radioWissen - Bayern 2   /     Simon Marius - Der fränkische Galilei

Description

Simon Marius hat unabhängig von Galilei die großen Jupitermonde entdeckt. Er wurde dafür aber nicht gefeiert, sondern als Plagiator geschmäht. Und es sollte fast drei Jahrhunderte dauern, bis dieser "stille Held" der Wissenschaftsgeschichte endlich rehabilitiert wurde. Autor: Martin Schramm

Subtitle
Duration
00:23:51
Publishing date
2024-01-12 13:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/simon-marius-der-fraenkische-galilei/2088640
Contributors
  Martin Schramm
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2088640/c/feed/simon-marius-der-fraenkische-galilei.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Simon Marius hat unabhängig von Galilei die großen Jupitermonde entdeckt. Er wurde dafür aber nicht gefeiert, sondern als Plagiator geschmäht. Und es sollte fast drei Jahrhunderte dauern, bis dieser "stille Held" der Wissenschaftsgeschichte endlich rehabilitiert wurde. Autor: Martin Schramm

Credits
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Christoph Jablonka
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Pierre Leich, Wissenschaftshistoriker, Präsident der Simon Marius Gesellschaft, Nürnberg;
Dr. Hans Gaab, Astronomiehistoriker, Nürnberg

Linktipps:

Diese Internetpräsentation wurde im Jubiläumsjahr 2014 gestartet und führt alle elektronisch verfügbaren Quellen, Sekundärliteratur, Vorträge und Nachrichten zu Simon Marius zusammen und macht sie – wo möglich – bequem einsehbar. Die Initiatoren laden die Öffentlichkeit ein, diese Seite als zentrales mehrsprachiges Portal für Simon Marius zu nutzen und zu erweitern:
EXTERNER LINK | https://www.simon-marius.net/


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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK GBKZY2237120 Dark Matter 01:39min

SPRECHER

Wir schreiben das Jahr 1623. Galileo Galilei ist außer sich. In seiner Schrift „Il Saggiatore“ platzt im regelrecht der Kragen:

ZITATOR Galilei („Il Saggiatore“, Firenze 1623)

“Ich will nicht länger schweigen über jenen üblen Profiteur, der bereits viele Jahre zuvor meine Erfindung des geometrischen Kompass als seine eigene ausgegeben hat, und mir jetzt mit unverschämter Dreistigkeit erneut eine Entdeckung streitig macht. Diesmal mag ich es mir verziehen, wenn ich entgegen meiner Natur und Gewohnheit mit Wut und Groll herausschreie, was ich viele Jahre für mich behalten habe: Ich spreche von Simon Marius aus Gunzenhausen. Dieser Kerl, der es offensichtlich gewohnt war, sich mit der Arbeit anderer zu schmücken, schämte sich nicht, meine “Botschaft von den neuen Sternen” zu missbrauchen, um seinen eigenen Ruhm durch meine Arbeit und meine Mühen zu vermehren. Behauptet er doch tollkühn, in seinem Werk “Mundus Jovialis”, er habe die Mediceischen Planeten, welche den Jupiter umkreisen, vor mir entdeckt...”

SPRECHERIN

Der große Galileo Galilei ist - auf gut deutsch - “angepisst”. Er lässt kein gutes Haar an jenem „Simon Marius aus Gunzenhaus“, von dem die Welt zuvor nicht viel gehört hat.

SPRECHER

Und von dem man - dank Galileis tatkräftiger Unterstützung - später noch viel weniger hören sollte. Im Klartext: Der Ruf dieses Simon Marius ist ruiniert.

SPRECHERIN

Doch sind die Vorwürfe gerechtfertigt? Ist dieser Marius tatsächlich nichts anderes als ein „dreister Plagiator“, der sich ein Stück vom Ruhm des großen Meisters abschneiden will? Ein unbedeutender Mann aus der fränkischen Provinz, auf den die Wissenschaftsgeschichte gut und gern hätte verzichten können?

SPRECHER

Es sollte fast drei Jahrhunderte dauern, bis diese Frage geklärt wurde - mit einem überraschenden Ergebnis.

