radioWissen - Bayern 2   /     Emmy Noether - Eine Frau erneuert die Algebra

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Der Weg an die Weltspitze der Mathematik war steinig für Emmy Noether. 1882 im Königreich Bayern geboren, schaffte sie es von der Höheren Töchterschule bis zur Habilitation in der Weimarer Republik. Dabei hat sie die moderne Algebra bis heute entscheidend vorangetrieben, weg von reiner Rechnerei hin zu abstrakten Strukturen. Albert Einstein war begeistert. Autor: Markus Mähner

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Duration
00:21:15
Publishing date
2023-10-30 09:05
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/emmy-noether-eine-frau-erneuert-die-algebra/2069118
Contributors
  Markus Mähner
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2069118/c/feed/emmy-noether-eine-frau-erneuert-die-algebra.mp3
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Shownotes

Der Weg an die Weltspitze der Mathematik war steinig für Emmy Noether. 1882 im Königreich Bayern geboren, schaffte sie es von der Höheren Töchterschule bis zur Habilitation in der Weimarer Republik. Dabei hat sie die moderne Algebra bis heute entscheidend vorangetrieben, weg von reiner Rechnerei hin zu abstrakten Strukturen. Albert Einstein war begeistert. Autor: Markus Mähner

Credits
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprach: Heiko Ruprecht
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Cordula Tollmien, Historikerin & Mathematikerin

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Linktipps:

Website zu Emmy Noethers Lebens- und Familiengeschichte sowie zu unveröffentlichten Forschungsergebnissen von Cordula Tollmien:
EXTERNER LINK | https://www.emmy-noether.net/ 

Literaturtipps:

Cordula Tollmien: DIe Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten. Verlag: tredition
Band 1: "Kann eine Frau Privatdozentin werden?". ISBN 978-3-347-05157-7
Band 2: "Wir bitten um Dispens fĂĽr den vorliegenden einzigartig liegenden Fall". ISBN 978-3-7497-7454-8

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER

Im April 1935 erscheint in der New York Times ein Leserbrief, der etwas anderen Art. Es ist ein Nachruf auf die Mathematikerin Emmy Noether. Der Autor des Leserbriefs, kein geringerer als Albert Einstein, schwärmt von Noether´s Werk als "reine Mathematik", als "eine Art Dichtung", eine "logische Schönheit", die das "tiefere Eindringen in die Gesetzlichkeit der Natur" ermöglicht.

Tollmien 1

Es gab diesen Nachruf von Einstein, der wurde ins Englische übersetzt, weil der erschien als Leserbrief in der New York Times. 

SPRECHER

Cordula Tollmien, Mathematikerin und Emmy Noether-Expertin.

Tollmien 2

Das war so ein Trick von Einstein, weil damit erschien er sofort. Nachrufe brauchen ja sonst manchmal ein, zwei Jahre, bis sie irgendwo erscheinen. Und er wollte einfach die gesamte wissenschaftliche Welt darĂĽber unterrichten, dass dieses mathematische Genie Emmy Noether tot ist.

SPRECHER

Dennoch ist dieses "mathematische Genie" selbst heute noch nur Wenigen bekannt. In ihrer Heimat Deutschland hatte man sie lange Zeit fast komplett vergessen.

Tollmien 3

Sie ist einfach totgeschwiegen worden.

Aber ich würde nicht sagen international: Anders war es in den USA. Aber bezeichnenderweise 1982 war ja ihr 100.Geburtsjahr. Da haben die USA ihre "Collected Papers" ausgegeben. Die haben eine große Veranstaltung gemacht. In Göttingen war nichts! War überhaupt nichts! 

SPRECHER

Heute ist sie zumindest Mathematikern bekannt. Und Physiker - besonders Theoretische Physiker - schwärmen von ihr in den höchsten Tönen. Denn sie wissen, wie zentral ihre Erkenntnisse für das "tiefere Eindringen in die Gesetzlichkeit der Natur" sind. Ebenso wie Albert Einstein, der Emmy Noether persönlich allerdings wohl nur zweimal traf. 

