radioWissen - Bayern 2   /     Die Erfindung des Rads - Als die Welt ins Rollen kam

Description

Es gilt als eine der bedeutendensten Erfindung in der Menschheits-geschichte - das Rad. Als Transportmittel öffnete es den Handel zwischen Kulturen, als Streitwagen fĂŒhrte es zur Bildung von mĂ€chtigen Großreichen, als Idee fĂŒhrte es zu ZahnrĂ€dern und Uhren und langfristig zur globalen MobilitĂ€t. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Welt im altorientalischen Mesopotamien ins Rollen kam. Heute gilt die alteuropĂ€ische Tipolye-Kultur auf dem Gebiet der heutigen Ukraine vor 6.000 Jahren als wahrscheinlicher Ursprungsort des Fahrens. Autor: Geseko von LĂŒpke

Subtitle
Duration
00:23:49
Publishing date
2023-11-10 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-erfindung-des-rads-als-die-welt-ins-rollen-kam/2074663
Contributors
  Geseko von LĂŒpke
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2074663/c/feed/die-erfindung-des-rads-als-die-welt-ins-rollen-kam.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Es gilt als eine der bedeutendensten Erfindung in der Menschheits-geschichte - das Rad. Als Transportmittel öffnete es den Handel zwischen Kulturen, als Streitwagen fĂŒhrte es zur Bildung von mĂ€chtigen Großreichen, als Idee fĂŒhrte es zu ZahnrĂ€dern und Uhren und langfristig zur globalen MobilitĂ€t. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Welt im altorientalischen Mesopotamien ins Rollen kam. Heute gilt die alteuropĂ€ische Tipolye-Kultur auf dem Gebiet der heutigen Ukraine vor 6.000 Jahren als wahrscheinlicher Ursprungsort des Fahrens. Autor: Geseko von LĂŒpke

Credits
Autor/in dieser Folge: Geseko v. LĂŒpke
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Andreas Neumann, Benjamin Stedler
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Stefan Burmeister, ArchĂ€ologe, FrĂŒhgeschichtler;
Asko Parpola, Finnischer PalÀo-Linguist und Historiker;
Elke Kaiser, Prof. fĂŒr FrĂŒhgeschichte an der FU Berlin;
Harald Haarmann, Linguist, Historiker, Autor
Carola Metzner-Nebelsick, Historikerin, LMU MĂŒnchen;
Norbert Oberschmidt, Rad-Entwickler, Autor

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Literaturtipps:

Burmeister, Stefan: Der Mensch lernt fahren – zur FrĂŒhgeschichte des Wagens, Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW), Band 142, 2012, S. 81-100

Burmeister Stefan: Die drei großen W: Waren – Wagen – Wege. Überlegungen zum Überlandverkehr in prĂ€historischer Zeit, mit besonderem Blick auf Nordwestdeutschland, aus: Bartelheim, Martin( Hrsg.): RessourcenKulturen, Band 8, TĂŒbingen University Press

Haarmann, Harald: Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam. Beck-Verlag, MĂŒnchen 2023

Kaiser, Elke: Die frĂŒhen RĂ€derfahrzeuge im nordpontischen Raum. Die archĂ€ologische Überlieferung und das protoindoeuropĂ€ische Wagenvokabular. Mitteilungen der Berliner Gesellschaft fĂŒr Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 43, 2022, 13–25

Kaiser, Elke: RĂ€derfahrzeuge in der frĂŒhen Bronzezeit Osteuropas. In: B. Nessel, D. Neumann, M. Bartelheim (Hrsg.), Bronzezeitlicher Transport. Akteure, Mittel und Wege. Ressourcenkultur 8 (TĂŒbingen 2018) 139–165.