MUSIK DEUF81908464 On Tiptoe 00:37min

ZITATOR

Von Gunzenhausen in die Welt - oder: Talent sucht Patron

SPRECHERIN

Simon wird am 10. Januar 1573 geboren. In Gunzenhausen an der Altmühl. Das ist zwar nicht der Nabel der damaligen Welt. Sein Vater hat es dort aber durchaus zu etwas gebracht, ist gebildet, zeitweise Bürgermeister des kleinen Städtchens.

SPRECHER

Dennoch ist die Familie finanziell wohl eher mager ausgestattet: Simon hat noch zahlreiche Geschwister, die alle versorgt werden wollen.

SPRECHERIN

Um voran zu kommen, braucht der talentierte Junge daher einflussreiche Förderer, z.B. Georg Friedrich, seines Zeichens Markgraf des Fürstentums Brandenburg-Ansbach. Der Astronomiehistoriker Hans Gaab:

01-O-TON Gaab  Gesangstalent

„Und es gibt natürlich die Geschichte. Wobei das ist sehr fragwürdig, gehört wohl eher in den Bereich der Legenden, dass der Markgraf ihn singen gehört hat und der von dem Gesang so begeistert war, dass er ihn eben an die Fürstenschule in Heilsbronn aufgenommen hat. Diese Geschichte ist allerdings erst entstanden oder nachweisbar, hundert Jahre nach dem Tod von Marius und insofern ist ein sehr großes Fragezeichen zu setzen.“

SPRECHER

Doch selbst wenn die Geschichte „Junges Talent singt sich nach oben“ nur gut erfunden ist. Entscheidend ist: Simon wird gefördert und an der Fürstenschule in Heilsbronn aufgenommen, einem Städtchen zwischen Nürnberg und Ansbach, wo damals der Bedarf an Beamten für den fürstlichen Stab ausgebildet wird. Simon muss Eindruck hinterlassen haben:

02-O-TON Gaab  Weichenstellungen

2 [0:12:29] : „Man hat ihm ein eigenes Zimmer eingeräumt, weil man gemerkt hat, der ist sehr begabt, was Mathematik, Astronomie angeht, und hat ihm glatt Bücher verschafft und hat ihn da allein auch studieren lassen. Also der ist da gefördert worden in Heilsbronn, der war da privilegiert, - ist deswegen auch gelegentlich von Mitschülern angegriffen worden, war manchmal nicht so beliebt. Aber wie gesagt er ist da sehr stark gefördert worden. Und ihm standen auch einfache, keine komplizierten, aber einfache Instrumente zur Verfügung für astronomische Beobachtungen.“

MUSIK DEUF81908464 Now Getup 01:12min

SPRECHERIN

Schon früh macht Marius dann mit ersten Veröffentlichungen auf sich aufmerksam – beobachtet einen Kometen und erstellt astronomische Tafeln.

SPRECHER

Ein Empfehlungsschreiben des Markgrafen ebnet ihm schließlich den Weg hin zu einer weiteren wichtigen Station in seinem Leben: Marius bekommt einen Job in Prag, eine Assistentenstelle bei einem der erfahrensten Astronomen seiner Zeit: bei Tycho Brahe. Seines Zeichens Hofmathematiker des deutschen Kaisers Rudolf II.

SPRECHERIN

Berühmt ist Brahe vor allem für einen ganz besonderen “Datenschatz”: Umfangreiche Journale mit präzisen Planetenbeobachtungen.

SPRECHER

Brahe erstellte die erste Kartierung des Himmels mit brauchbarer Auflösung - eine Art „Wanderkarte“ auf der gleichsam nicht nur sechsspurige Autobahnen, die größten Seen und breitesten Flüsse verzeichnet sind, sondern auch Waldwege und Hasenpfade minutiös erfasst sind.

SPRECHERIN

Dieser „Schatz“ ist das Ergebnis mühsamer jahrelanger Himmelsbeobachtungen, mit bloßem Auge, ohne Teleskop. Hans Gaab:

03-O-TON Gaab  Tycho

„Was der Tycho Brache natürlich auch gebraucht hat, der hat Helfershelfer gebraucht, um Beobachtungen durchzuführen. Und da hat er natürlich auch immer haben wollen, dass möglichst begabte junge Leute zu ihm kommen und mindestens eine Zeit lang mitarbeiten. Und über diese Schiene ist man halt auch auf den Marius aufmerksam geworden und hat gesagt: Mensch, der soll mal kommen!“

SPRECHER

Und so wird Marius Teil des Teams in Prag. Für ihn eine wichtige Lehrzeit. Persönlichen Kontakt zum Meister selbst hat er aber wohl keinen: Brahe ist damals bereits schwer erkrankt und stirbt kurz darauf im Oktober 1601.

