Rentiere prägen das Bild im äußersten Norden Skandinaviens. Die Tiere haben sich im Laufe der Evolution zu wahren Überlebenskünstlern in den extremen Bedingungen der Arktis entwickelt und sind Symbol für die enge Verbindung zwischen den samischen Ureinwohnern und der Natur. Andreas Pehl ist ihnen auf der Spur. Autor: Andreas Pehl
Rentiere prägen das Bild im äußersten Norden Skandinaviens. Die Tiere haben sich im Laufe der Evolution zu wahren Überlebenskünstlern in den extremen Bedingungen der Arktis entwickelt und sind Symbol für die enge Verbindung zwischen den samischen Ureinwohnern und der Natur. Andreas Pehl ist ihnen auf der Spur. Autor: Andreas Pehl
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Pehl
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Rahel Comtesse, Andreas Neumann
Technik: Wolfgang Lösch, Laura Picerno
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Gabriela Wagner (Chronobiologin und Rentierforscherin, Tromsø);
Rune Normann (Archäologe, Alta);
Henrik Gaup (Rentierbesitzer, Tromsø);
Inga Ellen Gaup (Lehrerin Rentierwirtschaftsschule, Kautokeino)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 ATMO 775
Klassenzimmer mit Protagonisten
SPRECHERIN
Preiselbeerzweige, Birkenblätter, getrockneter Tang, Flechten und Moose liegen auf den Tischen im Klassenzimmer. Bestimmungsbücher werden herumgereicht, Pflanzennamen auf Samisch, Norwegisch und Lateinisch fliegen durch den Raum.
02 O-TON SCHÜLERIN Mari Kare 767b
OVERVOICE SCHÜLERIN Mari Kare (schon vorhanden)
Wir machen ein Herbarium mit 30 verschiedenen Pflanzen, die Rentiere fressen. Im Sommer fressen sie Kräuter und Flechten. Und Blätter fressen sie das ganze Jahr über.
04 ATMO Unterricht auf samisch
SPRECHERIN
In Kautokeino, ganz im Norden Norwegens, gibt es eine besondere Schule: die Schule für Rentierwirtschaft. Hier lernen Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren neben Mathematik und Englisch alles rund um ein Tier, das die Region prägt und perfekt an die arktischen Lebensbedingungen angepasst ist: das Rentier. Hier im Norden der skandinavischen Halbinsel leben die Rentiere halbwild. In großen Herden ziehen sie mit ihren Besitzern umher, die wie Mari Kare und Anders Inger meist der indigenen samischen Bevölkerung angehören.
05 O-TON SCHÜLER Anders Inger 759a
OVERVOICE SCHÜLER Anders Inger (schon vorhanden)
Man wächst mit den Rentieren auf. Du bist von Anfang an mit dabei, mit der Familie, die ganze Zeit, schon als kleines Baby.
SPRECHERIN
Im Sommer waren Mari Kare, Anders [Andasch] Inger und ihre Klassenkameradinnen in der Tundra und am Strand unterwegs, haben Pflanzen gesammelt und getrocknet. Jetzt geht es darum, sie zu sortieren und zu bestimmen. Lehrerin Inga Ellen Gaup [Gäüp] unterrichtet Rentier-Biologie, Unterrichtssprache ist Nordsamisch, die Sprache der Urbevölkerung hier in Nordskandinavien.
07 O-TON LEHRERIN Inga Ellen Gaup 701
OVERVOICE LEHRERIN Inga Ellen Gaup
Heute können wir nicht mehr davon ausgehen, dass die Jugendlichen schon in der Familie alles gelernt haben, was man über Rentierwirtschaft wissen muss.
MUSIK ZE014880108 „The return of the sun.”; ZEIT: 00:35
SPRECHERIN
Die eleganten Tiere mit eindrucksvollem Geweih, kuschligem Fell in verschiedenen Grau- und Brauntönen und großen Rehaugen prägen durch ihre Beweidung die Kulturlandschaft der Finnmark. Seit vielen Jahrtausenden leben Menschen hier als Nomaden von und mit den Rentieren.
