radioWissen - Bayern 2   /     Die Geschichte der Stadt - Urbanes Leben als Motor der Gesellschaft

Description

Wer es im Mittelalter in die Stadt schaffte, ließ die Leibeigenschaft des bäuerlichen Daseins zurück. Die Entwicklung der mitteleuropäischen Städte bedeutete eine massive Veränderung. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2016)

Subtitle
Duration
00:22:08
Publishing date
2024-01-02 09:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-geschichte-der-stadt-urbanes-leben-als-motor-der-gesellschaft/32518
Contributors
  Renate Eichmeier
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/32518/c/feed/die-geschichte-der-stadt-urbanes-leben-als-motor-der-gesellschaft.mp3
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Shownotes

Wer es im Mittelalter in die Stadt schaffte, ließ die Leibeigenschaft des bäuerlichen Daseins zurück. Die Entwicklung der mitteleuropäischen Städte bedeutete eine massive Veränderung. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2016)

Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen:Rahel Comtesse, Detlef Kügow
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Prof. Dr. Friedrich Lenger, Dr. Jörg Schwarz    

Literaturtipps:

Jörg Schwarz: Stadtluft macht frei. Leben in der mittelalterlichen Stadt. Darmstadt 2008.

Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLER: 

Es war um 1200 im norddeutschen Tiefland an der Senke zwischen dem Teltower und dem Barnimer Hügelland. Da reisten von Ferne Handelskaufleute an, die sich inmitten von Sümpfen und Wäldern niederließen. Auf den trockenen Sandflächen beiderseits des Flusses Spree gründeten sie zwei Kaufmannssiedlungen. Eine davon war Berlin, die andere Cölln. Die Siedler versprachen sich von der zentralen Lage einen prosperierenden Handel - und ihre Rechnung ging auf. Die Markgrafen von Brandenburg verliehen den beiden aufstrebenden Marktplätzen das Stadtrecht: Die Berliner und die Cöllner bekamen damit das Recht, Zölle zu erheben und durchreisende Händler zu verpflichten, ihre Waren auf den lokalen Märkten anzubieten, und sie bekamen auch das Recht auf Besitz und auf Selbstverwaltung ihrer Siedlungen - bürgerliche Freiheiten, die für die feudale Gesellschaft des Mittelalters revolutionär waren und für einen regelrechten Wirtschaftsboom sorgten: Es wurde investiert, gebaut, gehandelt. 

Musik aus

Innerhalb weniger Jahrzehnte stiegen die kleinen Siedlungen zu bedeutenden Handelsplätzen auf. Die Bürger kamen zu Wohlstand, planten den Ausbau ihrer Städte und legten neue Siedlungsgebiete an. Ansehnliche Bürgerhäuser prägten das Stadtbild, die Nikolai- und die Marienkirche und die Stadtmauer wurden gebaut und auch Rathäuser mit großen Markthallen, in denen Tuche aus Flandern gehandelt wurden, Heringe aus der Ostsee, Salz aus Halle … 

ERZÄHLERIN: 

In solchen und ähnlichen Verläufen liegt der Ursprung unserer mitteleuropäischer Städte und Metropolen. Gemeint sind damit nicht nur die pittoresken Altstadtviertel, die im Mittelalter gegründet wurden und die vielerorts zum Flanieren einladen. 

Gemeint ist damit auch das urbane Leben, das sich ab dem 12. Jahrhundert in Mitteleuropa entwickelte: 

MUSIK Opening 

mit florierenden Marktplätzen, beruflicher und gesellschaftlicher Vielfalt und den emanzipatorischen Bestrebungen ihrer Bewohner. Im 11. und 12. Jahrhundert soll sich die Zahl der Städte in Mitteleuropa verzehnfacht haben. Die von den Römern gegründeten Städte waren ab dem 4. Jahrhundert verfallen. Erst Jahrhunderte später kam das urbane Leben in Mitteleuropa wieder in Schwung, als landwirtschaftliche Neuerungen wie die Dreifelderwirtschaft für einen Überschuss an Lebensmitteln und damit für ein rapides Bevölkerungswachstum sorgten.