SPRECHERIN

Auch einen anderen großen Kollegen hat Marius dort wahrscheinlich knapp verpasst: Johannes Kepler. Der steht damals ebenfalls in Brahes Diensten.

MUSIK 3770008056060 Ciaccona für Spinett 00:23min

SPRECHER

Einen Hauch „weite Welt“ schnuppert Marius im Anschluss dann noch in Padua - wohin der Graf seinen Schützling zum Medizin-Studium schickt. Bis er von dort abrupt zurück nach Ansbach gerufen wird: der inzwischen neu installierte Fürst Joachim Ernst braucht vermutlich Ersatz für seinen verstorbenen Hofastronomen in Ansbach.

SPRECHERIN

Marius kommt also aus der Provinz - und landet nach Umwegen auch wieder in der Provinz: Angestellt beim Ansbacher Markgrafen, wo er bis zu seinem Lebensende jährlich 150 Gulden erhält.

SPRECHER

Eine eher spärliche Besoldung, für den Job, den er dort erledigt: als Mathematiker, Astronom und Arzt - mit ganz praktischen Aufgaben:

SPRECHERIN

Die Mächtigen fordern Horoskope, um ihre Politik zu optimieren.

SPRECHER

Auch für den Aderlass und den Holzschlag muss der astrologisch korrekte Zeitpunkt ermittelt werden.

SPRECHERIN

Gefragt sind außerdem ganz praktische Methoden zur Landvermessung. Die ist von großer Bedeutung für das Steueraufkommen. Marius hat dazu u.a. eine deutsche Übersetzung eines mathematischen Standardwerkes von Euklid angefertigt: dessen „Elemente“. Auch deutsche Leser ohne Latein und Griechischkenntnisse haben so eine praktische Anleitung zur Hand, um auf freiem Feld Vermessungen durchzuführen.

SPRECHER

Und schließlich wollen auch Militärs wissen, wie sie ihre Kanonen optimieren und deren Zielgenauigkeiten verbessern können. Am Ansbacher Hof interessiert das vor allem einen gewissen „Johannes Philipp Fuchs von Bimbach“. Der lernt schnell Marius mathematische Fähigkeiten zu schätzen und wird zu einem seiner größten Förderer. - Der Wissenschaftshistoriker Pierre Leich:

04-O-TON Leich Fuchs von Bimbach 

„Dieser Fuchs von Bimbach war einer der höchsten Beamten am markgräflichen Hof und war insbesondere auch für die militärischen Aspekte verantwortlich. Es war auch jemand, der deswegen immer wieder auf Messen gegangen ist wie die Frankfurter Messe, um dort nach Neuheiten zu schauen. Und auf diesem Weg hat er damals auch Kenntnis von dem Teleskop erlangt, was ja erst 1608 in Den Haag bei einer Friedenskonferenz überhaupt erstmals vorgestellt wurde.“9 [0:12:53]

SPRECHERIN

Und diese damals brandheiße „Erfindung “ sollte sich für Marius noch als äußerst nützlich erweisen.

MUSIK GBFFM2371427 Shadows Of Voices 01:01min

ZITATOR

Die Welt des Jupiter - oder: Ein Himmel voller Geheimnisse

SPRECHER

Anfang des 17. Jahrhunderts präsentieren findige Forscher erstmals ein Fernrohr. Also ein optisches Instrument, das es mithilfe von Linsen möglich macht, entfernte Objekte um ein Vielfaches näher oder größer erscheinen zu lassen. Damals ein kleines Wunder – und der Traum eines jeden Astronomen, um den nächtlichen Himmel zu erkunden.

SPRECHERIN

Wer das Teleskop tatsächlich erfunden hat, darüber entbrennt schon damals ein reger Streit. Fest steht, dass Galilei es nicht erfunden hat, - es sich aber zunutze macht und weiterentwickelt. Und Johannes Kepler hat als erster tatsächlich umfassend verstanden und dargelegt, wie Teleskope eigentlich funktionieren. Er liefert die mathematisch-geometrischen Grundlagen.

