radioWissen - Bayern 2   /     Fantasie - Das oft ungenutzte Potenzial

Description

Wer ĂŒber eine blĂŒhende Fantasie verfĂŒgt, ist in der Lage, allein in seiner Vorstellungskraft Bilder oder Szenarien zu erzeugen. WĂ€hrend Kinder im Spiel stĂ€ndig fantasieren, wird bei Erwachsenen eine zu schillernde Fantasie allzu oft als verrĂŒckt abgetan. Dabei liegt in der Fantasie ein ungeheurer Schatz. Die lebendige Vorstellungskraft kann Raum öffnen fĂŒr neue, ungewöhnliche Ideen öffnen. Autorin: Karin Lamsfuß

Subtitle
Duration
00:23:39
Publishing date
2023-11-14 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/fantasie-das-oft-ungenutzte-potenzial/2080218
Contributors
  Karin Lamsfuß
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2080218/c/feed/fantasie-das-oft-ungenutzte-potenzial.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Wer ĂŒber eine blĂŒhende Fantasie verfĂŒgt, ist in der Lage, allein in seiner Vorstellungskraft Bilder oder Szenarien zu erzeugen. WĂ€hrend Kinder im Spiel stĂ€ndig fantasieren, wird bei Erwachsenen eine zu schillernde Fantasie allzu oft als verrĂŒckt abgetan. Dabei liegt in der Fantasie ein ungeheurer Schatz. Die lebendige Vorstellungskraft kann Raum öffnen fĂŒr neue, ungewöhnliche Ideen öffnen. Autorin: Karin Lamsfuß

Credits
Autor/in dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Heiko Ernst, Psychologe; Norbert Groeben, Psychologie-Professor Uni Heidelberg;
Main Huong Nguyen, Psychotherapeutin und Achtsamkeitstrainerin; Gisa Klönne, Schriftstellerin;
Johannes Golchert, Psychologe

Linktipps:

SĂŒchtig nach Alles | Podcast | ARD Audiothek:
Ob Substanzen wie Kokain und Ecstasy, VerhaltenssĂŒchte wie GlĂŒcksspiel und Shopping oder die natĂŒrlichste Droge der Welt: die Liebe. In "SĂŒchtig nach Alles" begibt sich Reporter Hubertus Koch auf eine Reise durch verschiedene SĂŒchte.
ZUM PODCAST

Dissertation von Johannes Golchert ĂŒber das gedankliche Abschweifen:
EXTERNER LINK | https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/9395/diss_j.golchert.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Kurzzusammenfassung (englisch) zu a „Wandering mind is an unhappy mind“:
EXTERNER LINK | https://greatergood.berkeley.edu/images/uploads/A_Wandering_Mind_Is_an_Unhappy_Mind.pdf

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
WIE WIR TICKEN - EUER PSYCHOLOGIE-PODCAST

Literaturtipps:

Heiko Ernst: Innenwelten: Warum TagtrÀume uns kreativer, mutiger und gelassener machen. Klett Cotta 2011

Luisa Francia BlĂŒhende Fantasie: Die eigene Lebensvision gestalten, Knaur 2018

FĂŒr Eltern: 
Petra Samarah: Fantasie- und Körperreisen mit Kindern: 57 Imaginationen mit Gestaltungsmöglichkeiten Semnos Verlag, 2013

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ErzÀhlerin: 

Ein schmaler, unbefestigter Pfad schlĂ€ngelt sich immer tiefer in das Dickicht des Waldes hinein. Zugewuchert von Efeu und Farnen fĂŒhrt der Weg in verborgene Ecken, wo Blumen in den buntesten Farben blĂŒhen und glitzernde BĂ€che leise durchs Unterholz mĂ€andern. Es ist die Heimat der Elfen, der Trolle und der Pflanzenwesen. Schon seit Jahrtausenden leben sie, von den Menschen unbemerkt, in dem geheimnisvollen Zauberwald. Nur wer seinen Geist öffnet und die Fantasie fließen lĂ€sst, kann sie sehen. 