ERZÄHLER: 

Trier, Köln, Mainz, Regensburg, Augsburg … 

ERZÄHLERIN: 

Die alten römischen Städte erwachten zu neuem Leben. Und neue Städte wurden gegründet:

ERZÄHLER: 

Freiburg im Breisgau, Leipzig, Lübeck, Berlin und Cölln … 

ERZÄHLERIN:

In den Städten wurde gehandelt, gebaut, gezimmert, gegerbt, gebacken ... Die wachsende Bevölkerung musste versorgt, neuen Bedürfnissen Genüge getan werden. Neue Berufe entstanden. Neue gesellschaftliche Schichten etablierten sich. 

Musik aus

Urbanes Leben entwickelte sich, dynamisch und vielfältig, so der Münchner Historiker Jörg Schwarz.  

O-TON 1 Schwarz 26'': 

Dieses urbane Leben bildet sich im Laufe des Mittelalters, also doch eines sehr langen Zeitraumes aus, peu à peu. Es ist sicher am Anfang noch nicht so sehr spezialisiert und in sich differenziert und wird dann aber immer mit der wachsenden Bevölkerungszahl, mit der Notwendigkeit auch zu Individualisierung, Spezialisierung differenzierter. Immer mehr Handwerkszweige bilden sich aus, werden professioneller. 

MUSIK Glasperlenspiel 

ERZÄHLER:

Bäcker, Knochenhauer, Müller, Schlachter, Baumeister, Zimmermann, Steinmetz, Gerber … 

ERZÄHLERIN:

Handwerker und Händler waren die vorherrschenden Berufsgruppen. Die städtische Oberschicht entstand aus reichen Handelsfamilien und ehemaligen Ministerialen, die als Verwaltungsbeamte adeligen oder geistlichen Stadtherren gedient hatten. Sie war streng hierarchisch gegliedert, die feudale Gesellschaft des Mittelalters. 

Musik aus

An oberster Stelle stand der König als Stellvertreter Gottes, dann kamen Adel und Klerus. Die Bauern rangierten an unterster Stelle. Viele hatten den Status von Leibeigenen. Sie mussten Abgaben zahlen, Frondienste - heute würde man sagen: Zwangsarbeit – leisten, waren der Verfügungsgewalt ihrer adeligen oder geistlichen Grundherren weitgehend rechtlos ausgeliefert bis hin zur Bestimmung von persönlichen Belangen wie Aufenthaltsort und Heirat. Auch die Stadtbewohner unterstanden anfangs ihren adeligen oder geistlichen Stadtherren, denen der Grund gehörte, auf dem sich die Stadt befand. Doch die Beziehung zwischen den Bewohnern der Stadt und ihren Stadtherren war offen und dynamisch. 

Je mehr Handel und Wirtschaft florierten, desto größer wurde das Selbstbewusstsein der Stadtbewohner, desto fordernder ihre emanzipatorischen Bestrebungen und ihr Griff nach mehr Selbstbestimmung

MUSIK II. Goldrausch

ERZÄHLER:

Hohe Türme, mächtige Stadtmauern, einladende Tore: Schon von weitem konnten die Reisenden auf den holprigen Wegen und die geknechteten Bauern auf den Feldern den Ort ihrer Sehnsucht sehen, in der ein anderes freieres Leben lockte wie ein glänzender Schatz … Stolz und machtvoll standen die mittelalterlichen Städte in der Landschaft, stolz und mächtig auch grenzten sie sich vom bäuerlichen Umfeld ab, in dem Hörigkeit und Leibeigenschaft herrschten. 

Musik aus

O-TON 2 Schwarz 30'': 

Wenn wir ausgehen von Berichten, Beschreibungen des späten Mittelalters müssen das blühende Metropolen gewesen sein. Das müssen Städte aus Gold gewesen sein, die ganz emphatisch beschrieben worden sind. Aber wenn man genauer hinschaut, muss man nüchtern konstatieren: ein magischer Ort sah anders aus. Es war oftmals sehr sehr eng. Es war schmutzig. Die Leute haben den Unrat, den Müll auf die Straße geworfen. Es gab ständig Brände, große Gefährdung des Lebens. 