SPRECHER

Fuchs von Bimbach stößt nun 1608 auf so ein neuartiges Fernrohr - und zwar bei der Frankfurter Messe. Damals eine der wichtigsten Drehscheiben des internationalen Fernhandels:

05-O-TON Leich - Das Teleskop

“Und Fuchs von Bimbach wurde eben ein Instrument angeboten, das aber einen Sprung in der Linse hat und extrem teuer offenbar war. Es kam kein Kauf zustande, und dann hat man dann in Ansbach zurückgekehrt, natürlich versucht eins nachzubauen. Und da muss ich jetzt leider sagen -  ich bin ja Nürnberger, - aber meine Vorderen haben es leider nicht hingekriegt, den beiden gut genuge Linsen zu liefern. Und deswegen mussten sie noch ein bisschen abwarten, um dann ein halbes Jahr später aus den Niederlanden ein fertiges Teleskop zu kaufen.“

SPRECHERIN

Nicht nur Fuchs von Bimbach ist begeistert - auch Simon Marius: Da sein Gönner keine Kosten und Mühen scheut, kann er nun einen völlig neuen Blick auf den nächtlichen Himmel werfen.

SPRECHER

Wobei diese Fernrohre der ersten Stunde ihre Tücken haben: Ein ungeübter Beobachter kann zunächst vermutlich gar nichts sehen. Auch Marius muss zunächst die Stärken und Schwächen dieser Instrumente selbst erkunden. Doch Ende 1609, Anfang 1610 ist es dann soweit:

ZITATOR Simon Marius

„Damals habe ich den Jupiter zum ersten Mal gesehen. Er befand sich in Opposition zur Sonne. Und ich entdeckte winzige Sternchen in gerader Linie mal hinter, mal vor dem Jupiter. Zunächst dachte ich, jene gehörten zur Zahl der Fixsterne, die man ohne Teleskop eben nicht sehen kann... Als aber Jupiter rückläufig war und ich im Dezember erneut diese Sterne um ihn sah, habe ich mich doch zuerst sehr gewundert; um dann zu der Meinung zu gelangen, dass sich diese Sterne geradeso um den Jupiter bewegen wie die fünf Sonnenplaneten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn sich um die Sonne bewegen.“

MUSIK GBFFM2371427 Shadows Of Voices 00:46min

SPRECHERIN

Die vier vermeintlichen „Sternchen“, die Marius da beobachten konnte, veränderten also ihre Stellung von Nacht zu Nacht. Sie mussten folglich „Begleiter“ des Jupiter sein, „Monde“, die ihn umkreisen.

SPRECHER

Doch Himmelskörper zu beobachten, die sich nicht primär um die Erde drehen, - das wirft damals noch grundlegende Fragen auf: Wer kreist da draußen um was? Wer steht im Mittelpunkt? Die Erde? Die Sonne? Welches Weltbild ist das richtige?

SPRECHERIN

Die vier Jupitermonde sind also eine astronomische Sensation – und Simon Marius hat sie entdeckt.

SPRECHER

Doch Moment mal. Kann das stimmen? 

SPRECHERIN

Kann nicht - wird ein erboster Galileo Galilei sagen, als er Jahre später von seinem fränkischen Mitstreiter erfährt und ihn als dreisten Plagiator beschimpft - 1623 in seiner Schrift „Il Saggiatore“:

MUSIK GBKZY2237120 Dark Matter 00:15min

ZITATOR Galileo („Il Saggiatore“, Firenze 1623)

„Ich spreche von Simon Marius aus Gunzenhausen. Dieser Kerl, der es offensichtlich gewohnt war, sich mit der Arbeit anderer zu schmücken... Ich sage, er hat höchstwahrscheinlich überhaupt nichts beobachtet!“

SPRECHERIN

Doch wie kommt Galileo nun zu seien wüsten Vorwürfen?

SPRECHER

Marius hat seine Beobachtungen am 8. Januar 1610 notiert. In Briefen und anderen kleinen Kalenderschriften diese Entdeckung dann zwar öfter erwähnt, aber erst viel später auch umfangreich publiziert: nach vielen weiteren Recherchen und Beobachtungen: 1614 in seinem Werk „Mundus Iovialis“ - „Die Welt des Jupiters“. Für Marius ging also Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

SPRECHERIN

Ganz anders Galileo. Der hatte die Begleiter des Jupiter mit dem Teleskop einen Tag vor Marius, am 7. Januar 1610 beobachtet - und dann sofort noch im März 1610 publiziert. Im „Siderius Nuncius“, der „Sternenbotschaft“.