MUSIK ENDE
08 O-TON LEHRERIN Inga Ellen Gaup 724
OVERVOICE LEHRERIN Inga Ellen Gaup
Das Rentier ist ein wichtiges Tier, das Menschen mit Essen und Kleidung versorgt und Gesellschaft leistet. Wir nutzen das Rentier auch als Zugtier. Dann kann man mit dem Rentierschlitten fahren, so wie der Weihnachtsmann. Solche Zugrentiere werden speziell gezähmt.
SPRECHERIN
Die Tiere sind perfekt an ein Leben in der Arktis und Subarktis angepasst – das macht sie auch für die Menschen hier so wertvoll.
09 O-TON Gabriela Wagner 807 (spricht deutsch, keine OV!)
Das Gehirn ist darauf angelegt, das Allerbeste aus der Lichtinformation zu machen. Das Timing, die genaue zeitliche Verteilung, wann was passiert im Jahr, das steht im Zentrum von allem, was passiert.
SPRECHERIN
Gabriela Wagner ist Chronobiologin und arbeitet am Forschungsinstitut NIBIO in Tromsø [Trumsöh].
10 O-TON Gabriela Wagner 814
Im Gehirn sitzt die biologische Uhr, die sagt: der Tag ist kürzer oder länger als gestern, jetzt müssen wir Fett anlegen, Winterfell wachsen lassen, bald das Geweih loswerden, mehr ruhen, bestimmte Pflanzen essen, viele Pilze, das Gehirn gibt Bescheid, was an den verschiedenen Körperstellen passieren muss.
SPRECHERIN
Gabriela Wagner forscht unter anderem zur inneren Uhr der Tiere, die mit der Mitternachtssonne im Sommer und der Polarnacht im Winter zurechtkommen muss und die körpereigenen Abläufe steuert.
11 O-TON Gabriela Wagner 816
In der Mitternachtssonne im Sommer und in der Dunkelheit im Winter sind die völlig arhythmisch. Die sind den ganzen Tag und die ganze Nacht aktiv, zumindest in ihrem Verhalten. Aber im Körper drin sind die ganzen physiologischen Vorgänge trotzdem an einem 24-Stunden-Zyklus orientiert. Und das können wir nicht. Da ist vielleicht ein großer Unterschied, dass die Rentiere Wiederkäuer sind. Eigentlich schaut es aus, als ob sie wach sind. Die Augen sind offen, sie können stehen, sie können liegen mit dem Kopf oben. Aber das Gehirn schläft in der Zeit. Und das können wir nicht. Wir können nicht im Büro sitzen und das Gehirn offline aufstellen.
MUSIK ZE014880107 „Vårsøg“; ZEIT: 00:45
SPRECHERIN
Doch es ist nicht nur das Gehirn, das bei den Rentieren bemerkenswert ist. Ihre Augen passen sich an den Wechsel von Mitternachtssonne und Polarnacht an: eine lichtreflektierende Schicht hinter der Netzhaut ist in der Lage, Struktur und Farbe zu verändern. Diese Umprogrammierung ermöglicht es den Tieren, im Winter auch bei Dunkelheit noch zu sehen, ohne im gleißenden Licht der Mitternachtssonne zu erblinden. Und dann ist da ja noch die Sache mit der Nase.
MUSIK ENDE
12 O-TON Gabriela Wagner 809
Ein spannendes Ding ist die Nase. Rudolfs Nase, die berühmte. Die ist, innendrin zumindest, sehr, sehr rot. Die haben ein riesengroßes, kompliziertes Höhlensystem in der Nase drin. Das funktioniert ein bisschen wie eine Wärmepumpe in einem Haus. Wenn es sehr kalt ist,
-20°C, wenn du ausatmest, dann weißt du die weiße Wolke, die da kommt, das ist die ganze Feuchtigkeit aus deinem Körper, die kondensiert in der Luft und weg ist. Wenn wir in sehr kaltem Wetter draußen sind, trocknen wir sehr schnell aus. Die Rentiere können in ihrer Nase die kalte Luft reinlassen, kühlen damit ihre Körperluft aus der Lunge ab. Und die Luft, die sie ausatmen, hat dann nur noch 2-3°. Die verlieren fast keine Feuchtigkeit. Und das, was sie einatmen, wird gleichzeitig aufgewärmt. Das ist eine fantastische Konstruktion.
SPRECHERIN
Auch das Fell ist besonders. Rentierhaare sind hohl, jedes Haar ist dadurch einzeln isoliert. Das garantiert, dass die Tiere nicht erfrieren, auch wenn das Thermometer deutlich unter -40° C rutscht.