MUSIK    Zentrifuge  C1151260 Z00

ERZÄHLERIN:

Die eng aneinander stehenden Häuser waren aus Holz und Lehm, die Dächer meist mit Holzschindeln oder sogar nur mit Stroh bedeckt. Brände breiteten sich rasend schnell aus. Bei allen Vorteilen des Stadtlebens waren die Städte auch gefährlich und sie stanken. Die Straßen und Gassen waren nicht gepflastert, sie waren dreckig und bedeckt mit Müll und Fäkalien. 

Musik aus

O-TON 3 Schwarz 15'': 

Trotzdem: Die Stadt muss etwas unglaublich Faszinierendes, etwas unglaublich Anziehendes auf die Menschen ausgeübt haben. Die Städte wuchsen, wuchsen immer mehr, immer mehr Menschen haben in Städten gewohnt. Städte wurden zu politischen Faktoren auf der Landkarte Europas. 

MUSIK   Organic 

ERZÄHLER:

Berlin, Lübeck, Hamburg, Köln …

ERZÄHLERIN:

Der wirtschaftliche Erfolg gab den Kaufleuten Rückenwind. Im urbanen Milieu formierte sich Widerstand gegen die feudalen Stadtherren. Die Idee der politischen Selbstbestimmung machte Furore. Das urbane Leben erwies sich als Motor für gesellschaftliche Veränderungen. Die städtische Oberschicht forderte politische Autonomie und bürgerliche Rechte. Nicht selten mündete die Konfrontation mit den feudalen Stadtherren in gewalttätige Auseinandersetzungen.

ERZÄHLER: 

Die größte deutsche Stadt des Mittelalters probte bereits Ende des 11. Jahrhunderts den Aufstand. Es war Köln, schon damals eine europäische Handelsmetropole, in der Kaufleute aus nah und fern zusammentrafen. Erzbischof Anno, der Stadtherr, war rücksichtlos, forderte hohe Steuern, und sah es als sein Recht an, über den Besitz seiner Untertanen zu verfügen. In den Kölner Kaufmannsfamilien machte sich Unzufriedenheit breit. Als er ein Handelsschiff für private Zwecke beschlagnahmen ließ, setzte sich der Eigentümer aufgebracht zur Wehr. Der Funke sprang über und entfachte einen wütenden Aufruhr in den Kölner Gassen. Anno konnte fliehen, kehrte jedoch nach einigen Tagen mit bewaffneter Unterstützung zurück. 

Die Aufständischen ergaben sich angesichts der militärischen Übermacht und die Rädelsführer wurden brutal bestraft. 

ERZÄHLERIN:

In den Städten gärte es. Die einflussreichen Kaufmannsleute forderten politische Selbstbestimmung und persönliche Freiheiten wie etwa freies Besitz- und Erbrecht – und setzten sich peu à peu durch.

Musik aus

In zunehmendem Maße übernahmen die Bürger die Kontrolle über ihre Städte. Ratsverfassungen und politische Gremien wie die Stadträte etablierten sich. Mondäne Rathäuser und imposante Kaufhallen zeugten von der neuen Macht des städtischen Bürgertums und lockten immer mehr Menschen in die Städte. „Stadtluft macht frei“. Wer es im Mittelalter in die Stadt schaffte, ließ Leibeigenschaft und Hörigkeit des bäuerlichen Daseins hinter sich, was bedeutete: er konnte nach einem Jahr in der Regel von seinem Grundherrn nicht mehr zurückgefordert werden. 

O-TON 4 Schwarz 12'': 

Es gab also die Möglichkeiten aus der Unfreiheit einer Grundherrschaft in eine Freiheit oder in eine freiere Form der Städte zu kommen bei vielfältigsten Differenzierungen.

MUSIK   Organic 

ERZÄHLERIN: Andrerseits aber:

O-TON 5 Schwarz 18‘‘: 

Oftmals unterschieden sich die Lebensformen am Anfang gar nicht so stark voneinander. Und wenn man den Plan hatte von einer Grundherrschaft wegzugehen und in die "Freiheit der Stadt" zu kommen, rieb man sich oftmals vor Verwunderung nur die Augen, dass man von einer Unfreiheit in die andere gewechselt ist.

ERZÄHLERIN:

Denn nicht jeder Stadtbewohner war auch Bürger. Das Bürgerrecht war eine exklusive Errungenschaft. Es wurde ererbt oder konnte gekauft werden. 