Sprecher: 

Eine Reise in das Reich der Fantasie. Wir reisen alle dorthin. UnzÀhlige Male am Tag. Fast 50% der wachen Zeit verbringt der Mensch mit TagtrÀumen, ergab eine Studie der Harvard University aus dem Jahr 2010.

FrĂŒher ging man davon aus: Wenn das Gehirn nicht beschĂ€ftigt ist, dann verweilt es im Ruhemodus. Das ist falsch. Heute weiß man: Wenn das Gehirn nicht konzentriert denkt, dann geht es gedanklich auf Reisen.

Musik: Z8033060122 New hope 0‘42

ErzÀhlerin: 

Der TagtrĂ€umer reist an magische Orte, in heile Welten, an den Traumstrand vom letzten Urlaub. Oder sie spielen in der Fantasie durch, wie das erste Date mit der attraktiven Kollegin oder dem attraktiven Kollegen verlaufen könnte. Aber auch unangenehme Dinge werden in der Fantasie durchdacht: etwa, dass das Finanzamt bald Stress machen könnte. Oder wie schrecklich die nĂ€chste PrĂŒfung verlaufen wird.

Die Fantasie hat ein riesiges Spektrum: In ihr reisen wir in entfernte Galaxien. Oder planen - ganz handfest – die nĂ€chste große Reise.

O-Ton 1 Main Huong Nguyen (0‘13“): 

Es macht uns Menschen ja auch aus, dass wir die FĂ€higkeit haben, Dinge zu antizipieren, Dinge auszumalen, wir können dadurch viele Dinge planen, wir haben eine Fantasie, die uns unterstĂŒtzen kann – das ist eine ganz große Ressource.

Sprecher: 


 sagt die Psychotherapeutin Dr. Main Huong Nguyen. (s. Aussprache-Audio) 

Doch was ist Fantasie eigentlich?

Musik: Z8026958138   Her dream  0‘35

Sprecher: 

Fantasie – abstammend vom griechischen Wort Phantasia - heißt zunĂ€chst nichts anderes als „Vorstellung“ oder „Traumgesicht“. WĂ€hrend die KreativitĂ€t meist eine Absicht hat, nĂ€mlich etwas zu erschaffen, etwa eine Lösung fĂŒr ein Problem, wabert die Fantasie meist absichtslos umher. 

Fantasie bedeutet gedankliches Abschweifen, Erschaffen von Gegenwelten, Filme im Kopfkino, TagtrÀumen. 

O-Ton 2 Heiko Ernst (0‘14“): 

TagtrĂ€ume sind schon per se tröstlich, beruhigend, angenehm, ein Genuss an sich schon, also man kann auch TagtrĂ€ume genießen, so wie man einen Film genießt, ich lieg irgendwo am Stand, es ist alles easy, alles in Ordnung 


Sprecher: 

Heiko Ernst, Psychologe. 

In der Fantasie erklimmen wir die höchsten Gipfel, sind die Party-Königin, gewinnen Millionen im Lotto und bleiben ewig schön und faltenfrei. Doch wofĂŒr ist das gut? Das sind doch alles nur Hirngespinste! Nein, sagt der Psychologe Heiko Ernst. Fantasieren und TagtrĂ€ume haben wichtige Funktionen:

O-Ton 3 Heiko Ernst (0‘08“) 

Also man trÀumt diesen Tagtraum, um auch andere Gedanken abzublocken oder um sich in eine Stimmung zu bringen, in der man ruhiger wird.

Musik: Z8029880107 Premium 0‘32

Sprecher: 

Durch positive Fantasien wird das Leben entspannter, bunter und abwechslungsreicher. Fantasievolle Menschen können sich gut in andere hineinversetzen. Sie sind offen, neugierig und flexibel. In der Berufswelt fĂŒhrt Fantasie zu Fortschritt durch bislang ungeahnte Ideen.