MUSIK kurz hoch und raus

SPRECHER

Juni 1915: Einstein hält Vorträge an der Universität Göttingen über seine Gravitationstheorie. Emmy Noether ist kurz zuvor, im April, einer Einladung der beiden großen Göttinger Mathematiker David Hilbert und Felix Klein gefolgt und in die damalige "Hauptstadt der Mathematik" gezogen. Einsteins Vorträge sollten für sie von bleibender Bedeutung werden, denn:

Tollmien 4

Da stürzte sich Hilbert mit Feuereifer in die allgemeine Relativitätstheorie, und in dieses neue, aufregende Arbeitsgebiet hat er nicht nur Emmy Noether mit hineingezogen, sondern auch Felix Klein - der war älter und arbeitete dort auch schon Jahrzehnte in Göttingen - und Felix Klein hat dann in enger Zusammenarbeit mit Emmy Noether das Problem der Energieerhaltung in der Allgemeinen Relativitätstheorie gelöst. Und das waren dann eben die Noether-Theoreme - die sind dadurch entstanden durch diese Zusammenarbeit.

SPRECHER

Die nach ihr benannten "Noether-Theoreme" sind noch heute das bekannteste Werk Emmy Noethers. Es sind Mathematische Formeln, die zentral für die theoretische Physik sind, denn sie beschreiben ein physikalisches Phänomen.

Tollmien 5

Das Wichtigste ist erstmal, dass es zwei Noether-Theoreme gibt. Das wird oft unterschlagen. Aber meistens ist von diesem ersten berühmten Noether-Theorem die Rede. Das zweite ist mathematisch-physikalisch auch so kompliziert, dass wir das hier außen vor lassen müssen. Also so erstmal grundsätzlich: die Noether-Theoreme sind Emmy Noether´s Beitrag zur allgemeinen Relativitätstheorie. Und das erste Noether-Theorem besagt in pyhsikalischer Übersetzung [...] dass zu jeder kontinuierlichen Symmetrie eines physikalischen Systems eine Erhaltungsgröße existiert und umgekehrt.

SPRECHER

Ein Beispiel: Wenn das Ergebnis eines physikalischen Experiments das gleiche ist - egal ob ich es zum Beispiel heute um 7 Uhr früh oder morgen Abend um 21.35 Uhr oder irgendwann anders ausführe – dann gibt es eine physikalische Größe, die sich nie ändert. Bei unserem Beispiel mit der Zeit ist dies die physikalische Größe der Energie. Es gilt also der Energieerhaltungssatz. 

Und mit dieser Erkenntnis brachte Emmy Noether etwas in die Welt der modernen Physik, an dem man sich festhalten konnte. Denn der Energieerhaltungssatz wurde bislang nur postuliert. Dass er wirklich auch immer gilt, war nicht sicher. Dank der Noether-Theoreme hatte man jetzt den Beweis. Zudem war nun klar: Es gibt physikalische Größen, die sich nie auflösen können, also quasi „unzerstörbar“ sind – so wie eben die Energie.

Tollmien 6

Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer hat diesen Zusammenhang als eine der schönsten Verbindungen bezeichnet, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht. Also die Schönheit muss man sozusagen nachfühlen können. Es ist so, wenn man fragt, was das Ganze für Folgen hat, dann kann man das auch sehr verkürzt so sagen: Dass die Physiker, seitdem die Noether-Theoreme, die Emmy Noether ja schon 1918 formuliert hat, nachdem die in den 1950er-Jahren, also relativ spät von den Physikern wiederentdeckt [...] wurden, suchen die Physiker nach Symmetrien, um Erhaltungssätze zu finden. Und unsere Wirklichkeit - und das ist das Schöne - ist anscheinend von verborgenen Symmetrien durchzogen.