Musik aus

ERZÄHLER: 

((In Köln etwa gab es im 13. Jahrhundert 15 Patrizierfamilien, die sich in Lebensführung und Selbstinszenierung stark am Adel orientierten. Sie bestimmten die Geschicke der Stadt und ihrer Bewohner. Ähnlich war es in den anderen Städten.))

Reiche Kaufmannsdynastien und ehemalige Ministeriale stellten die städtische Führungsschicht, in die zunehmend auch die Handwerker und ihre Zünfte drängten. Hierarchisch an unterster Stelle standen die Dienstboten, Knechte und Mägde, die keinerlei Besitz und auch kaum  Aussicht auf die Erlangung der bürgerlichen Rechte hatten. Doch im Gegensatz zu dem starren Ständesystem, das die mittelalterliche Welt ansonsten ordnete in Klerus, Adel und Bürger, sorgten die sozialen Verwerfungen in der Stadt für Reibung und Dynamik. 

O-TON 6 Schwarz 28'': 

Die Stadt des Mittelalters konnte sehr durchlässig sein. Es waren große Möglichkeiten da des sozialen Aufstiegs, ganz ganz bedeutsame Möglichkeiten, da gib es auch viele faszinierende Einzelfälle, aber natürlich auch des sozialen Abstiegs.

MUSIK   Organic

ERZÄHLERIN:

Beispiele für die soziale Dynamik gibt Jörg Schwarz in seinem Buch „Stadtluft macht frei“.

ERZÄHLER: 

Er beschreibt, wie Mitte des 14. Jahrhunderts bewaffnete Augsburger vor das Rathaus zogen und angeführt von einer Gruppe Handwerker das Ende der

Vorherrschaft der Kaufmannsleute forderten und damit Erfolg hatten. Künftig sollten auch die Handwerkszünfte im Stadtrat vertreten sein. Um 1370 rebellierten die Kölner Weber, 1397 die Münchner Zünfte … 

ERZÄHLERIN:

Und und und. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzten. Mal hatten die Zünfte mehr, mal weniger Erfolg. In einigen Städten bekamen sie sehr großen Einfluss, in anderen wurden sie verboten. Das städtische Bürgertum hatte seine Integrationsfähigkeit bewiesen. Die Städte hatten sich als dynamische Orte etabliert, spannungsreich und entwicklungsfähig, mit großem Potential sowohl für Konflikte als auch für gesellschaftlichen Wandel - was bei aller Faszination auch Unbehagen auslöste. 

Musik aus

O-TON 7 Schwarz 1'20'': 

Im 11. Jahrhundert gibt es einen Bericht des Mönchs Lampert von Hersfeld, der die Stadt Köln regelrecht verwünscht hat, als einen verfluchten Ort bezeichnet hat, als einen unguten Ort bezeichnet hat, weil von Köln eben ein Aufstand der Kölner Bürger gegen den Erzbischof Anno ausging. Und das setzt sich fort. Es gibt im Jahrhundert darauf, im 12. Jahrhundert, einen völlig faszinierenden Bericht eines englischen Mönchs aus Manchester über die Stadt London, in dem die Stadt London regelrecht fertiggemacht wird, bezeichnet wird als ein Ort, in dem Menschen aus allen Herren Länder zusammenleben. ((Also das, was uns heute an der Stadt so fasziniert, dieser - wie wir so schön sagen - urbane Charakter, das Kosmopolitische, das wurde als etwas Ungutes gesehen. Also die Stadtkritik,)) aber natürlich auch die Faszination durch Städte - also das hat es in dieser Form natürlich im Mittelalter auch schon gegeben: „Stadtluft macht frei“, aber es gibt auch den Gegensatz „Stadtluft stinkt auch“ und „Stadtluft macht ein bleiches Gesicht“. Die Stadt als ein unguter Ort und die absolute Zuspitzung dessen haben Sie in einem Roman des 20. Jahrhunderts: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Da wird die Stadt regelrecht bezeichnet als große Hure Babylon.