Metzner-Nebelsick, Carola: Charriots and Horses in the Carpathian Lands during the Bronze Age,  Published in: B. Baragli, A. Dietz, Zs. J. Földi, P. Heindl, P. Lohmann and S. P. SchlĂŒter (eds.), Distant Worlds and Beyond. Distant Worlds Journal Special Issue 3, Heidelberg, Propylaeum 2021, 111–131. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.886.c11954

Parpola, Asko: Proto-Indo-European Speakers of the Late Tripolye Culture as the Inventors of Wheeled Vehicles: Linguistic and archaeological considerations of the PIE homeland problem. Pp. 1-59 in: Karlene Jones-Bley (eds.), Proceedings of the Nineteenth Annual UCLA Indo-European Conference, November 2-3, 2007. (Journal of Indo-European Studies Monograph 54.) Washington, D.C.: Institute for the Study of Man, 2008

Oberschmidt, Norbert: Das Rad. Eine bewegte Geschichte; ifu-verlag fĂŒr regionalkultur, Heidelberg 2015

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER

Lang, lang, ist‘s her. UngefĂ€hr zu jener Zeit, als der ‚Mann vom Tisenjock‘, ein dunkelhĂ€utiger jungsteinzeitlicher Wanderer mit dem modernen Namen ‚Ötzi‘ die Alpen ĂŒberqueren wollte; und 3.356 Jahre vor unserer Zeitrechnung von einem Pfeil getroffen in eine Gletscherspalte stĂŒrzte. Runde 5.380 Jahre. Der glatzköpfige Mann, der weit nach seiner Zeit als ‚Mumie von Similaun‘ weltberĂŒhmt werden sollte, mag das GerĂ€usch schon gekannt haben: Das Knarzen der sich drehenden HolzrĂ€der, das harte Rumpeln der archaischen Achsen, die sich Ă€chzend reibenden Holzbohlen des klobigen vierrĂ€drigen Wagens. 

Musik 2

Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und AusfĂŒhrender: 

Stephan Micus - LĂ€nge 0'41

SPRECHERIN

Und der Eindruck wird sich tief in sein steinzeitliches Bewusstsein eingeprĂ€gt haben. Denn die Erfindung von Rad und Wagen – das wissen wir heute – war eine höchst ungewöhnliche und bis heute tĂ€glich wirksame Erfindung. In dem Zeitalter, das wir gewöhnlich die ‚Graue Vorzeit‘ nennen – dem Neolithikum oder der Jungsteinzeit, in dem sich der Übergang von JĂ€ger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen vollzog. Über Jahrzehntausende war der Mensch zu Fuß gelaufen. Und plötzlich begann er zu fahren! Der ArchĂ€ologe Stefan Burmeister versucht sich auszumalen, wie groß damals das Staunen gewesen sein mag.

ZUSPIELUNG Wort 1 (Stefan Burmeister)      

Man muss sich vorstellen, wie der Mensch sich bis dahin selbst fortbewegt hat. Also eben immer nur auf seinen eigenen FĂŒĂŸen. Mit dem Wagen taucht plötzlich eine ganz andere Art von Fortbewegung auf. Man sitzt oder steht ĂŒber den Dingen und schwebt, auch wenn es vielleicht ein bisschen ruckelig ist. Aber man gleitet ja im Grunde so dahin und muss sich selbst nicht mehr bewegen. Das ist natĂŒrlich eine ganz andere Form der AutomobilitĂ€t, die ja schon eher sowas von ‚Erscheinen‘ hat, als von Gehen oder sich fortbewegen.

ZUSPIELUNG Atmo 2 Mischung: (Hupen eines Oldtimers, Stampfen einer Dampf-Lokomotive, Quietschende Reifen eines Sportwagens)

