRECHERIN
Auf diese eingerammten Pfähle nagelte man Bretter. Sie gaben das Fundament, auf das gebaut wurde. Viel später trugen solche Holzgerüste auch riesige Steinlasten. Die prächtige Kirche Santa Maria della Salute am Ausgang des Canal Grande wurde im 17. Jahrhundert erbaut. Sie steht auf über einer Million solcher Pfähle.

SPRECHER
Doch soweit ist es noch lange nicht, als die ersten Hütten am heutigen Canal Grande entstehen. Die Hauptwasserader Venedigs mündet im Süden der Stadt in die Lagune. In der Spätantike konnte man es vielleicht noch deutlicher sehen: Der Verlauf des Canal war ursprünglich Teil einer Fluss-Mündung. Der Fluss Brenta aus den Alpen suchte sich hier einen Weg zum Meer. Erst über 1000 Jahre nach der ersten Besiedlung des Orts gräbt Venedig diesem Flussarm ein neues Bett, das ihn heute südlich von Chioggia in die Adria leitet. Der Canal Grande: Vielleicht wurde also diese Stelle in der Lagune für eine Siedlung gewählt, weil sie über eine Flussströmung gut vom Festland aus zu erreichen war – und gut zum Meer hin lag.

SPRECHERIN
Aber warum sollten Menschen einen solchen völlig unwirtlichen Ort besiedeln? Sicheres weiß man über diese ersten Anfänge Venedigs nicht, aber der Hintergrund lässt sich ermitteln. Er ist eng verbunden mit der politischen Großwetterlage der Spätantike. Ein Rückblick: Schon länger war das Römische Kaiserreich in eine West- und eine Osthälfte geteilt. Der Westen hatte ebenfalls noch einige Zeit einen Kaiser, allerdings wurde dieser letzte Herrscher Westroms im Jahr 476 abgesetzt. Danach herrschten die Ostgoten in Italien. Ein kurzes Gastspiel. Schon bald eroberte der byzantinische Kaiser Justinian große Teile Italiens für sein Römisches Reich zurück. Viel von der byzantinischen Bau- und Kirchenkunst, die sich bis heute in Italien erhalten hat, ist eine Folge dieser römischen Rückeroberung. – Auch im späteren Venedig. Denn die nördliche Adria samt dem dahinterliegenden Festland bis zu den Alpen war nun der äußerste westlichste Rand des byzantinischen Reichs.

SPRECHER
Lange hielt die Ruhe nicht. Schon wenige Jahrzehnte später brachen die Langobarden in den Raum südlich der Alpen ein. Und sie blieben. Bis heute heißt das Gebiet um Mailand „Langobardenland“ – Lombardei.

SPRECHERIN
Nach und nach festigten die Langobarden ihre Herrschaft. Dabei nahmen sie auf dem Festland, das heute Venedig gegenüberliegt, Städte ein, die für die byzantinische Verwaltung unverzichtbar waren. Die Bevölkerung brauchte einen neuen Plan: Wohin sollte sie ausweichen?

SPRECHER
Direkt vor ihnen, in Sichtweite, lag das weite Terrain der Lagune. Spätestens jetzt werden wohl die ersten Hütten Venedigs gebaut.

SPRECHERIN
Doch waren die künftigen Venezianer überhaupt die ersten Siedler in der Lagune? Der Historiker Dr. Francesco Borri  von der Universität Ca‘ Foscari in Venedig:

3 Zusp Borri
La laguna ha una storia di abitazione molto antica. Si è pensato che fosse frequentata dai tempi dei greci e dei romani. La questione spesso per gli storici: da quando esiste un insediamento permanente nella laguna, ossia da quando le persone si sono trasferite permanentemente a vivere nella laguna?

ZITATOR OV
Die Besiedlung der Lagune reicht weit zurück, schon Griechen und Römer sind hier zu belegen. Entscheidend ist aber: Seit wann gibt es eine dauerhafte Besiedlung der Lagune? Wann sind die Leute dort rausgezogen, wollten dort wirklich leben?

MUSIK

SPRECHER
Francesco Borri glaubt, dass es zur Zeit der Langobarden-Invasion in Norditalien durchaus sogar schon dauerhaftes Leben in der Lagune gegeben haben kann. Vielleicht hat schon die Invasion der Ostgoten hundert Jahre zuvor dort vereinzelt Siedlungen entstehen lassen. Doch jetzt war der Druck noch einmal erheblich gewachsen: Die byzantinische Verwaltung musste das Festland vor der Lagune räumen. Die sumpfige Lagune war nun direkt der Rand des Oströmischen Reichs.