Musik 2: Joan – Z8007754109 – 1:02 Min

SPRECHER

So sind die Noether-Theoreme unter anderem als "Naturgesetz-Maschine" bezeichnet worden, die man auf der einen Seite mit einer physikalischen Beobachtung "füttert" - und auf der anderen Seite kommt ein Naturgesetz heraus. So postulierte der Physiker Wolfgang Pauli in seinem berühmten Brief an die "Lieben radioaktiven Damen und Herren" bereits am 4.Dezember 1930 anhand der Noether-Theoreme die Existenz des Neutrons. Nachgewiesen wurde dieses elementare Teilchen erst 26 Jahre später.

Und auch bei der Entdeckung eines weiteren Elementarteilchens, des sogenannten "Higgs-Bosons", halfen die Lehrsätze Emmy Noethers. Denn während es bereits im Jahr 1964 postuliert worden war, wurde es experimentell erst 2012 nachgewiesen - öffentlichkeitswirksam vom Europäischen Teilchenbeschleunigerzentrum CERN bei Genf.

MUSIK 3: The unified field – MR011970105– 14 sek 

SPRECHER

Doch bis Emmy Noether zu diesen grundlegenden Erkenntnissen durchdringen kann, ist es ein langer, steiniger Weg mit vielen Umwegen - und ein wenig GlĂĽck. Cordula Tollmien:

Tollmien 7

Emmy Noether hatte insofern Glück. Bei ihr passte das zeitlich immer genau zusammen. Sie ging auf eine - als Mädchen gab es nichts anderes - auf eine höhere Töchterschule. Die hieß übrigens nicht so, weil sie dort eine höhere Schulbildung kriegt ihr, sondern weil die höheren Töchter dahin gingen also die Nicht-Arbeiter Töchter zum Beispiel, nicht die Arbeitermädchen. Und dann hatte sie Glück, nachdem sie die abgeschlossen hatte. Das war 1896. Da war ihr Vater gerade Dekan an der Universität und hat als Dekan die ersten Frauen als Gasthörerin zugelassen. Und das waren drei ihrer Lehrerinnen.

SPRECHER

Auch wenn sie nicht regelrecht studieren können - und somit auch keinen Abschluss machen - so ist es Ende des 19-Jahrhunderts schon revolutionär für Deutschland, dass Frauen sich auf diese Art weiterbilden dürfen. Voraussetzung hierfür ist lediglich eine absolvierte Lehrerinnen-Prüfung.

Tollmien 8

Und Emmy Noether hat das natürlich hautnah mitbekommen, dass ihr Vater diese Frauen dort zugelassen hat. Und dann musste sie aber irgendwie eine Lehrerinnenprüfung vorweisen, damit sie auch als Gasthörerin zugelassen werden konnte. 

SPRECHER

Also macht sie sich daran und bringt sich Französisch und Englisch selbst so weit bei, dass es für die Lehrerinnenprüfung reicht.

Tollmien 9

Aber vor allem hat sie - und das finde ich spannend - Privatunterricht in Mathematik genommen, schon damals also. Sie war da sehr, sehr zielstrebig. Und in vielen Biografien steht immer, sie habe erst Lehrerin werden wollen. Und so weiter. Das war nicht der Fall. Sie hat diese Lehrerin-Prüfung abgelegt um dann als Gasthörerin zugelassen werden zu können. Und es war von vornherein klar, dass sie in die Mathematik wollte - obwohl damals überhaupt noch keine Chance bestand, dass sie dort mal regulär würde studieren können.

Musik 4: The Unified Field – siehe vorn – 20 Sek

SPRECHER:

Doch Emmy ist zielstrebig und weiĂź, was sie will. Deswegen bereitet sie sich bereits auf das bayerische Abitur vor. Da dies aber fĂĽr Frauen gar nicht vorgesehen ist, muss sie sich allein zuhause darauf vorbereiten. Denn Gymnasien gibt es lediglich fĂĽr Jungen.

Tollmien 10

Das muss man sich klarmachen: sie hat vorher auch nicht nur einen einzigen Tag an dessen Unterricht teilnehmen können! Also sie hat zwar versucht, so eine Woche lang dort vielleicht mal beim Unterricht hospitieren zu dürfen. Das wurde aber abgelehnt - nicht vom Schulleiter, sondern auf ministerieller Ebene.