SPRECHER

‚Auto-MobilitĂ€t‘ – wer sich das Wort auf der Zunge zergehen lĂ€sst, erahnt die Jahrtausende der Kulturentwicklung, die von den rustikalen Konstruktionen der Jungsteinzeit, ĂŒber elegante StreitwĂ€gen der Ägypter und Griechen, herrschaftlich kaiserliche Prunkkarossen, PlanwĂ€gen im Wilden Westen, verspielte Hochzeitskutschen, erste Automobile, mĂ€chtige Lokomotiven bis hin zum hochgezĂŒchteten Formel-Eins-Rennwagen reichen. Erfindungen, die die Welt zum Dorf machten, den globalen Handel begrĂŒndeten, Geschwindigkeit und Zeitmessung nach sich zogen – und zu dem fĂŒhrten, was heute als privater PKW oder mĂ€chtiger 40-Tonner unseren Alltag im 21. Jahrhundert prĂ€gt. Doch wie begann das alles? Wo und wann kam die Weltgeschichte ins Rollen?

Musik 3

Titel: "Jd021" - Album: Derrida - Komponist und AusfĂŒhrender: Ryuichi Sakamoto - LĂ€nge: 0'50

SPRECHERIN

Der Blick zum Himmel – zum Rund von Sonne und Mond – hatte den Menschen wohl schon immer gezeigt, dass es mit den ĂŒber den Himmel ziehenden Kreisen etwas Besonderes auf sich hatte. Auch als mythisches Symbol fĂŒr den Lauf der Jahreszeiten war der Kreis schon lange ein Begriff, nicht jedoch als bewegliches Rund. Lange Zeit gingen die Historiker davon aus, dass die Idee zum Rad zum ersten Mal in den legendĂ€ren Reichen im Urstromland aufblitzte, die als Wiege der Zivilisationen galten. Denn im sumerischen ‚Uruk‘ auf dem Gebiet des heutigen Irak hatte man im Grab eines Königs alte Schrifttafeln gefunden, deren Zeichen und Piktogramme bereits 3.400 vor Christus vierrĂ€drige Wagen zeigten – also stolze 5.400 Jahre alt sind. Doch der finnische PalĂ€o-Linguist und Historiker Asko Parpola vermutet einen noch Ă€lteren und ganz anderen Ursprungsort des Rades:

ZUSPIELUNG Wort  2 (Asko Parpola /mÀnnl. Overvoice)

It has been an accepted theory for a long time that the Sumerians invented wheeled Lange Zeit galten die Sumerer als Erfinder von Rad und Wagen rund 3.400 vor Christus. Aber in den letzten zwei Jahrzehnten hat man in Europa mehr und mehr Funde gemacht, die aus ungefĂ€hr der gleichen Zeit stammen. Deshalb wird die ‚sumerische Theorie‘ heute in Frage gestellt. Ich glaube, dass Rad und Wagen im Gebiet der zentralen Ukraine erfunden wurden, nahe der heutigen Stadt Kiew, rund 3.600 Jahre vor Christus oder etwa zu der Zeit.           
. in that time scale.

Musik 4

Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und AusfĂŒhrender: 

Stephan Micus - LĂ€nge 0'46

SPRECHER

Denn in Ost-Europa hat die ArchĂ€ologie erstaunliches zu Tage befördert: Spuren sogenannter ‚Mega-Sites‘ – riesiger stadtĂ€hnlicher Strukturen mit zigtausend Einwohnern, Tausenden von HĂ€usern und WerkstĂ€tten schon aus dem fĂŒnften vorchristlichen Jahrtausend: Jungsteinzeitliche GroßstĂ€dte der sogenannten ‚Tripolye-Kultur‘, in denen wunderschön verzierte Terrakotta-Vasen gefunden wurden, fĂŒr die schon das Töpferrad erfunden worden sein musste -  bei der das erste Mal das Prinzip der Drehung angewendet wurde. Zeugnisse einer noch umstrittenen ‚alt-europĂ€ischen Hochkultur‘, in denen man zwar noch keine WĂ€gen, aber entsprechende tönerne Spielzeuge gefunden hat, erzĂ€hlt Elke Kaiser, Professorin fĂŒr ArchĂ€ologie an der Freien UniversitĂ€t Berlin:

ZUSPIELUNG Wort 3  (Elke Kaiser, 0:40)    