SPRECHER

Galileo dürfte ziemlich klar gewesen sein, dass bald überall in Europa Astronomen diese Monde mit dem Teleskop entdecken werden. In die Geschichtsbücher wird es aber nur derjenige schaffen, der über diesen Sensationsfund dann auch als erster publiziert.

SPRECHERIN

Klarer Punkt also für Galileo.

MUSIK DEUF81908457 Midnight Call 00:43min

SPRECHER

Doch der Vorwurf geht ja noch weiter: dieser Marius aus Gunzenhausen hätte gar nichts entdeckt. Er hätte nur abgeschrieben.

SPRECHERIN

Belastend kommt hinzu, dass bereits ein Schüler von Marius bei Galileo abgekupfert hatte: er hatte dessen Arbeit über den geometrischen Kompass übersetzt und unter eigenem Namen veröffentlicht. Wie der Schüler, so der Lehrer, so die Unterstellung.

SPRECHER

Marius versucht zwar sich zu wehren, doch er hat schlicht keine Chance gegen das Renommee des „Übervaters“ Galileo anzukommen.

SPRECHERIN

Sein Ruf ist ruiniert - für die nächste drei Jahrhunderte.

06-O-TON Leich Rehabilitation

„Und erst zum Jahr 1900 hat die königlich-niederländische Akademie der Wissenschaften eine Preisschrift ausgeworfen mit der Frage, ob Marius denn die Entdeckung von Galilei nur abgeschrieben habe. Und erst im Rahmen dieser Untersuchungen kann man sagen, ist Marius rehabilitiert worden. Weil man, bei den Daten von Marius halt oftmals feststellt, dass sie näher an den modernen rückgerechneten Werten sind.“

SPRECHER

Im Klartext: Marius´ Daten, speziell zu den Umlaufzeiten der Monde, übertreffen Galileis Daten deutlich an Präzision, - wie moderne Berechnungen zeigen.

SPRECHERIN

Eine derartige Präzision lässt sich aber kaum durch simples „Abschreiben“ erzielen. Sie kann nur das Ergebnis selbständiger Arbeit sein.

SPRECHER

Offiziell war Simon Marius damit also rehabilitiert.

MUSIK DEUF81908457 Playful Pizzicatos 00:50min

ZITATOR

Stille Helden – oder: Jenseits der Galionsfiguren

SPRECHERIN

Simon Marius hat sich mit weit mehr beschäftigt, als nur den großen Jupitermonden. Er beobachtet, wie einige andere in dieser Zeit die Sonnenflecken. Sieht 1612 als erster Europäer den Andromedanebel mit dem Teleskop, verfolgt 1618 den dritten und großen der drei Kometen dieses Jahres - usw.

SPRECHER

Doch wie steht er am Ende zur zentralen Frage: Wer dreht sich um wen? Die Erde um die Sonne, oder die Sonne um die Erde? Welche Schlüsse zieht er aus den wichtigsten astronomischen Entdeckungen des frühen 17. Jahrhunderts, mit denen er natürlich vertraut war?

SPRECHERIN

Kepler und Galileo kämpfen ihr Leben lang für das kopernikanische Weltbild, mit der Sonne als Mittelpunkt. Nicht so Marius. Er löst sich zwar vom alten ptolemäischen System, mit der Erde als Nabel der Welt. Vertritt letztlich aber eine Mittelposition - wie schon Tycho Brahe vor ihm. Auch wenn Marius betont, darauf unabhängig gestoßen zu sein.

MUSIK DEUF81908457 Playful Pizzicatos 00:41min

SPRECHER

Die Erde bleibt dabei zwar das Zentrum der Welt: Die Erde wird vom Mond umkreist, und die Erde wird von der Sonne umkreist. Doch alle anderen Planeten umkreisen bereits die Sonne.

SPRECHERIN

Ein aus heutiger Sicht seltsam anmutendes Kompromissmodell, das man schnell belächelt. Schließlich wissen wir es heute besser.