Wenn Fantasie so viele positive Effekte hat, stellt sich die Frage: Wie kann man diese Quelle anzapfen?

O-Ton 4 Reportage Gisa Klönne (0‘15“):  

Ja, der HĂ€ngesessel
. Ich hab ein Dacharbeitszimmer, und dann hab ich mir hier einen HĂ€ngesessel gekauft. 

ErzÀhlerin: 

Gisa Klönne auf der Suche nach der Fantasie. Die Schriftstellerin hat bereits sechs Krimis und drei Romane geschrieben. Gerade sitzt sie an ihrem vierten. Gisa Klönne braucht die Fantasie – wie alle KĂŒnstler und Kreativen - wie die Luft zum Atmen. Auch wenn am Anfang immer ein grobes GerĂŒst steht - und natĂŒrlich viel Recherche - folgt dann die Phase der Fantasie. In dieser Phase erweckt sie ihre Romanwelt zum Leben: Sie malt sich Orte aus, entwirft Charaktere und Handlungen und erschafft Stimmungen. 

Das klappt leider nicht auf Knopfdruck. Doch sie hat so ihre Techniken, die Fantasie zum Fließen zu bringen. Gerade schwingt sie in ihrem lindgrĂŒnen HĂ€ngesessel, der an der Decke befestigt ist. 

O-Ton 5 Reportage Gisa Klönne (0‘26“):  

Das ist ja so wie ein Baby in der Wiege, ich schaukele dann hier, ich hab hier immer neben mir inspirierende LektĂŒre, NotizbĂŒcher liegen, und morgens und auch, wenn ich nicht weiterkommen, mache ich hier ne Pause, schwinge so, gucke auf mein BĂŒcherregal mit den Buchtiteln, gucke in die Wolken aus dem Dachfenster und schreibe vor mich hin. Ich schreibe dann z.B. schwingend im HĂ€ngesessel, und dann schreibe ich, was mir einfĂ€llt. Mit der Hand. Ganz wichtig! 

ErzÀhlerin: 

So schwingt sie sanft hin und her, in der Hand einen Notizblock und einen FĂŒller mit grĂŒner Tinte. Das muss sein. 

Z8032962103 Aufbruch (reduced 2) 0‘15

Sprecher: 

Experten gehen davon aus, dass beim Schreiben mit der Hand die visuell-rĂ€umlichen FĂ€higkeiten gefördert werden, also das, was fĂŒr die Vorstellungskraft essenziell ist.

O-Ton 6 Gisa Klönne (0‘22“): 

Die ersten guten Ideen kommen immer per Hand. Es ist unmittelbarer, nÀher an mir dran, also mehr an den Quellen, die in die KreativitÀt gehen, an das Unbewusste, das Anzapfen, d.h. ich schreibe weite Passagen oder auch wenn ich nachts aufschrecke, weil mir irgendeine Idee kommt, mit der Hand, und wenn ich dann an einem Roman bin, dann tippe ich sie ab.

Sprecher: 

Der Psychologieprofessor Norbert Groeben nennt diesen Zustand, in dem die Fantasie sich zeigen darf, „defokussierte Konzentration“.

O-Ton 7 Groeben (0‘28“): 

Man kann es auch „schwebende Aufmerksamkeit“ nennen. Diese schwebende Aufmerksamkeit, die gilt es zu erreichen, dafĂŒr gibt es eine Menge an Möglichkeiten: zum Beispiel manche Leute haben diese schwebende Aufmerksamkeit beim Musikhören. Andere unter der Dusche. Weil da diese körperliche Entspannung da ist, die den Geist auch frei macht, und zugleich aber der Geist immer noch schön arbeiten kann. Vital ist.

Sprecher: 

Diese schwebende Aufmerksamkeit kann auch erlebt werden morgens vor dem Aufwachen. Sozusagen auf dem Weg aus den TrÀumen in die RealitÀt. 