MUSIKAKZENT  Großstadt-Song 

MUSIK  Architektur ist Geiselnahme

ERZÄHLERIN:

Berlin, Wien, Paris, London: die Metropolen des 19. Jahrhunderts, des 20. Jahrhunderts, Hure Babylon, Moloch Großstadt, Turmbau zu Babel, die Stadt als Maschine, aber auch als Laboratorium der Moderne, als dynamisches Zentrum für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Die Städte des Mittelalters und die Metropolen der Moderne gleichen sich in ihren Phänomenen 

Musik aus

– eine heterogene Bevölkerung, eine dynamische gesellschaftliche Entwicklung, benachteiligte Gruppen, die sich zu emanzipieren versuchen, politische Partizipationsmöglichkeiten. Hatte der zentralistische Staat ab dem 16. Jahrhundert die Autonomie der Städte eingeschränkt, so nahm im 19. Jahrhundert die Urbanisierung in Europa wieder Fahrt auf. Wissenschaftliche und technische Errungenschaften machten es möglich: Die Eisenbahn lieferte Mobilität. Die Industrialisierung ließ die Städte rasend schnell wachsen. Neue Stadtviertel entstanden. 

MUSIK  Architektur ist Geiselnahme

ERZÄHLER: 

Architekturen aus Eisen und Stahl, Weltausstellungen als erste internationale Events, kosmopolitischer Glamour und urbane Modernität: Allen voran wagte Paris eine große städtebauliche Neugestaltung. 

Musik aus

O-TON 8 Lenger 21'':

Wenn man vielleicht mit dem Stadtbild beginnt und sehr plakativ einsetzt, dann könnte man sagen, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die breiten Boulevards, die wir noch heute an Paris zumeist schätzen, die engen verwinkelten aus dem Mittelalter überkommenen Gassen allmählich verdrängen. 

ERZÄHLERIN:

Der Historiker Friedrich Lenger hat sich in seiner Studie „Metropolen der Moderne“ intensiv mit der Entstehung der modernen Großstädte beschäftigt.

O-TON 9 Lenger 30'': 

Man muss aber einschränkend sehen, dass solche Großprojekte der Stadtmodernisierung wie in Paris, aber dann auch in Wien Ausnahmen bleiben, und dieser Prozess der Modernisierung des Stadtbildes andernorts etwas verzögerter und langsamer stattfindet oder nicht wirklich das Stadtzentrum erreicht, weil der Eigentumsschutz dafür sorgt, dass da nicht wahllos abgerissen werden kann, wie das in Paris zum Teil getan worden ist.  

ERZÄHLERIN:

Bis dato ungeahnte Massen von Menschen sammelten sich in den Städten. Von 1850 bis 1913 vervielfachten sich die Einwohnerzahlen: in London von 2,3 auf 7,3 Millionen, in Paris von einer auf knapp 5 Millionen, in Wien von 430 Tausend auf 2,1 Millionen, in Berlin von ebenfalls von circa 430 Tausend auf 4 Millionen. Die Verdrei-, Verfünf-, Verzehnfachung der Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte machte eine tiefgreifende Veränderung der städtischen Infrastruktur notwendig.

O-TON 10 LENGER 1':

Da könnte man an das Verkehrswesen denken. Zunächst sind das von Pferden gezogene Busse, später dann die Straßenbahnen, die es überhaupt ermöglichen, dass Städte nicht länger „walking cities“ bleiben, als Orte, wo man alle Punkte der Stadt innerhalb einer starken halben Stunde zu Fuß erreichen kann oder zu mindestens innerhalb einer knappen Stunde, wie das selbst in London, der größten Stadt der Welt um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch der Fall war. Dazu kämen dann Erneuerungen im Bereich der Infrastruktur, was Wasserversorgung, Wasserentsorgung anbelangt. Das klingt heute sehr technisch, war aber damals absolut zentral, um die städtische Hygiene auf ein Niveau zu bringen, dass ein Ende mit dem Umstand hat machen können, dass in den Städten mehr Menschen gestorben sind als geboren wurden, so dass bis dahin Städte eigentlich im Kern auf Zuwanderung als Wachstumsbedingung angewiesen waren.

MUSIK   Augen in der Großstadt  

ERZÄHLERIN: Berlin um 1900. 