Und dort haben wir schon Mitte des vierten Jahrtausends vor Christi Geburt Hinweise in Form von so kleinen Tierchen aus Ton, die durchlochte Beine haben. In der NÀhe sind dann auch Ton-RÀder gefunden worden. Und man nimmt an eben, dass in diesen horizontal durchlochten Beinen dieser Tierfiguren dann wahrscheinlich ein Hölzchen gesteckt hat, quasi wie eine Achse und auf beiden Seiten dann RÀder befestigt waren. Das sind keine richtigen Wagen, aber spielzeug-Àhnliche Figuren, die von den Menschen damals irgendwie bei irgendwelchen Ritualen benutzt worden sind.

SPRECHERIN

Spielzeuge, die natĂŒrlich darauf schließen lassen, dass solche Dinge schon im praktischen Gebrauch waren, bevor Kinder damit symbolisch hantierten. Richtige RĂ€der und WĂ€gen fand man aber nicht. Solche großen archĂ€ologischen FundstĂŒcke gibt es erst aus osteuropĂ€ischen GrĂ€bern, die ein paar Hundert Jahre spĂ€ter datieren, rund 3.100 vor Christus. Und jĂŒngste Ausgrabungen haben aus etwa der gleichen Zeit Rad- und Spurenfunde aus ganz verschiedenen Regionen und Kulturen von der Nordsee bis zum Hindukush zu Tage gebracht.

Musik 5

"Part 1 - Resonating Stone, Shakuhachi" - Album: Music Of Stones - Komponist und AusfĂŒhrender: Stephan Micus - LĂ€nge: 1`18

SPRECHER

So fanden sich in Norddeutschland 3.450 Jahre alte RĂ€derspuren aus der bĂ€uerlichen ‚Trichterbecher‘-Kultur, an Schweizer Bergseen zerbrochene Vollholz-RĂ€der, deren Gebrauch der ‚Ötzi‘ erlebt haben mag, etwas spĂ€ter ganze HolzwĂ€gen als Grabbeilagen im Ural und am Schwarzen Meer, sowie Wagenreste am Persischen Golf und im Gebiet des heutigen Pakistan. ArchĂ€ologen standen vor einem RĂ€tsel, wieso scheinbar fast gleichzeitig an so weit voneinander entfernten Orten in völlig unterschiedlichen Kulturen die gleiche Innovation auftauchte. Waren es gleichzeitige Entdeckungen, waren es frĂŒhe Handelskontakte, oder gab es Ideenexport durch wandernde Handwerker? Wie in einem Puzzle versuchen heute die Altertums-Forscher den Ort und die Verbreitung der Erfindung zu rekonstruieren. Theorien gibt es so manche, Beweise wenige.

Musik 6

Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und AusfĂŒhrender: 

Stephan Micus - LĂ€nge 0'33

SPRECHERIN

Doch so manches spricht dafĂŒr, dass tatsĂ€chlich im Zusammentreffen der mehr als 6.000 Jahre alten und handwerklich wohl hochentwickelten ukrainischen Tripolye-Kultur und migrierenden Steppen-Nomaden aus dem Osten sich der kreative Impuls formte, mit dem Wagen etwas ganz Neues zu probieren. Denn dafĂŒr bestand vielerlei Bedarf: In den frĂŒhen osteuropĂ€ischen StĂ€dten fĂŒr den Transport von Getreide und Material, bei den Steppen-Nomaden und Viehhirten fĂŒr HandelsgĂŒter und Material-Transport. Der Linguist und Historiker Harald Haarmann ist aber davon ĂŒberzeugt, dass es eine Kultur des Friedens und der Kooperation brauchte, um eine so weltverĂ€ndernde Innovation erst möglich zu machen.