SPRECHER

1903 ist es dann so weit: Emmy legt das Abitur ab.

Tollmien 11

Und dann hatte sie insofern wieder Glück, als zu diesem Zeitpunkt genau in Bayern Frauen als reguläre Studentinnen zugelassen werden konnten - unter der Voraussetzung, dass sie ein Abitur hatten. Das klang erst mal so ganz toll, weil Bayern war da einer der ersten Staaten, Preußen kam viel später, erst 1908, die Frauen als reguläre Studentinnen zuließen. Aber es gab natürlich kaum Frauen, die ein deutsches Abitur vorweisen konnten. 

SPRECHER

Am 24. Oktober 1904 schreibt sich Emmy - nach einer kurzen Gasthörerschaft im Mathematik-Mekka Göttingen - an der Universität Erlangen als Studentin ein. Fachgebiet: Mathematik. Nur wenige Jahre später promoviert sie bei dem Mathematiker Paul Gordan - einem Kollegen ihres Vaters Max Noether.

Die nächsten Jahre arbeitet sie am Mathematischen Institut Erlangen. Allerdings unbezahlt - ein Zustand, der lange in ihrem Leben anhalten wird: Denn auch als sie 1915 dann der Einladung David Hilberts nach Göttingen folgt, darf sie dort lediglich als seine "Assistentin" arbeiten: Einer Habilitation Noethers stehen die anderen Professoren und das patriarchal geprägte System entgegen. Da hilft auch nicht Hilberts berühmter Ausspruch, eine Universität sei doch keine Badeanstalt, die Frauen und Männer trenne.

MUSIK 5: Camera obscura – siehe vorn – 45 Sek

SPRECHER

Erst im Mai 1919 - nachdem Albert Einstein, tief beeindruckt von ihren Arbeiten, sich nochmals für sie einsetzt - wird sie habilitiert. Damit ist sie die dritte Frau in Deutschland, der dies gelingt - erst der politische Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg hat dies möglich gemacht. Nun kann sie in Göttingen Vorlesungen halten, allerdings wiederrum ohne jegliche Bezahlung. Erst einige Jahre später, 1922 - als bereits das Erbe ihres im Dezember 1921 verstorbenen Vaters aufgebraucht ist - bekommt sie den Titel einer außerordentlichen Professorin.

Tollmien 12

Das war aber nur ein Titel, ein Titel ohne Mittel. Und dann hat man ihr einen Lehrauftrag gegeben, der jedes Jahr verlängert werden musste. Davon hat sie mehr schlecht als recht gelebt. Und ich glaube, es gab Zeiten, da konnte sich noch nicht mal ordentliches Essen kaufen. 

SPRECHER

Warum bietet man ihr aber keinen eigenen Lehrstuhl an? An ihrer Arbeit kann es nicht liegen. Ihre Genialität und ihre Kenntnisse sind allgemein anerkannt. Reisen doch Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt ihretwegen nach Göttingen.

Tollmien 13

Aus Japan, aus Russland, aus den USA kamen die alle wegen Emmy Noether nach Göttingen. Und das war auch unbestritten, also ihre wissenschaftliche Anerkennung, ihre Genialität, das war keine Frage, aber das ist nicht gleichzusetzen mit der Möglichkeit einer akademischen Karriere.

SPRECHER

Warum also kein eigener Lehrstuhl?

Tollmien 14 

Man hat sie einfach schlicht nicht in Betracht gezogen. Frauen wurden nicht in Betracht gezogen; das war eine reine Geschichte, die zwischen Männern ausgekungelt wurde.

Was natürlich auch noch eine Rolle spielte, was ja auch verhindert hat, dass sie in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde - und das hätte unbedingt passieren müssen - das war natürlich ihre politische Überzeugung, mit der sie nicht hinter dem Berg hielt.