ERZÄHLER: 

Massen strömten in die Stadt – auf der Suche nach Arbeit, Wohlstand, einem besseren Leben. Und landeten meist doch nur in den überfüllten Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen der Arbeiterviertel. 

Musik aus

Das Nebeneinander von arm und reich, Einheimischen und Zugezogenen, die Spannung und Dynamik von Austausch und Veränderung lockten auch Künstler und Intellektuelle in die deutsche Hauptstadt. Avantgarde-Bewegungen formierten sich, neue Räume für Auseinandersetzung und Entwicklung eröffneten sich.  

O-TON 11 Lenger 20'': 

Metropolen, insbesondere aufgrund ihrer politischen Zentralfunktion Hauptstädte,  sind immer schon zentrale Orte politischer Auseinandersetzung gewesen und damit meine ich politische Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, der demonstrativ in Besitz genommen wird

ERZÄHLERIN:

Die Reichsparteitage der Nazis in Nürnberg, Goebbels‘ „Wollt ihr den totalen Krieg“ im Berliner Sportpalast, Kennedys „Ich bin ein Berliner“ vor dem Rathaus Schöneberg: Die Städte boten politischer Propaganda riesige Bühnen ebenso wie politischen Statements - und sie ermöglichten auch politische Partizipation.

O-TON 12 Lenger 37‘‘:

Das intensiviert sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ungemein, weil dann erst breitere Bevölkerungsschichten, nicht zuletzt die Arbeiterbewegung, tastend versucht, diesen städtischen Raum in Beschlag zu nehmen. So was wie ein unangefochtenes Demonstrationsrecht gibt es zunächst gar nicht, so dass es kein Zufall ist, dass die ersten Massenversammlungen häufig riesige Begräbniszüge sind, wo Hunderttausende dann der Beerdigung eines Führers der Sozialdemokratie beiwohnen - was de facto dem ganzen ja den Charakter einer Demonstration gibt. 

MUSIK   Großstadt  

ERZÄHLERIN:

Partizipations- und Emanzipationsbewegung sind Ausdruck städtischen Lebens: die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung zu Beginn, die Schwulen- und Lesbenbewegung am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Love Parade haben die

Berliner erfunden, und die Berliner haben mit Klaus Wowereit auch als erste einen bekennenden Schwulen zu ihrem Bürgermeister gewählt. 

Musik aus

Nur wenige Jahre später ist das kleine bayerische Dorf Bodenmais dem Berliner Vorbild gefolgt. 

O-TON 13 Lenger 1'11'': 

Auf der einen Seite lösen sich die Differenzen zwischen Stadt und Land auf und wir sprechen vielleicht trotzdem noch davon, dass wir in einer städtischen  Gesellschaft leben. Ich glaube, man kann das zusammenbringen, wenn man diesen Auflösungsprozess von Unterschied zwischen Stadt und Land eben als Urbanisierung des Landes begreift und damit würde man meinen, dass viele Dinge, die früher genuin städtisch gewesen sind, heute auf dem Land auch anzutreffen sind. 

O-TON 14 Lenger 23'': 

Dazu würde ich auf jeden Fall das Ausmaß an Heterogenität in kultureller, sozialer  und ethnischer Hinsicht zählen und damit einhergehend in gelungenem Fall auch ein höheres Maß an Bereitschaft sich auf Differenz entlang dieser Dimensionen einzulassen, also Verschiedenheit zu akzeptieren.

MUSIKAKZENT   Großstadt  

MUSIK  Beste Freunde 

ERZÄHLERIN:

Die Fähigkeit, sich auf soziale Vielfalt ein- und emanzipatorische Bestrebungen zuzulassen, hatte die mittelalterlichen Städte erfolgreich gemacht und die Metropolen der Moderne als Zentren politischen und gesellschaftlichen Wandels

etabliert. 

Selbst zwei Weltkriege, zerstörte Städte, unzählige Todesopfer, eilige und eiligste Wiederaufbaumaßnahmen – das alles konnte die Entwicklung der Städte nicht aufhalten. 

Musik aus

MUSIK   Großstadt

Auch in Zukunft wird unsere Gesellschaft von der Bereitschaft ihrer Mitglieder abhängig sein, kulturelle, soziale und ethnische Heterogenität zu akzeptieren und Spannungen als Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen. 

Musik aus