O-Ton 8 Gisa Klönne (0‘38“):  

Als Autorin geht bei mir immer parallel ein Film, in dem ich Geschichten sehe, Bilder, das kann dann z.B. auch sein, wenn ich morgens aufwache, wenn ich sehr in einem Roman bin und denke als erstes: Wie geht’s jetzt dieser Figur? Was macht die als nĂ€chstes? Und die sind fĂŒr mich so real da wie die Menschen in meinem Umfeld oder mein Mann!

Und der kennt das dann schon, wenn ich dann runterkomme in die KĂŒche, dann sag ich: „Kann nicht! Schweigen!“ weil ich dann einfach diesen Figuren und dieser Geschichte in meinem Kopf erst mal zuhören will! Ich lass die einfach mal wie so ein Kopfkino ablaufen!

Musik: Z8024281109 Joy research (no drums) 0‘53

Sprecher: 

Ob Traum, Tagtraum, gedankliches Umherwabern, fantasievolles Abgleiten – das findet im Gehirn im so genannten „Default Mode Network“ statt. Im Ruhe-Zustands-Netzwerk.

Zu diesem Netzwerk gehören mehrere miteinander verbundene Hirnregionen, darunter unter anderem der mediale prĂ€frontale Kortex – zustĂ€ndig fĂŒr Zukunftsplanungen - und der Hippocampus, der „Arbeitsspeicher“ des Gehirns. Dieses Netzwerk ist – so Forschungsergebnisse des Dartmouth College in New Hampshire – bei Menschen in kreativen Berufen besonders aktiv. Gerade wenn es darum geht, sich wirklich Fantastisches und Utopisches fern der RealitĂ€t vorzustellen. 

Musik Ende

Sprecher: 

FrĂŒher dachte man, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Diejenigen, die Kontrolle ĂŒber ihre Gedanken haben und die, die abschweifen, so der Psychologe Dr. Johannes Golchert, der am Max-Planck-Institut fĂŒr Kognitions- und Neurowissenschaften ĂŒber TagtrĂ€ume geforscht hat: 

O-Ton 9 Golchert (0‘16“): 

Heute weiß man eigentlich, dass man das differenzierter betrachten muss, und dass es neben diesem spontanen Gedankenabschweifen, was man immer wieder erlebt, noch ne weitere Form gibt: Das ist eher das bewusstere Abschweifen, ein willkĂŒrlicher Prozess, fĂŒr den ich mich entscheide und dem dann auch nachgehe 


Atmo 15‘30“ Gong

O-Ton 10 Klönne (0‘19“): 

Das sind beides tibetische Klangschalen, diese hier kann bis zu eine Minute nachhallen 
 (geht weiter)

ErzÀhlerin: 

Im Arbeitszimmer der Schriftstellerin Gisa Klönne liegen ein flauschiger Teppich und ein Sitzkissen auf dem Boden in der Mitte des Raums. Mit dem Gong der Klangschale bringt sie sich in einen Zustand, der ihren Geist fĂŒr EinfĂ€lle öffnet. 

O-Ton 11 Klönne (0‘39“): 

Man muss quasi einen Teil des Bewussten ausschalten und sich verbinden, erden und auf eine andere Ebene kommen. Und öffnen. Auf irgendeine Weise öffnen fĂŒr das, was wir nicht erklĂ€ren können, was aber trotzdem da ist. Und zuhören, ich sage immer: Es ist ganz viel zuhören bei der Fantasie, die ich brauche, um einen Roman zu schreiben.

Ich setze was vor, und dann lasse ich mich auf ein Thema ein, und dann muss ich auch teilweise die Geduld haben zu hören, was da von irgendwoher diktiert wird, was auf mich zufliegt
 

Musik: Z8032962139 Immer mehr (reduced 2)  0‘21

ErzÀhlerin: 

Was nie funktioniere, sagt sie, sei mit einem konkreten Auftrag in die Meditation zu gehen. Und trotzdem könne es sein, dass sie etwas „geschenkt bekommt“, wenn der Kopf leer wird. Einen Einfall, eine gedankliche Skizze, eine spannende Wendung ihres nĂ€chsten Romans.