13 O-TON Gabriela Wagner 811a
Wenn du eine wärmesuchende Kamera aufstellst, die Rentiere wirst du fast nicht sehen. Die tauchen da nicht auf, weil die dermaßen gut isoliert sind. Man sieht eigentlich nur die Augen. Das Fell hat zwei Schichten: die untere Wolle und darüber die dickeren Schutzhaare. Das ist ein extrem guter Wasserschutz.
SPRECHERIN
Die Nahrung der Tiere: feinste Tundra-Kräuter und Gras, Flechten und Moose und ab und zu frischer, salziger Tang an den Fjorden. Das Herbarium, das die Schülerinnen in Kautokeino anlegen, macht deutlich, wie abwechslungsreich der Speisezettel der Tiere ist.
14 O-TON Gabriela Wagner 804
Rentiere brauchen eher zarte Pflanzen, die weniger Fasern haben. Es sind so ein bisschen Gourmets, die sich ganz genau aussuchen, was sie fressen.
SPRECHERIN
Die Tiere machen aus dieser Region eine riesige Kulturlandschaft und sorgen dafür, dass die weiten Heidelandschaften nicht verbuschen. Doch als großgewachsener Pflanzenfresser-Gourmet in einer Region zu überleben, in der der Boden rund sechs Monate im Jahr schneebedeckt ist – das fordert eine perfekte Anpassung an die Umwelt.
15 O-TON Gabriela Wagner 803
Die ganze Physiologie von den Rentieren handelt darum, Energie zu sparen und sich langsam zu bewegen, um das Allermeiste aus den Ressourcen zu machen, die sie zur Verfügung haben. Die müssen sie maximal ausnutzen: In erster Linie damit, indem man viel rumsteht und sich nicht aus der Ruhe bringen lässt.
SPRECHERIN
Selbst im arktischen Winter können die Tiere frisches Gras und Kräuter fressen: Sie benutzen ihre großen Klauen als Schneeschaufeln und graben sich durch den lockeren arktischen Schnee.
Wenn die kräftigeren Rentier-Männchen mit ihren Hufen den Schnee weggescharrt haben, kommen die trächtigen Weibchen und jagen sie weg – sie brauchen das Futter dringender. Das funktioniert, weil die Männchen nach der Brunst im Herbst ihr Geweih verlieren, die Weibchen aber ihr Geweih bis nach der Geburt der Kälber im Frühling behalten – es garantiert Schutz und Status der Mütter.
17 ATMO Rentierherde
SPRECHERIN
Rund 200.000 Rentiere leben heute in der Finnmark, also im nördlichsten Landesteil Norwegens – nicht wild, sondern gut gehütet von ihren samischen Besitzern.
18 O-TON Gabriela Wagner 832
Niemand weiß so viel über Rentiere wie die Sami. Auch nicht wir Wissenschaftler. Und die haben auch dieses Gefühl, das holistische Verstehen. Die haben ein viel tieferes Verständnis dafür, wie ein Rentier funktioniert in Zeit und Raum.
ATMO Gesang geht über in
MUSIK ZE014880114 „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:37
SPRECHERIN
Jedes Rentier, das in Nordnorwegen unterwegs ist, ist Teil einer privaten Herde, die oft aus mehreren hundert Tieren besteht. Die Tiere werden überwacht, vor Wölfen, Bären, Vielfraß und Adlern beschützt, markiert. Da sie sich in den Weidegebieten mit anderen Herden vermischen, müssen die Herden bei großen Rentierscheidungen im Herbst wieder aufwändig getrennt werden. Dazu werden große Rentierzäune gebaut. Eine dieser Herden gehört Henrik Gaup [Gäüp].
19 O-TON Henrik Gaup 601
OVERVOICE Henrik Gaup
Das ist keine Arbeit, kein Job, das ist ein Lebensstil. Das ist eine Identität.
SPRECHERIN
Henrik ist in zwei Welten zu Hause: als Rentierbesitzer in der Welt der samischen Ureinwohner, als Verwaltungsangestellter der Stadt Tromsø in der westlichen Welt.