SPRECHERIN
Die ersten Holzhütten Venedigs scheinen in diesem Zusammenhang entstanden zu sein: zwischen etwa 500 und 650, zwischen dem Ende des weströmischen Reichs und der Etablierung der Langobarden auf dem Festland. Aber selbst wenn nun erste Hütten am Canal Grande stehen - einen einzelnen Ort, der Venedig hieß, gibt es noch nicht. Denn „Venezia“ ist der Name einer ganzen Region – und das schon seit langem. Francesco Borri:

4 Zusp. Borr:
Venezia non fu una città all'origine. Venezia è il nome di una regione dell'Italia romana. L'Italia romana dei tempi di Augusto era divisa in 10 regioni. La regione di Nord-Est, la regione che comprende anche i territori dell'attuale Croazia e Slovenia, si chiamava Venezia ed Istria. Quindi il nome Venezia è il nome di una provincia che gradualmente si è spostata verso il mare. Quindi Venezia originalmente era un gruppo di più insediamenti.

ZITATOR OV:
Venezia war zunächst keine Stadt, sondern der Name einer Region im römischen Italien. Zu Augustus‘ Zeit hieß die nordöstliche Region Italiens „Venezien und Istrien“. Und nun ist der Name Venezien immer weiter Richtung Meer gewandert, wo er aber ursprünglich eine ganze Gruppe von Siedlungen bezeichnet hat.

SPRECHER
Und tatsächlich hatten andere Orte beim byzantinischen Umzug Richtung Lagune und Küste zunächst die Nase vorn. Der nächste zentrale Ort der byzantinischen Verwaltung wurde Eraclea, am Nordende der Lagune. Die Stadt soll mehrere zehntausend Einwohner gehabt haben, ein echtes Schwergewicht, und ein Hinweis darauf, wie viele Menschen zu dieser Zeit auf Schutzsuche vor den Langobarden in Bewegung geraten waren. Bald wird die Verwaltung von diesem Ort aber schon wieder verlegt – nach Malamocco – direkt auf die Sandbank, die die Lagune von der offenen Adria trennt – und nur noch gut fünf Kilometer Luftlinie vom heutigen Venedig entfernt.

SPRECHERIN
Dass man das heute überhaupt weiß, liegt vor allem daran, dass die Quellen hier schon von einem Funktionsträger berichten, der in späteren Zeiten untrennbar mit Venedig verbunden sein wird: dem Dogen.

5 Zusp. Karsten
Ein vom oströmischen Kaiser bestimmter Vorsteher der Gemeinde… Im Lauf der Zeit entwinden dann die Venezianer der Oströmischen Zentrale in Konstantinopel die Bestallung dieses Dogen, wählen ihn. Die einflussreichen Familien wählen aus ihrem Kreise selber einen Dogen, einen Wahlmonarchen auf Lebenszeit.

MUSIK

SPRECHER
Doch wie kommt der Doge endlich an den Canal Grande? – Gleich ist es soweit: Die nächste große Auseinandersetzung in Norditalien trifft zunächst die Langobarden: Im Jahr 774 ist ihr Reich Geschichte. Der Franke Karl, später Kaiser und „der Große“, erobert Norditalien, und die Langobarden werden ein Teil des Frankenreichs. Als Karls Sohn Pippin versucht, die Lagune gleich noch mitzuerobern, wird er jedoch zurückgeschlagen.

SPRECHERIN
So viel wird den Lagunenbewohnern bei diesen Auseinandersetzungen klar: Die neue Landmacht im Norden ist schlecht auf dem Wasser. Auf See ist man einigermaßen in Sicherheit. Und Konstantinopel im Osten ist zwar eine starke Seemacht – aber eben doch sehr weit weg. Man ist also Teil einer Großmacht, und trotzdem schwer kontrollierbar. Das gibt Freiräume.

SPRECHER
Zur Sicherheit wird der Verwaltungssitz der Region samt Dogen ins besser zu schützende Innere der Lagune verlegt. Der Ort wird schlicht „Hochufer“ genannt, riva alta. Daraus wird im Lauf der Zeit: Rialto.