ZUSPIELUNG     Wort 4      (Harald Haarmann)                             

In Europa sind die Funde deutlich Ă€lter. Das Töpfer-Rad ist erfunden worden vor Rad und Wagen. Also die primĂ€re, die Verwirklichung der Idee des Rades fĂŒr praktische Zwecke hĂ€ngt zusammen mit der Arbeit in der Töpfer-Werkstatt und das war das Töpferrad. Und dann sekundĂ€r kam man natĂŒrlich schnell drauf nachzudenken, wie man das umsetzen kann fĂŒr Transportmöglichkeiten. Das technische Know How und die Möglichkeiten, da weiterzukommen, die lagen bei den Alt-EuropĂ€ern. Die ‚Tripolya-Kultur‘ oder ‚Tripoli‘, wie man sie Russisch auch nennt, war der östliche AuslĂ€ufer dieses Komplexes Alt-Europas oder der ‚Donau Zivilisation‘. Und diese GroßstĂ€dte waren fĂŒr die Hirten-Nomaden weiter im Osten interessant, denn mit diesen Leuten standen sie in regen Handelsbeziehungen. Rad und Wagen sind erfunden worden, so wie ich das sehe, in friedlicher Kooperation: In interkultureller Kooperation unter Einbringung von Ressourcen und Know-How von beiden Seiten - da konnte es gelingen, so eine wichtige Erfindung zu machen.

SPRECHERIN

Von der wohl matriarchalen und sehr egalitĂ€ren - Donau-Kultur wird angenommen, dass sie 6 bis 4.000 vor Christus gut zwei Jahrtausende ohne Krieg und soziale Hierachien auskam – perfekte Voraussetzung fĂŒr KreativitĂ€t und neue Ideen, glaubt Harald Haarmann. Zur Erfindung des Rades kam es, als die kreativen Siedler auf Nomaden stießen, die Hartholz als Ressource mitbrachten. Er ist ĂŒberzeugt, dass die bahnbrechende Erfindung sich von dort durch wandernde Handwerker und HĂ€ndler schnell in alle Richtungen verbreitete. Vielleicht nicht mit den klobigen, ohne bewegliche Vorderachse auf Wanderpfaden kaum lenkbaren WĂ€gen. DafĂŒr waren die ersten leicht brechbaren Vollholz-RĂ€der nicht geschaffen. Aber zu Fuß als wandernde Handwerker und IdeentrĂ€ger der Rad-Erfindung. Und so mag es kaum 100 oder 200 Jahre gedauert haben, bis die Idee des Wagens bis nach Sibirien und Mesopotamien, nach Persien, Pakistan und China reichte.

Musik 7

Titel o3 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und AusfĂŒhrender: 

Stephan Micus - LĂ€nge: 1'02

SPRECHER

Vor Ort mögen die einfachen KastenwĂ€gen vielerlei Funktionen erfĂŒllt haben: Als lokales Transportmittel fĂŒr Laubheu und Ernten, als Planwagen fĂŒr Nomaden und ViehzĂŒchter, als sakrales und rituelles Symbol – viel spĂ€ter auch als KriegsgerĂ€t. Vielleicht auch mal als archaischer LKW fĂŒr den Handel mit begehrten Metallen in der beginnenden Kupferzeit. Aber immer wieder zunĂ€chst auch als Prestige-Objekt und Prunkwagen mĂ€chtiger lokaler Herrscher oder reicher HĂ€ndler. Denn das Fahrzeug als Statussymbol ist keine neue Idee. Der Mythos der MobilitĂ€t reichte sogar ĂŒber das Leben hinaus. Bedeutende Persönlichkeiten wurden ab 3.100 vor unserer Zeitrechnung mit ganzen WĂ€gen begraben. Das war, als wenn man heute seinen Porsche mit ins Grab nĂ€hme, bemerkt lĂ€chelnd der finnische Historiker und Linguist Asko Perpola.