Dabei aber, so die Schriftstellerin, sei es ihr wichtig, nicht ziellos vor sich herzutrĂ€umen, die Gedanken vor sich hinwabern zu lassen, sondern das, was sich zeigt, sofort „mit dem Lasso“ einzufangen. Am besten schriftlich. 

Sie muss also switchen: von der Fantasie in die harte RealitĂ€t. Ideen, Bilder, Gedanken zunĂ€chst in der Fantasie entstehen zu lassen, sie dann aber sofort mit dem wachen, klaren Geist einzufangen. Sonst verflĂŒchtigen sie sich.

O-Ton 12 Klönne (0‘22“): 

Man muss immer zweigeteilt sein als Autorin: Das Wichtigste ist erst mal dieses Intuitive, aber gleichzeitig muss man, um die Geschichte zu vollenden, sich komplett distanzieren und natĂŒrlich Erfahrung haben: Wie baue ich eine Geschichte auf, Spannungsbogen usw. aber um ĂŒberhaupt eine Geschichte zu erfinden, um zu schreiben, um diesen Flow zu haben, muss ich das alles wieder zur Seite drĂ€ngen. Also man ist immer ein Zwitter.

Musik: Z8019017112 Green planet red. 0‘33 

Sprecher: 

Gedanklich ein Eisbad nehmen und dabei bibbern. Den trockenen, pfeifenden WĂŒstenwind wie einen Lufthauch auf der Haut fĂŒhlen. Den köstlichen Geschmack einer sĂŒĂŸsauren Maracuja auf der Zunge spĂŒren. Die Harvard-Studie ĂŒber das TagtrĂ€umen ergab: Die selben Hirnareale sind aktiv – ganz egal, ob wir etwas real erleben oder es uns nur in der Fantasie vorstellen.

NatĂŒrlich gibt es Menschen, die sich etwas schwerer tun als andere auf gedankliche Reise zu gehen. Ihnen, so die Psychotherapeutin und Achtsamkeitstrainerin Main Huong Nguyen, könnte es helfen, die Sinne zu trainieren. Zum Beispiel durch Achtsamkeit.

O-Ton 13 Main Huong Nguyen (0‘20“): 

Weil in der Achtsamkeit trainieren wir immer wieder, das Bewusstsein auf alles, was in uns und um uns herum geschieht, zu lenken: Was sehen wir gerade? Was hören wir? Was riechen wir? D.h. wenn wir Achtsamkeit trainieren und immer wieder beobachten, dann entwickeln wir einen Fundus an Beobachtungen, auf die wir in der Imagination oder bei der Visualisierung zurĂŒckgreifen.  

Musik: Z8033158105 Dream for reality  0‘34

Sprecher: 

Die Fantasie schafft auch Gegenwelten. Vor allem dann, wenn die RealitĂ€t zu grau ist. SchĂŒler beamen sich einfach weg: vom langweiligen Matheunterricht auf den Ponyhof. Erwachsene vielleicht vom langweiligen Meeting an den weißen Sandstrand Balis. Und wĂ€hrend man in Geiste einen köstlichen Cocktail serviert bekommt, will die Chefin die letzten Zahlen wissen. Opppps! Ertappt!

Musik: Z8021443122 Magic rain (reduziert)  1‘02

In magische KlÀnge einbetten: 

Anmerkung: langer Text. Sprecher kann etwa in der Mitte der Geschichte darĂŒber gelegt werden. SpĂ€testens dann, wenn’s langatmig wird.

ErzÀhlerin: 

Tief in den verschlungenen WÀldern liegt ein verzauberter Bergsee, von Stille und Geheimnis umgeben. Seine OberflÀche schimmert wie ein silbriger Spiegel, der die Wunder der umgebenden Natur widerspiegelt. 