Musik 6: Camera Obscura – siehe vorn – 31 Sek

SPRECHER

Denn Emmy Noether ist ihr Leben lang auch politisch aktiv. Schon als sie in Erlangen studiert, engagiert sie sich dort - zusammen mit ihrer Mutter - im Verein "Frauenwohl". Der betreibt einen eigenen Hort, in dem Mädchen aus bedürftigen Familien bei den Schularbeiten geholfen wird. Zudem bekommen sie dort auch etwas zu essen. Cordula Tollmien, Verfasserin einer auf zehn Bände angelegten Biografie über Emmy Noether:

Tollmien 15

Dieser Verein - und das war für die bürgerlichen Vereine der damaligen Zeit völlig ungewöhnlich - arbeitete auch mit sozialdemokratischen Frauen zusammen. Es ist möglich, dass Emmy Noethers Affinität zur Sozialdemokratie in diesem zu frühen Zusammenarbeit ihre Wurzeln hatte. Und man muss wissen, die Sozialdemokratie war damals noch eine richtige sozialistische Partei, und sie war zeitlebens - das kommt auch noch dazu - eine überzeugte Pazifistin und das hat wahrscheinlich dazu geführt, dass sie 1919 in die USPD, in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands eingetreten ist - eine dezidiert gegen den Krieg auftretende Abspaltung der SPD - während des Krieges hatten die sich abgespalten. Und als sich die USPD 1922 auflöste und ein Anteil der Mitglieder in die KPD ging, gehörte sie zu denjenigen, die sich der SPD anschlossen. Sie hielt dort auch öffentliche Vorträge - immer zu pazifistischen Themen meistens, trat aber dennoch 1924 aus der Partei aus. 

SPRECHER

Das hilft ihr später, als in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie bereits 1920 aus weltanschaulicher Überzeugung aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten ist und seitdem keiner Religionsgemeinschaft mehr angehört.

Tollmien 16

Das heiĂźt: Emmy Noether war nach damaliger Sprachregelung eine "Dissidentin" - und so hat sie sich auch selbst bezeichnet. Und das war in der allgemeinen Wahrnehmung fast schlimmer als JĂĽdin zu sein.

Musik 7: Enigma – Z8007754102 – 37 Sek

SPRECHER

Für die Nationalsozialisten ist Emmy Noether schlicht eine politisch unliebsame Jüdin. Und so wird ihr bereits am 7.April 1933 - zwei Wochen nach dem Ermächtigungsgesetz, das die Macht des NS-Regimes in Deutschland monopolisiert - in Göttingen die Lehrerlaubnis entzogen. Sie ist damit eine der ersten WissenschaftlerInnen, die ihre Stellung verliert. Auch eine Petition ihrer Schüler, die sich für sie einsetzen, hilft nichts. 

Musik 8: Camera Obscura – siehe vorn – 42 Sek

SPRECHER

Emmy Noether entscheidet sich gegen Angebote aus Oxford und Moskau und reist im Oktober 1933 in die USA. Dort hat sie ein Lehrangebot am Frauencollege Bryn Mawr in Pennsylvania bekommen - gerade mal 50 Meilen entfernt von Princeton, wo Albert Einstein zu dieser Zeit lehrt. Es kommt wohl zur zweiten und letzten Begegnung dieser zwei Größen der Wissenschaft, denn die Zeit von Emmy Noethers erster Anstellung mit angemessener Bezahlung in ihrem Leben währt nicht lange.

Auch nach Göttingen – in ihre geistige Heimat - kehrt sie, trotz Heimweh, nur ein einziges Mal zurück.

Tollmien 17

Sie war 1934 noch einmal in der Stadt und durfte dort noch nicht einmal mehr die mathematische Bibliothek benutzen. Die Kollegen, die ehemaligen, die nicht schon, wie sie selbst, vertrieben waren, grüßten sie nicht mehr. Und da war dann endgültig klar, dass sie ihre sprachliche und vor allen Dingen geistige Heimat verloren hatte. Und dann hat sie erst ihre Möbel in die USA geholt. Und sie war dort nur kurz, weil sie dann eben überraschend nach einer Tumoroperation starb, im April 1935.