20 O-TON Henrik Gaup 602
OVERVOICE Henrik Gaup
Job, Arbeit – das ist der westliche Gedankengang. In der Rentierwirtschaft bist du ein Teil einer Symbiose von Natur, Bergen, Mensch, Tieren. Natürlich ist es Arbeit, aber nicht so, wie der moderne Westen Arbeit definiert.
MUSIK ZE014880114 „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:55
SPRECHERIN
Wilde Rentierherden, die in anderen Regionen der Erde leben, sind regelmäßig mehrere tausend Kilometer pro Jahr unterwegs – soviel wie kein anderes Landsäugetier sonst. Hier in Norwegen sind die Wege nicht ganz so weit. Henrik hat seine Tiere zusammen mit den Herden seiner Brüder im Sommer in den Lyngenalpen nördlich von Tromsø. Den Winter verbringen die Tiere an der rund 400 Kilometer entfernten finnischen Grenze. Vier bis fünf Monate im Jahr sind die Rentiere mit Henriks Familie auf dem Weg zwischen den Weidegebieten.
22 ATMO Rentierherde im Wasser
SPRECHERIN
Manche Familien haben ihre angestammten Sommerweiden auf den vorgelagerten Inseln – die Tiere schwimmen dann durch Seen und Fjorde. Dabei wirkt ihr Fell wie eine Schwimmweste und verschafft Auftrieb. Die weit spreizbaren Hufe, die sie im Winter wie Schneeschuhe einsetzen, nutzen die Tiere beim Schwimmen dank einer Spannhaut wie Flossen. Mehrere Kilometer durchs Meer schwimmen ist für sie kein Problem. Die Besitzer ziehen mit ihnen und wohnen im Sommer an der Küste, im Winter in der inneren Finnmark. In der Rentierwirtschaft bestimmt nicht der Mensch, sondern die Tiere. Und die richten sich nach ihrer inneren Uhr, nach den klimatischen Bedingungen, die in jedem Jahr anders sein können.
MUSIK ENDE
23 O-TON Henrik Gaup 605
OVERVOICE Henrik Gaup
Da passiert die Kollision zwischen der westlichen Art zu denken, zu planen: Ja, Henrik, du musst ja planen. Den Plan kann ich schreiben, ein Dokument. Aber die Rentiere sind frei. Du kannst versuchen, sie zu kontrollieren, aber du musst dem Rentier folgen auf seiner Wanderung.
SPRECHERIN
Trotz Handy und GPS, Schnee Scooter und Quad, Hubschrauber und Drohnen haben sich in der Lebensweise der Menschen viele Abläufe seit Jahrhunderten erhalten, die eng mit dem Zug der Rentiere verbunden sind – von der in die Ohren der Tiere geschnittenen persönlichen Markierung bis hin zum saisonalen halbnomadischen Leben im Lavvu [Lahwú], dem traditionellen Zelt – oder im Wohnwagen. Auch die samische Sprache macht deutlich, wie sehr das Leben der Menschen hier von den Rentieren geprägt ist.
ATMO Gesang
25 O-TON Rune Normann 903a
OVERVOICE Rune Normann
Gleich nach der Eiszeit, als das Eis hier geschmolzen ist und sich zurückgezogen hat, sind die Rentiere hinterher gezogen. Das bedeutet auch, dass die Menschen diesen Tieren gefolgt sind.
SPRECHERIN
Rune Normann [Rüne Nuhrman] ist Archäologe. Er hat sich auf steinzeitliche Felskunst spezialisiert und arbeitet im Museum in Alta. Die Felsritzungen von Alta, UNESCO-Welterbe, sind vor etwa 7.000 Jahren entstanden. Auf derzeit 120 bekannten Felsflächen sind rund 6.000 Figuren in den Stein geritzt.
26 O-TON Rune Normann 902-903b
OVERVOICE Rune Normann
Von diesen 6.000 Figuren sind 1.500 Rentiere. Das zeigt ja schon, dass das Rentier eine extrem wichtige Bedeutung für die Menschen hatte.
MUSIK ZE014880114 „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:26
SPRECHERIN
Rentiere in unterschiedlichen Größen sind als Umrisse in den Felsen geschlagen, dazu Elche, Bären, Fische, Menschen – je nach Lichteinfall leicht zu erkennen, manchmal dauert es etwas länger, bis das Auge den Kontrast zwischen Felsen und Ritzung erkennt. Und bei manchen Feldern haben die Archäologen mit roter Farbe nachgeholfen.