Plötzlich erhebt sich eine geheimnisvolle Nebelschicht aus dem See empor, winzige Lichter tauchen auf, die tief unten im klaren Wasser leuchten. Auf dem Grund des magischen Bergsees erscheint eine zauberhafte Welt: glitzernde Pflanzen, die in leuchtenden Farben erstrahlen, und kleine Kreaturen.

Unterhalb des Gesteins liegt ein altes, von Moos ĂŒberwuchertes Tor, das den Eingang zu einem vergessenen Reich markiert. Wer durch das Tor schreitet, begegnet flĂŒsternden Wassergeistern, die ihn mit Geschichten aus lĂ€ngst vergangenen Zeiten verzaubern. In einem schimmernden Amphitheater, gebaut aus Kristallen, tanzen bezaubernde Wassernymphen 
..

Sprecher: 

Solche Fantasiewelten haben fĂŒr viele Menschen etwas sehr Anziehendes, Magisches. Diese Welten sprengen Grenzen. Sie sind unendlich, und alles ist in ihnen möglich. Fantasiewelten spenden ein wenig Zauber in einer hochtechnisierten, lĂ€ngst entzauberten Welt. 

Die Welten voller Feen, Elfen, Zwerge und Trolle haben etwas Magisches. Fantastische Werke wie „Herr der Ringe“ oder Der kleine Hobbit“ begeistern viele Menschen.

Doch Fantasiereisen haben auch im Alltag einen ganz praktischen Nutzen: Gedankliches Durchspielen kann eine gute Vorbereitung fĂŒr schwierige Situationen sein, sagt die Psychotherapeutin Main Huong Nguyen.

O-Ton 14 Main Huong Nguyen (0‘24“)

Wenn wir fĂŒr ne PrĂŒfung lernen, sollten wir die PrĂŒfungssituation möglichst nachgestalten: Uns an einen Tisch setzen, wenn das ne Multiple Choice-Klausur ist, das auch nachahmen und uns auch vorstellen, dass wir da erfolgreich reingehen und rausgehen werden, dass wir entspannt sind in dieser Situation und nicht mit diesem katastrophisierenden Bild „oh Gott, ich werde ein Blackout bekommen, mir wird nichts einfallen“ – das können wir auch auf unseren Lebensalltag anwenden.

Sprecher: 

Alle VerÀnderungen wurden zunÀchst einmal in der Fantasie geboren. Erfindungen, Kunstwerke oder neue geistige Strömungen. 

Fantasie ist der Motor fĂŒr Weiterentwicklung. 

Sie ist bei Menschen sicherlich unterschiedlich stark ausgeprĂ€gt. Ein bisschen aber hat jeder. Bis auf die geschĂ€tzten drei bis vier Prozent, die unter einer sogenannten Afantasie leiden. Das heißt: ihnen fehlt die bildliche Vorstellungskraft: Sie können weder das Gesicht eines Freundes noch ihr Wohnzimmer visualisieren. Warum das so ist, darĂŒber rĂ€tselt die Forschung noch.

Fest steht aber: Der Grundstein fĂŒr die Fantasie wird schon sehr frĂŒh gelegt, so Psychologe Heike Ernst:

O-Ton 15 Heiko Ernst (0‘36“): 

Das Spiel hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Tagtraum, auch da wird die RealitĂ€t ja umgedeutet. Die RealitĂ€t wird verĂ€ndert, verfeinert, verbessert, das Kind macht aus dem Stock ein Schwert, aus dem Papierstreifen eine Krone, und es fantasiert sich aus einem Kochtopf eine Trommel – also es verĂ€ndert die RealitĂ€t im Spiel. Und das ist sozusagen die VorĂŒbung fĂŒr spĂ€ter auch erwachsenes TragtrĂ€umen, fĂŒr Fantasieren. Wir brauchen diese Fantasien, wir mĂŒssen fĂ€hig sein, die RealitĂ€t im Kopf, in unserer Innenwelt immer wieder zu verĂ€ndern.