SPRECHER

Und das nur zwei Jahre nach ihrem Aufbruch, ihrer Flucht in die USA! Und nachdem sie nun endlich von ihrem Gehalt leben konnte!

Gerade einmal 53 Jahre ist sie geworden, die „größte Mathematikerin der Geschichte“ – wie sie ihr Kollege Hermann Weyl nannte. 

Ihren - wenn auch etwas langsam anlaufenden - Ruhm tragen ihre SchĂĽler in die Welt.

Tollmien 18

Also Emmy Noether gilt als "die Mutter der modernen Algebra". Das hängt wiederum wesentlich damit zusammen, dass unter diesem Titel "moderne Algebra" Anfang der 1930er-Jahren ein Lehrbuch mit diesem Titel erschien. Das hatte zwar ihr Schüler Barthel van der Waerden verfasst, aber es beruhte auf Vorlesungen Emmy Noethers. 

SPRECHER

Denn die für die Physik so bedeutenden Noether-Theoreme sind nicht das einzig Revolutionäre an Emmy Noethers Denken. Sie hat auch die Mathematik grundlegend erneuert. Der russische Mathematiker Pavel Alexandrow, auch er ein Schüler von ihr, nannte dies einmal "begriffliche Mathematik". 

Tollmien 19

Natürlich haben auch die Mathematiker vor Emmy Noether schon nicht mehr bloß mit Zahlen gerechnet, sondern mit mathematischen Begriffen operiert oder diese sogar erfunden. Mit aller gebotenen Vorsicht – das ist jetzt sehr vorsichtig formuliert - kann man sagen, dass Emmy Noether nicht nur eine Reihe wichtiger mathematischer Begriffe erfunden oder weiterentwickelt hat, sondern dass sie so stark in Begriffen dachte, dass diese selbst zu Forschungsgegenständen wurden und dass sie versucht hatte, diese Begriffe begrifflich weiterzuentwickeln. Also noch einmal etwas anders ausgedrückt: für Emmy Noether sind Begriffe zugleich Untersuchungsgegenstand und Werkzeug. 

Musik 9: Joan – siehe vorn – 1:33 Min

SPRECHER

Emmy Noethers SchĂĽler waren nicht nur fĂĽr die WeiterfĂĽhrung dieser "Begrifflichen Mathematik" wichtig, ihnen verdanken wir darĂĽber hinaus die Erkenntnis, dass Emmy Noether auch ein sehr liebenswerter Mensch war - mit kleinen Eigenheiten.

Tollmien 20 (darunter langsam mit Schlussmusik beginnen)

Das Wichtigste aber war, dass sie leidenschaftlich gern spazieren ging und dabei ebenso leidenschaftlich mit ihren SchĂĽlern Mathematik diskutierte, die dann oft auĂźer Atem nicht hinterherkamen, weil ihre Gedanken sprudelten nur so aus ihr heraus. Die hatten nichts zu schreiben mit und mussten irgendwie sehen, wie sie das mitkriegten, was sie da von sich gab. Wichtig war dabei vor allem offenbar die Bewegung. Es musste nicht unbedingt in Wald und Flur sein. So erinnern sich mehrere SchĂĽler, dass sie in Ermanglung eines Spaziergangs auch einmal um den Tisch einer Gastwirtschaft herumgelaufen ist, mit ihnen immer im Kreis. Oder auch in einer bayrischen Kirche um einen Altar, bis sie von einem Kirchenbesucher mit den Worten "ja habns denn gar keinen Anstand" gestoppt wurden. Also ich kann nicht so gut bayerisch, aber ich habe versucht, das nachzumachen.

Tollmien 21

Und sie ist dann in Göttingen immer mit der Schar dieser SchĂĽler diskutierend durch die Stadt gezogen und sie waren dann schon bekannt diese SchĂĽler als die sogenannten "Noether-Knaben", und sie selbst wurde respektvoll und anerkennend "DER Noether" genannt. Was natĂĽrlich eine sehr zweischneidige Zuschreibung ist von heute aus gesehen, weil diese zugleich impliziert, dass nur Männer so genial sein könnten, wie sie es eben war.Â