MUSIK ENDE
27 O-TON Rune Normann 904
OVERVOICE Rune Normann
Links sehen wir eine Rentierherde und einen Mann mit Pfeil und Bogen. Der Köcher liegt neben ihm am Boden. Das bedeutet: Er hatte Zeit. Es ging nicht darum, auf Jagd zu gehen und zufällig auf ein Rentier zu treffen. Hier reden wir davon, zu einer bekannten Stätte zu gehen, wo du weißt: Hier kommt die Herde der wilden Rentiere vorbei. Ansitzjagd würden wir das heute nennen.
SPRECHERIN
Sie sind auch ein immerwährender Kalender aus der Steinzeit, eine Darstellung, wie sich die Rentiere im Laufe eines Jahres in der Landschaft bewegen. Risse und Unebenheiten wirken wie eine Landkarte mit Flüssen und Bergen; mittendrin: die Herden.
Und dann gibt es eigenartige Ritzungen, mehrere Meter groß: eine Art Eisenbahnschienen, die in der Form vierblättriger Kleeblätter um eine Rentierherde herumführen.
29 O-TON Rune Normann 913
OVERVOICE Rune Normann
Das ist ein 7.000 Jahre alter Rentierzaun. Man treibt die Tiere in diese Öffnung hier hinein, dann kann man das Ganze schließen. Die Herde beginnt im Kreis zu gehen. Das ist die natürliche Reaktion der Rentiere. Wenn sie mal im Kreis laufen, bleiben sie dabei. Und dann kannst du anfangen, einzelne Tiere von der Herde zu trennen. Die kommen in den anderen Bereich dieses Kleeblattes und fangen dort an, herumzugehen. Wenn du das viermal machst, dann hast du eine große Herde aufgeteilt in vier kleine Herden, die viel besser zu hantieren sind.
SPRECHERIN
Ganz ähnliche aufgebaute Zäune nutzen die Sami heute noch, wenn sie die Herden sammeln, Schlachttiere aussuchen oder die Kälber markieren.
MUSIK ZE014880114 „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:19
SPRECHERIN
Ohne die Felskunst in Alta mit den rund 1.500 Rentieren wüssten wir nichts davon, wie die Menschen hier seit vielen tausend Jahren zusammen mit und von den Rentieren leben, wie die Tiere den Jahreslauf der Menschen bestimmen.
MUSIK ENDE
31 O-TON Rune Normann 919b
OVERVOICE Rune Normann
Es wurde unter Archäologen spekuliert: haben sie damals schon versucht, auf Rentierwirtschaft mit zahmen Tieren umzustellen? Ist es ihnen in einem gewissen Grad sogar gelungen? Darüber können wir spekulieren. Auf jeden Fall wusste man sehr viel über das Verhalten der Rentiere, schon vor 7.000 Jahren und sicher noch länger.
SPRECHERIN
Rune Normann betont allerdings, dass die Menschen, die diese Felskunst geschaffen haben, keine direkten Vorfahren der Sami heute sind, trotz aller erkennbaren Parallelen.
32 O-TON Rune Normann 919a
OVERVOICE Rune Normann
Man muss hier oben von den Rentieren leben, wenn man ein Naturvolk ist. Aber das bedeutet nicht, dass es samisch ist oder norwegisch. Das bedeutet nur, dass die Menschen von der gleichen Natur gelebt haben.
MUSIK ZE014880107 „Vårsøg“; ZEIT: 00:18
SPRECHERIN
Heute ist diese Natur und damit der jahrtausendealte Lebenskreis der Tiere in Gefahr. Der Klimawandel bringt große Veränderungen hier in der Arktis und Subarktis, beobachtet auch Gabriela Wagner.