Musik: Z803615140 Mysterious animal play  0‘27

Sprecher: 

Eltern können die Fantasie ihrer Kinder fördern, indem sie sie ermutigen, rumzuspinnen. Die Erlaubnis zum TrĂ€umen geben, zum realitĂ€ts-entrĂŒckten Spielen. 

ErzÀhlerin: 

Auch die Schriftstellerin Gisa Klönne erinnert sich, dass ihre gesamte Kindheit von AusflĂŒgen in fantastische Welten geprĂ€gt war.

O-Ton 16 Klönne (0‘42“): 

Ich hab Schreiben gespielt. Ich fand Geschichten so toll, dann habe ich mit meinem lila Buntstift in alte Taschenkalender meiner Eltern so Schnörkel reingemacht und hab gespielt ‚ich schreibe‘. Ich wusste sehr frĂŒh, dass ich das will.  Und dann war ich ganz schnell dieses Kind, was man jede Woche mit dem Bibliotheksausweis in die Bibliothek geschickt hat: zehn BĂŒcher abgeben, zehn BĂŒcher holen, ich hab mich quer durch alles gelesen. 

ErzÀhlerin: 

Gegenwelten erschaffen in der Fantasie: Das macht sich sogar die moderne Psychotherapie bei Trauma und Depression zunutze. Mit der Methode des „Imagery Rescripting“:

O-Ton 17 Main Huong Nguyen (0‘47“) 

Und das funktioniert so, dass der Patient gebeten wird, in der Imagination in diese belastende Situation zurĂŒckzugehen in der Biografie. HĂ€ufig sind das Kindheitserinnerungen, aber es kann natĂŒrlich auch ein Trauma im Erwachsenenalter sein. Und dann, wenn man an dem Punkt ist, wo die Emotion sehr stark aktiviert wurde, fragt man: Was ist das BedĂŒrfnis des Patienten in dieser Situation. Oft ist es z.B. Sicherheit oder dass man rauskommt aus dieser Situation, und dann in diesem Moment kommt dann dieser Patient als erwachsene Person rein oder eine andere Hilfsperson. Und dann wird quasi die Situation neu umschrieben. Da wird z.B. das Kind aus dieser gefĂ€hrlichen Situation rausgenommen oder der TĂ€ter oder die TĂ€terin wird entmachtet von dieser Hilfsperson; es hört sich vielleicht so ein bisschen crazy an, aber es funktioniert so gut, und das Ziel bei dieser Behandlung ist die emotionale Neubewertung. 

Sprecher: 

Hat Fantasie also nur Sonnenseiten? Ist sie nur kraftvolle Ressource? 

Musik: Z8014761145 Daily desolation   0‘30

Nein. Die Fantasie birgt durchaus Gefahren. Etwa dann, wenn sie finster und destruktiv wird oder gar wahnhafte ZĂŒge annimmt.

Ob sich die Fantasiewelten des Internets, vor allem gewaltvolle Videospiele auf die Entwicklung junger Menschen auswirken, wird kontrovers diskutiert. Klar ist aber, dass ein komplettes Abtauchen in virtuelle Welten nicht förderlich ist, so Heiko Ernst. 

O-Ton 18 Heiko Ernst (0‘14“): 

Das Kriterium ist einfach die RealitĂ€tstĂŒchtigkeit, also die BewĂ€ltigung des Alltags, also wenn jemand wirklich versumpft in solchen Traum- und Fantasiewelten, dann ist es Zeit, Hilfe zu suchen, wobei der Betroffene das ja meist gar nicht so empfindet. 

Sprecher: 

Das nennen Experten dann „maladaptives TagtrĂ€umen“. 

Darunter versteht man eine Form der Sucht, bei der sich Betroffene stundenlang in Fantasiewelten verlieren und soziale Kontakte vermeiden. Eine krankhafte Form der Fantasie.

Der Psychologe Heiko Ernst befĂŒrchtet zudem, dass die eigene FantasiefĂ€higkeit auf der Strecke bleibt. 