SPRECHERIN
Aus venezianischer Sicht könnte man spätestens jetzt also sagen: Geschafft! Jetzt sitzt der Doge endlich am Rialto, am Canal Grande. Das muss Anfang des 9. Jahrhunderts gewesen sein, aus der Spätantike war das frühe Mittelalter geworden. Wie die Siedlung damals ausgesehen hat, weiß man nicht. Vermutlich gab es noch nicht einmal eine feste Brücke über den Canal Grande. Ein letzter Blick zurück: Denn Venedig wird später behaupten, ein genaues Gründungsdatum seiner Stadt zu kennen: Exakt am 25. März 421 sei die Stadt gegründet worden. Das wäre früher als alles, was man nach heutiger Forschungslage plausibel machen könnte. Dazu der Venedig-Experte Arne Karsten:

6 Zusp. Karsten
Das ist, wie so viele Gründungsdaten, eine Projektion aus späteren Zeiten. Sie passte zum venezianischen Selbstverständnis, Selbstbild, insofern, als es eine Zeit ist, in der es das Imperium Romanum noch gab. Man stellte sich damit in die Tradition des großen antiken römischen Kaiserreiches. Andererseits ist im Jahre 421 schon das Christentum siegreich gewesen. Auch die christliche Tradition kann man also einbeziehen. Tatsächlich wissen wir nichts über ein Gründungsdatum. Die Vorstellung überhaupt, dass eine Stadt in einer einem so lebensfeindlichen Umfeld wie der Lagune gegründet wurde, dass Grundsteine gelegt wurden, ist auch eine ganz anachronistische und mit der historischen Realität sicherlich nicht übereinstimmende Vorstellung.

SPRECHER
Wie einzigartig war damals schon die Siedlung am Rialto? Auf jeden Fall ist sie auch jetzt nicht der einzige wichtige Ort in der Lagune. Da wäre etwa noch die Insel Torcello. Sie liegt rund eine Stunde mit dem Wasserbus von Venedig entfernt im Brackwasser der „laguna morta“, wo Ebbe und Flut nicht mehr zu bemerken sind. Unübersehbar dagegen ragt die Basilika Santa Maria Assunta mit ihrem 50 Meter hohen Campanile auf der fast unbewohnten Insel empor. Heute ein surrealer Anblick, doch im frühen Mittelalter war die Insel ein Zentrum der Lagune mit geschätzten 10-20.000 Einwohnern zu der Zeit, als der Doge an den Canal Grande zog.

SPRECHERIN
Eigentlich hätte also auch Torcello beste Karten gehabt, zum Hauptort der Lagune aufzusteigen – und wer weiß – eines Tages zur Weltmacht? Doch spätestens im 12. Jahrhundert wurde die Insel aufgegeben und die Einwohner zogen einfach um, nach Venedig und Murano. Dabei nahmen sie alles wertvolle Baumaterial mit, vor allem Stein, so dass es auf der Insel heute keine weiten Ruinenlandschaften zu besichtigen gibt. Nur die alte Kathedrale mit ihren prächtigen byzantinisch beeinflussten Mosaiken und ein Baptisterium sind übriggeblieben.

SPRECHER
Was ist passiert? – Möglicherweise ist Torcello einer Umweltkatastrophe zum Opfer gefallen. Eine These geht davon aus, dass im Mittelalter in diesem seichten Teil der Lagune der Süßwassereintrag gestiegen sei. Dadurch soll mehr Schilf gewachsen sein – der ideale Brutort für Moskitos. Das Leben wurde unerträglich, die Bewohner gaben auf.

SPRECHERIN
Nach einer anderen Überlegung lag Torcello strategisch einfach um einen Tick schlechter als der Rivale weiter im Westen der Lagune. Der Historiker Francesco Borri:

7 Zusp. Borri
Torcello era un insediamento vicino alla terraferma molto vicino da Altino. Da Torcello è possibile vedere l'antica città romana. E credo che la Venezia assumesse un carattere più marittimo, si cercava un insediamento al centro della laguna, più distante dalla terraferma.

ZITATOR OV
Torcello liegt sehr nahe bei Altinum auf dem Festland. Die Stadt konnte man von der Insel aus sehen. Ich glaube, dass Venedig einfach den besseren Meerzugang hatte und weiter vom Festland entfernt lag.

SPRECHER
Die alte Römer-Stadt Altinum war inzwischen längst von Langobarden und Franken übernommen worden. In Sichtweite von Torcello hatte also die nächste Großstadt des Nachbarreichs gelegen, mit dem man in ständigen Auseinandersetzungen lag.