MUSIK ENDE
33 O-TON Gabriela Wagner 821
Das Wetter hat sich massiv verschoben. Wir haben viel nasseren und viel mehr Schnee. Das ist ungewöhnlich in der Arktis. Arktischer Schnee ist trocken und fast staubig. Und dafür sind die Rentiere eigentlich angepasst, diesen ganz trockenen leichten Schnee wegzugraben. Und das andere sind diese Rain-on-Snow-Events, heißt das in der Klimaforschung. Wir haben einen gefrorenen Boden oder Schnee, und dann regnet es rein und dann wird es wieder kalt und es friert. D.h., wir haben mehrere Eislagen in der Schneelage. Und das ist natürlich etwas, wo die Rentiere mit den Hornhufen nicht durchgraben können. D.h., dass die Rentiere, die eigentlich an den arktischen Winter angepasst sind, plötzlich im arktischen Winter verhungern. Und das ist jetzt das, was fast jedes Jahr passiert und in immer größerem Ausmaß.
SPRECHERIN
Die Besitzer müssen zufüttern, derzeit noch oft mit Pellets aus südamerikanischem Soja – das ist teuer und durchbricht den uralten Kreislauf in der empfindlichen arktischen Natur. Doch nicht nur der Klimawandel bedroht Rentiere und die traditionelle Rentierwirtschaft. Städtewachstum, der Ausbau der Infrastruktur und vor allem die Suche nach Bodenschätzen und die Errichtung von Windparks und Staudämmen, auch durch deutsche Energieunternehmen, zerstören Lebensraum und Weidegebiete, Stromleitungen werden zu unüberwindlichen Barrieren beim Zug der sensiblen Rentiere.
34 O-TON Gabriela Wagner 818
Rentiere können UV-Licht sehen. Das wissen wir erst seit ein paar Jahren. Es ist wahrscheinlich, dass die Stromleitungen für die Rentiere aussehen wie blitzende Lichter, die in der Landschaft hängen. Das andere ist: dort wo die Stromleitungen sind, wird die Vegetation runtergeschnitten. Die Rentiere sind gerade im Winter gewöhnt, dass sie durch den Wald gehen, wo sie geschützt sind. Allein die Tatsache, dass da keine Bäume sind, kann ein Hinderungsgrund sein.
SPRECHERIN
Wenn die Rentiere weniger werden, dann besteht auch die Gefahr, dass die Kulturlandschaft der Finnmark mit ihren weiten Heideflächen, die viel CO2 speichern können, verschwindet. Möglicherweise spielen die Rentiere auch für unser Klima eine wichtigere Rolle, als es zunächst scheint – doch derzeit gibt es dazu noch zu wenige Forschungsdaten.
35 ATMO 775 Klassenzimmer mit Protagonisten
SPRECHERIN
Auch wenn die Zukunft der Rentiere und der samischen Rentierwirtschaft derzeit nicht besonders rosig erscheint: Junge Menschen gibt es genug, die diese Traditionen weiterführen möchten – Karen Rita, Mari Kare und Nilsson an der Schule in Kautokeino gehören dazu. Nach der Schule chillen vor dem Bildschirm? Dafür ist nicht so viel Zeit.
36 O-TON SCHÜLERIN Mari Kare 771
OVERVOICE SCHÜLERIN Mari Kare (schon vorhanden)
Heute fahre ich in das benachbarte Weidegebiet. Wir sind gerade fertig, die Kälber zu markieren. Und jetzt helfen wir mit und schauen auch, ob sich Tiere von uns in die andere Herde verlaufen haben.
38 O-TON SCHÜLERIN Karen Rita 772
OVERVOICE SCHÜLERIN Karen Rita (schon vorhanden)
Ich zähme Kälber, weil ich Rentiere auch als Zugtiere haben möchte. Da werde ich heute Nachmittag hinfahren, sie füttern und mit ihnen unterwegs sein.
MUSIK ZE014880114 „A hidden life. Main title“; ZEIT: 01:02
SPRECHERIN
Gabriela Wagner ist zuversichtlich, dass die Rentiere auch weiterhin ein Teil der großartigen Kulturlandschaft des Nordens bleiben und als Überlebenskünstler in der Arktis Touristen auf ihrer Reise ans Nordkap mitten auf der Straße im Weg stehen werden.
39 O-TON Gabriela Wagner 825
Bei all den Klimaänderungen und den Auswirkungen in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft ist meine Hoffnung, dass die Rentiere sich über viele, viele tausend Jahre an sehr viele unterschiedliche Verhältnisse angepasst haben und das auch weiterhin tun werden. Darin liegt vielleicht auch unsere Hoffnung. Und wir müssen ihnen den Platz geben, den die Rentiere brauchen und den die Sami brauchen.
MUSIK ENDE