ZUSPIELUNG Wort 5 (Asko Perpola, // engl. mit mÀnnl. OV)

Usually the graves exhibit the status of the dead person. So if he was a Das Grab spiegelte den Status des Toten. War er ein mĂ€chtiger Mann, wurde er reich begraben. Und da das GefĂ€hrt ein Zeichen von Macht und Wohlstand war, kam es mit ins Grab. Und dazu kam die symbolische Bedeutung. Besonders 1000 Jahre spĂ€ter, als der Streitwagen erfunden wurde. Da mag man sich vorgestellt haben, dass der Tote vielleicht auf dem Wagen zu den Himmels-Göttern fuhr. Dann hĂ€tte er ihn fĂŒr die Reise in die Anderswelt schon mal dabei! 
. he would have it.

SPRECHERIN

Weil außer den Grabfunden und vereinzelten zerbrochenen RĂ€dern wenig der meist hölzernen GefĂ€hrte der heutigen ArchĂ€ologie erhalten blieben, sind die materiellen Belege fĂŒr die erste Erfindung des Wagens und seine folgende Verbreitung nur dĂŒnn gesĂ€t. In der Erforschung der frĂŒhen Vergangenheit etablierte sich aber eine ganz eigene Richtung – die historische PalĂ€o-Linguistik. Sie untersucht die WortstĂ€mme von Sprachen und kann so ermitteln, wie sich Begriffe und Worte in frĂŒheren Zeiten verbreitet haben. 

SPRECHER

Weil die Erfinder eines Gegenstands ihm oft auch einen Namen geben, und dieser Begriff in der Regel von Nachahmern ĂŒbernommen wird, kann man an der Verwendung des Ursprungs-Wortes oft erkennen, wo der Gegenstand originĂ€r herstammt. In vielen Kulturen werden bis heute indo-europĂ€ische Worte fĂŒr WĂ€gen und ihre Bauteile benutzt. Diese entstammen einer Sprache, die sich vor 5.000 Jahren in der HEUTIGEN Ukraine durchsetzte, als die indo-europĂ€ischen Normaden mit den friedlichen alt-europĂ€ischen Kulturen kooperierten. FĂŒr den Linguisten Harald Haarmann ein weiterer Beleg, wo der Wagen ursprĂŒnglich herkam. Und der Sprach-ArchĂ€ologe zeigt an einem skurrilen Beispiel, dass sich ĂŒber die linguistische Spurensuche sogar Erkenntnisse ĂŒber die ursprĂŒnglich ausschließlich friedliche Nutzung der frĂŒhen GefĂ€hrte gewinnen lassen.

ZUSPIELUNG  Wort 6 (Harald Haarmann)

Der Wortschatz fĂŒr den Wagenbau, der hat sich auch im Alt-EuropĂ€ischen entwickelt, da sind Lehnwörter im Altgriechischen erhalten. ‚Satty Mai‘ ist der Ausdruck fĂŒr einen zweirĂ€drigen Wagen speziell fĂŒr Frauen. Mit dem Wagen wurde die Braut zum Ort der Hochzeit gefahren: Friedlicher kann man es nicht kaum vorstellen. Und die Griechen in der Antike haben das dann auch aufgegriffen: Die Hochzeits-Kutsche! Die Idee ist uralt und die Erfindung ist uralt. Also mindestens seit ĂŒber 5000 Jahren gibt es eine Hochzeits-Kutsche. 

SPRECHERIN

TatsĂ€chlich scheinen in den frĂŒhen Kulturen der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit die einfachen, schwer lenkbaren KastenwĂ€gen den AnsprĂŒchen lange genĂŒgt zu haben. StĂ€ndige kleine Innovationen, wie die Erfindung des Speichenrads, machten die großen vierrĂ€drigen doppelachsigen WĂ€gen immer stabiler und belastbarer. Doch es sollte noch weitere 1.000 Jahre dauern, bis – wohl ebenfalls fast zeitgleich in Ost-Europa, in den Steppenkulturen am Ural und in Mesopotamien – nach der Domestizierung des Pferdes der beweglich, lenkbare und fĂŒr damals unglaublich schnelle zweirĂ€drige Streitwagen erfunden wurde. Dann hatte es mit der friedlichen Nutzung der Erfindung bald ein Ende.