SPRECHERIN
Der politische Schwerpunkt der Provinz Venezien zieht sich also immer mehr zusammen in der Siedlung am Canal Grande, sie wird mehr und mehr - Venedig. Und dieser Siedlung war vor kurzem ein Coup gelungen, der sie in der ganzen Christenheit bekannt machen sollte. Die Stadtlegende erzählt die Ereignisse so:

MUSIK

SPRECHER
Zur Zeit des Dogen Giustiniano Partecipazio, in den 820er-Jahren, reisen zwei venezianische Kaufleute nach Alexandria. Dort hören sie, dass der muslimische Herrscher der Stadt christliche Kirchen abreißen lassen will. Doch in einer von ihnen liegt ein unermesslicher Schatz: die Gebeine des Evangelisten Markus. Es gelingt den Kaufleuten, die Reliquien aus der Kirche zu schmuggeln.
Um sie am neugierigen Zoll vorbeizubekommen, bedecken sie den Heiligen mit Schweinefleisch. Tatsächlich winken die Zöllner die für sie anrüchige Fracht schnell durch – und San Marco ist auf dem Weg nach Venedig!

SPRECHERIN
Was stimmt an dieser Geschichte? Das ist bis heute völlig unklar. Tatsache ist, dass die Venezianer im 9.Jahrhundert in den Besitz von Knochen kommen, für die sie eine eigene Kirche bauen: die spätere Basilica di San Marco.

SPRECHER
Noch ist es der Vorgängerbau, kleiner und sicher weniger prächtig, als die heute weltberühmte Kathedrale auf dem Markusplatz. Aber die Art, wie die Venezianer im 9. Jahrhundert mit diesen Reliquien umgehen, sagt schon viel über das Selbstvertrauen des jungen Aufsteigers in der Lagune aus: Der Heilige wird nicht dem Patriarchen in Grado übergeben, der auch das Oberhaupt über den Bischof in Venedig mit seinen vielen kleinen Pfarreien ist. Der Evangelist soll nämlich nicht den Ruhm der Kirche erhöhen, sondern den der Gemeinde. Die neue Markus-Kirche, die nun entsteht, wird auch nicht der Sitz des Bischofs. Dessen Kirche steht abgelegen auf San Pietro in Castello, einer Insel im äußersten Südosten der Stadt. San Marco dagegen steht zentral und ist eigentlich die Hauskapelle des Dogen. Arne Karsten:

8 Zusp. Karsten
Die Möglichkeit, auf einen herausragenden Heiligen wie den Evangelisten Markus sich berufen zu können als Schutzpatron der Stadt ist in einer Zeit in der Vormoderne, in der religiöse und politische Realität schwer auflösbar ineinander aufgehen, miteinander zusammenspielen, ein ganz wesentlicher Trumpf. (…) In ganz Europa spricht man im Mittelalter - was sagt San Marco dazu? Welche Politik macht San Marco? Das ist gleichbedeutend mit welche Politik macht Venedig.

SPRECHERIN
Und die Geschichte von der Entführung des Heiligen aus Alexandria gibt noch eine weitere wichtige Information: Venedigs Kaufleute waren schon im 9. Jahrhundert bis nach Ägypten unterwegs.

MUSIK

SPRECHER
Von was lebt diese Lagunenstadt überhaupt in ihren ersten Jahrhunderten? Auf jeden Fall brauchte ein wachsendes Venedig viel Geld, allein schon, um die Unmengen an Bauholz für die Unterbauten im Sumpf zu beschaffen. Anfangs lebt der Ort viel vom Handel mit Fischen und von Salinen. Salz ist damals unentbehrlich, um Nahrungsmittel haltbar zu machen. Aber bald mischt Venedig sogar im Fernhandel mit. Dabei geht es vor allem um Luxusgüter, die venezianische Kaufleute aus dem Orient für die Herrscher des Festlands im Norden beschaffen, etwa kostbare Stoffe und Gewürze.

SPRECHERIN
Und noch eine weitere „Ware“ wird zu einer Haupteinnahmequelle der Kaufleute am Rialto: Sklaven! Ob Christen oder Muslime, kümmert die Kaufleute wenig. Schon im Mittelalter werden sie deswegen durchaus auch scheel angesehen. Über die Jahrhunderte sollen es Millionen Menschen gewesen sein, die in Venedig verkauft wurden.

SPRECHER
Doch wie ist das zu erklären, dass eine kleine Kommune, die eben noch im Sumpf um die Existenz kämpfte, sich in nur zwei bis drei Jahrhunderten zu einer unübersehbaren Größe im Mittelmeerhandel aufschwingen kann?