O-Ton 19 Heiko Ernst (0‘46“): 

Weil die wirklich unterminiert wird, wenn wir uns nur noch beliefern lassen durch fremde, vorgefertigte Fantasien, vielleicht auch kranke Fantasien von anderen, die wir ĂŒbernehmen: Wir sehen Filme ĂŒber Massenmörder, wir schauen Filme ĂŒber Massenvernichtungen, wir konsumieren Horrorfilme, Splattermovies, ... die Medienwelt ist ja voll von Dingen, ĂŒber die man stĂ€ndig diskutiert, ob man sie nicht unterdrĂŒcken soll, also die Inhalte sind sozusagen veröffentlichte schlechte TagtrĂ€ume anderer, die wir konsumieren wollen und die wir zum Teil ja auch gerne konsumieren wollen, es ist diese Faszination des Bösen natĂŒrlich auch, und wenn man sich permanent an diesen Fantasien aus der Konserve aus fremden TagtrĂ€umen bedient, bleibt eben diese eigene FantasiefĂ€higkeit unterentwickelt, und die anderen dominieren.

Sprecher: 

Die Forscher der Harvard-Studie ĂŒber das TagtrĂ€umen weisen noch auf einen weiteren negativen Aspekt hin. Mit Hilfe eines Handyprogramms befragten sie fortlaufend 2.200 Studienteilnehmer, woran sie gerade denken und wie sie sich beim Gedankenabschweifen fĂŒhlen. Titel der Studie ist bezeichnenderweise „A wandering mind is an unhappy mind“. Übersetzt: Ein umherschweifender Geist ist ein unglĂŒcklicher Geist. 

Musik: C1566350119 Every man has his own sorrow 0‘15

Ein zentrales Ergebnis der Studie war: Das grĂŒbelnde und sorgenvolle Nachdenken darĂŒber, was in der Zukunft sein könnte oder in der Vergangenheit besser gewesen wĂ€re, kann auf Dauer unglĂŒcklich machen. 

Musik: Z8035049119 Lake views  0‘20

GlĂŒcklich mache vor allem der gegenwĂ€rtige Moment – sofern er schön ist. Sex, GesprĂ€che mit anderen Menschen, Spielen, Musikhören und Essen waren laut der Studie solch schöne Momente im Hier und Jetzt. 

Musik Ende

Sprecher: 

Fantasie ist also wie ein Instrument, das tröstende, beglĂŒckende und beschwingende Melodien spielen kann. Und eben auch dĂŒstere, furchteinflĂ¶ĂŸende. Also gilt es, achtsam mit ihr umzugehen. Damit sie nicht anfĂ€ngt, ihr Eigenleben zu fĂŒhren. 

In jedem Fall aber ist die Fantasie eine kraftvolle und mÀchtige Ressource, die Grenzen sprengen und Neues schaffen kann. 

ErzÀhlerin: 

Schriftstellerin Gisa Klönne sitzt in ihrem kleinen Reihenhausgarten auf ihrem Lieblingsplatz: der hölzernen Eckbank. Es ist schon weit nach Mitternacht. Die Stadt wird ruhiger, nur noch das sanfte Rauschen des VerkehrslĂ€rms ist hörbar. Die FledermĂ€use fliegen ĂŒber ihren Kopf, im Laub raschelt ein Igel.

In Momenten wie diesem kann es sein, dass plötzlich eine neue Romanfigur um die Ecke kommt.

Musik: C1461890018 Relaxing water 0‘54

O-Ton 20 Gisa Klönne (0‘23“): 

Ich verbinde mich, wenn ich im Garten bin, und nach einer Zeit verbinde ich mich quasi mit der Erde, darĂŒber wieder mit mir, vielleicht auch Ursprung, also dem Leben an sich, und ĂŒber diese Verbindung mit etwas Höherem – weil ich mich dann auch mit allem verbunden fĂŒhle – und geerdet. Und dann ist das das Reich, wo dann manchmal die Fantasie hinkommt.Â