Musik 8

"The Blinding Sun" - Album: Babel - Komponist: Gustavo Santaolalla - LĂ€nge: 0'58

SPRECHER

Der Streitwagen sollte ab 2.100 vor Christus – wahrscheinlich ausgehend von der Sintaschta-Kultur am Ural – eine völlig andere KriegsfĂŒhrung etablieren, die sich schnell verbreitete. Er wird zum Fahrzeug der Krieger-Eliten, Herrschaft wird militarisiert. Streitwagen-Armeen wurden aufgestellt, fahrbares KriegsgerĂ€t in großer Menge produziert. In Indien rekrutierte man Söldner-Truppen mit StreitwĂ€gen aus Vorderasien, die sich bald auf dem Subkontinent festsetzten und eigene Reiche bildeten. In China fĂŒhrte der Besitz des neuen KriegsgerĂ€ts zum Dynastie-Wechsel. Lokal begann so etwas wie ein frĂŒher RĂŒstungswettlauf. Im Nahen Osten entstanden und vergingen Großreiche. Und in gigantischen Schlachten stießen erstmals mĂ€chtige Armeen hochgerĂŒstet aufeinander, erzĂ€hlt der Historiker und Linguist Harald Haarmann.

ZUSPIELUNG    Wort 7 (Harald Haarmann)

Der Streitwagen hat eine entsprechende Revolution in der Waffentechnik ausgelöst. Die frĂŒhen Gruppen, die den Streitwagen verwendet haben und eingesetzt haben, haben wohl erkannt, dass wenn sie die einsetzen können, dann haben Sie Vorteile. Und das waren die Mitanni, Indo-EuropĂ€er im Nahen Osten, und die haben sich im Nu ein regionales Reich aufgebaut. Und das waren dann die Indo-EuropĂ€er in Kleinasien und diejenigen, die nach Nordwest-Indien eingewandert sind. Genauso im Nahem Osten wurde das bald aufgegriffen. Und dann waren die Ägypter in der Lage, Krieg zu fĂŒhren mit den Hethitern. Das waren ja GroßmĂ€chte. Bei der Schlacht von Kadesch 1274 vor unserer Zeitrechnung, da mĂŒssen zwischen vier- und fĂŒnftausend Streitwagen im Einsatz gewesen sein. Also richtig eine Armada, die dann bei KĂ€mpfen direkt aufeinandergetroffen sind. Das war also die erste große Schlacht. 

SPRECHER

Der frĂŒhe RĂŒstungswahn auf RĂ€dern nahm dann teils skurrile ZĂŒge an. So wurde das legendĂ€re Trojanische Pferd mit verborgenen KĂ€mpfern in seinem Bauch auf RĂ€dern in die jahrelang belagerte Stadt gerollt und besiegelte den Untergang Trojas. Ebenso sollten in den antiken Kriegen riesige Rammböcke auf RĂ€dern Stadttore brechen. Und gigantische bis zu 40 Meter hohe BelagerungstĂŒrme auf RĂ€dern halfen Angreifern stĂ€dtische Schutzmauern zu ĂŒberwinden. Das Rad war zum unverzichtbaren Werkzeug der KriegsfĂŒhrung geworden. Um seine Nutzung rankten sich Heldengeschichten und Mythen.

Musik 9

"Titel 07" - Komponist: Ernst Reijseger - Album: Gazing point - LĂ€nge: 0'12

SPRECHERIN

Die immense mythische und sakrale Bedeutung des Wagens drĂŒckte sich auch darin aus, dass das GefĂ€hrt – vom griechischen Gott Dyonisos an den Himmel gehoben – zum Sternbild wurde. 