9 Zusp. Karsten
Venedig liegt halt glücklich für die Handelsbedingungen einer Zeit, die für den Transport einfach auf Menschen und Natur-Energie angewiesen ist. Sie haben ja noch keine fossilen Verbrennungsmotoren oder so was. Man muss Handel betreiben mit Menschen oder Windkraft, und das macht den Transport von Gütern über lange Strecken außerordentlich mühsam, langsam, gefährlich, teuer. Wenn man nun die raren Güter des Orients, Luxusgüter, bestimmte Gewürze, Seide möglichst lang auf dem Seeweg transportieren möchte, um sie dann nach Frankreich oder ins Heilige Römische Reich zu transportieren, dann war man gut beraten, eben möglichst weit nach Norden in die Adria hinaufzufahren. Und hier entwickelt sich Venedig dann aufgrund dieser strategisch günstigen Lage zum - neben Genua - wichtigsten Umschlagplatz für die Luxusgüter des Orients.

SPRECHERIN
Das ist Venedigs Erfolgsgeheimnis: Es liegt weit im Norden des Mittelmeers, und jede Seemeile Richtung Norden ist leichter und billiger zurückzulegen als die Wegstrecke über Land. Dazu liegt die Stadt auch noch genau an der Grenze zum Frankenreich, später dem Heiligen Römischen Reich. Wer die begehrten Luxusgüter aufkaufen will, hat also am besten gleich eine Handelsniederlassung in der Stadt. Der Fernhandel macht aus Venedig bald einen internationalen Ort, an dem sich Reiche und Mächtige aus der Mittelmeerwelt und von nördlich der Alpen begegnen.

SPRECHER
Dabei war Venedig während dieser ersten Jahrhunderte immer eindeutig ein Teil des Byzantinischen Reichs

SPRECHERIN
Doch das Verhältnis zu Byzanz läuft auf eine tragische Wende zu. Während Konstantinopel im Mittelmeer durch die Normannen und vor allem durch die aufblühende muslimische Welt immer stärker unter Druck gerät, wird Venedig immer reicher. Die ferne Provinz im Westen wird für Byzanz mehr und mehr zum Bündnispartner - und zum Konkurrenten, der sich seine Hilfe durch Handelsprivilegien und durch besonders günstige Zolltarife teuer bezahlen lässt.

SPRECHER
Im Jahr 1204, beim Vierten Kreuzzug, endet das immer gespanntere Verhältnis in einer Katastrophe. In Venedig hat sich ein Kreuzfahrerheer gesammelt. Doch der Glaubenskrieg gegen das Heilige Land kommt nicht in Gang. Was also anfangen mit diesem riesigen Heerhaufen, den Venedig nur auf Schiffe verfrachten muss, um ihn zum Einsatz zu bringen?

MUSIK

SPRECHERIN
Da passiert es: Wegen innerer Machtkämpfe ruft Konstantinopel das Heer zu Hilfe. Doch als Venedigs Schiffe vor Ort ankommen, wird die versprochene Summe nicht bezahlt. Es sind vor allem venezianische Forderungen, die jetzt mit schockierender Skrupellosigkeit eingelöst werden. Konstantinopel wird erobert und geplündert. Die Stadt erlebt ein tagelanges Blutbad.

SPRECHER
Venedig sichert sich einen großen Teil des oströmischen Territoriums, des Reichs, zu dem es eigentlich selbst gehörte. Ein Triumph? Arne Karsten:

11 Zusp. Karsten
Nun, das Problem ist natürlich, dass hier eine christliche Hauptstadt von einem christlichen Heer, das eigentlich zum Kampf gegen die Muslime im Heiligen Land zur Rückeroberung Jerusalems ausgezogen war, erobert wird. Das Ganze wird von Papst Innozenz III. mit schweren Kirchenstrafen belegt. Das ist in der Folgezeit in der ansonsten so sehr intensiv gepflegt venezianischen Erinnerungskultur, in der historische Erfolge gerne gefeiert werden, durch aufwendige Gemälde, durch eine bald auch einsetzende, wirklich städtische Geschichtsschreibung, eine lange Zeit eher totgeschwiegener Punkt.

MUSIK

SPRECHERIN
Trotzdem ist Venedig nun unbestritten eine Großmacht auf eigene Faust. Noch würde man wenig von der Stadt erkennen, die heute Touristenströme aus aller Welt begeistert. Noch nicht einmal der Markusdom mit seinem byzantinischen Flair ist fertig. Die große Zeit der venezianischen Republik mit ihren großartigen Renaissance-Bauten wird jetzt erst beginnen. Aber aus der Gründung im Sumpf ist ein global player geworden.