Musik 9

"Shabaka" - Album: Music of Ancient Egypt - Komponist: Michael Atherton - LĂ€nge: 0'38

SPRECHERIN

Die Faszination des drehenden Runds aber reichte noch weiter zurĂŒck. In der chinesischen Tradition gab es die Vorstellung des Weltenrads schon lange bevor im Reich der Mitte WĂ€gen fuhren. In Europas Norden entstand 1.400 vor Christus der ‚Sonnenwagen von Trundholm‘ – einer bronzenen Scheibe, die von zwei Pferden ĂŒber den Himmel gezogen wurde. So wurde das RĂ€tsel des leuchtenden Sonnen-Sterns erklĂ€rt, der tĂ€glich ĂŒber das Fundament zog. Bei den alten Griechen war Helios als Sonnengott der Wagenlenker. Auch andere Weltreligionen kannten das Bild seit Urzeiten, berichtet die PrĂ€historikerin Carola Metzner-Nebelsick von der UniversitĂ€t MĂŒnchen 
 (LMU)

ZUSPIELUNG Wort 8 (Carola Metzner-Nebelsick) 

Also ich denke da an den vedischen Hinduismus, das Epos des Rigveda. Dort wissen wir beispielsweise, dass die Sonne durch den Gott Suriya symbolisiert wurde, und der wird auf einem Streitwagen fahrend, von mehreren Pferden gezogen, visualisiert. Auch der griechische Gott Helios, der Sonnen-Gott fĂ€hrt mit einem von 4 Pferden gezogenen Wagen ĂŒber das Firmament. Rad-Symbole sind gleichermaßen auch religiöse Symbole, das geht so ein bisschen einher auch mit der Symbolik der Sonne, die man zumindest hier in Mitteleuropa durch RĂ€der symbolisiert begreift.

Musik 10

Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und AusfĂŒhrender: 

Stephan Micus - LĂ€nge 0'33

SPRECHERIN

Es ist ein komplexes Gebilde aus Gedanken, Geschichten und Objekten, dass sich seit vielleicht siebentausend Jahren um das Rad und den Wagen rankt. Kaum eine andere Erfindung in der Geschichte der Menschheit hat eine so lange Geschichte fortlaufender Innovationen und Folgen. Denn aus dem Rad entstand ĂŒber die Zeiten nicht nur eine Millionen Kilometer umfassende Infrastruktur aus Straßen und Gleisen, sondern auch globaler Verkehr und Handel, Kulturaustausch und globales Reisen. 

Musik 11

Titel: "Futile Arad Search" - AusfĂŒhrender: Muslimgauze - Album: Blue Mosque - Komponist: Bryn Jones - LĂ€nge: 0'43

SPRECHER

Die Erfindung fĂŒhrte auch zu ganzen Zeitaltern, die von rad- und zahnrad-betriebenen Maschinen geprĂ€gt waren, zur Energiegewinnung mit Wind- und WasserrĂ€dern, zur Taktung der Zeit ĂŒber ZahnrĂ€der in Uhren. Und ließen – gerade in den letzten hundert Jahren – aus einer urzeitlichen Erfindung eine hoch-industrialisierte Weltgesellschaft entstehen, deren zentrales Merkmal eine nie dagewesene MobilitĂ€t ist und bleibt, so der Radforscher, Autorad-Entwickler und Autor Norbert Oberschmidt 


ZUSPIELUNG Wort 9  (Norbert Oberschmidt)   

Alles, was rollbar gemacht werden wollte, hat man rollbar gemacht. Die Bedeutung des Rates ist unbestritten einer der wichtigsten Erfindungen der Menschheit. Was muss das fĂŒr ein GefĂŒhl gewesen sein, dieses Ziehen und Reiben durch einen Rollen ersetzen zu können? Und dieser Effekt, der ist wohl der markante fĂŒr das Rad ĂŒberhaupt: Reibung ist ja immer eine unschöne Sache. Rollen ist eine ‚runde Sache‘. So wie das Rad eben rund ist!Â