SPRECHER

Natürlich gibt es auch um 1610 bereits sehr gute Argumente für ein System mit der Sonne als Mittelpunkt. Doch auf einige Fragen hatte man damals ehrlicherweise noch keine Antworten. Da war u.a. das „Sahnetortenproblem“.

07-O-TON Leich Das tychonische Weltbild

„Wenn die Erde tatsächlich sich um die Sonne dreht, dann müsste das ja mit großer Geschwindigkeit gehen. Wir wissen heute das sind hunderttausend km/h, dann müssten unsere Wolken enorme Stürme aufweisen. Selbst an Kometen sehen wir einen Schweif oder zwei Schweife. Das wäre bei uns auch zu erwarten. Und der Umlauf der Erde um die Sonne liefert ja nur das Jahr. Die Erde muss sich die ganze Zeit auch noch drehen. Müsste nicht ein fallender Körper hinter der Erddrehung zurückbleiben? Und überhaupt, wenn die ganze Erde sich dreht, die Erde müsste wie eine Sahnetorte auf der Zentrifuge auseinanderfliegen. Alles Phänomene, die keiner beobachtet hat. Und da waren die Kopernikaner in Erklärungsnotstand.“

MUSIK GBKZY2237101 ANTICIPATING THE END 00:47min

SPRECHER

Natürlich wurden diese Probleme alle noch gelöst – aber eben erst einige Jahrzehnte später u.a. durch Leute wie Isaac Newton und seine „Newtonschen Gesetze“: Trägheitsgesetz, Aktionsprinzip, Wechselwirkungsprinzip usw.

MUSIK Ronde. Ausgeführt mit Laute

SPRECHERIN

Simon Marius stirbt am 26. Dezember 1624 - nach kurzer Krankheit in Ansbach. Mitten im Dreißigjährigen Krieg, einer düsteren Zeit, in der Hungernöte und Seuchen ganze Landstriche verwüsten und entvölkern.

SPRECHER

Fast sämtliche seiner Handschriften und Briefe gehen damals verloren. Dokumente, die heute helfen könnten, ein viel schärferes Bild von ihm zu zeichnen.

SPRECHERIN

Was also bleibt am Ende von Simon Marius?

SPRECHER

Fest steht: der Schatten – ja man möchte fast sagen: der „Fluch des des Galilei“ verfolgt ihn bis heute - der Wissenschaftshistoriker Pierre Leich:

08-O-TON Leich - Ruf ruiniert

24 [1:36:41] : „Und wenn Sie jetzt heute in einer ganz anderen Ecke der Welt den Namen aufbringen und überhaupt ein Wissenschaftler ihn kennt, würde er wahrscheinlich sagen: war das nicht der, der von Galilei abgeschrieben hat, habe ich mal so gelesen. Weil so steht es in ganz vielen Büchern noch drinnen. Und auch wenn 1900 sozusagen die Rehabilitation war, das ist dann für die große Geschichte der Wissenschaft doch zu wenig Zeit, als dass ich das durchsetzen würde. Denn immer wieder werden wir bombardiert mit den Helden und da wird man so schnell nichts ausrichten können.“

MUSIK 4250128522052  Ronde. Ausgeführt mit Laute 00:50min

SPRECHER

In die „Champions League“ der Astronomen hat es Marius also letztlich nicht geschafft. Er passt nicht so recht zu einer Geschichtsschreibung, die dazu neigt, Heroen und Überväter auf einen Sockel zu hieven.

SPRECHERIN

Doch auch Galionsfiguren wie Brahe, Galilei und Kepler haben nicht alles allein erledigt: sie hatten Mitarbeiter und Kollegen.

SPRECHER

Es gab und gibt also auch viele „stille Helden“, die vieles gleichzeitig entdeckt haben, aber weniger laut sind, und dadurch meist in Vergessenheit geraten sind.

SPRECHERIN

Weil sie nicht das passende Netzwerk hatten, um sich um sich in Szene zu setzen, und zu vermarkten. Weil ihnen Geld und Sponsoren fehlten, um schnell zu publizieren – oder weil sie einfach Pech hatten.

MUSIK 4250128522052  Accordion Sphere B 01:05min

09-O-TON Leich - Kristallisationspunkte

„Wenn man genauer hinschaut und das Ganze vergrößert. Es ist genauso wie am Nachthimmel auch: erst sieht man nur die großen dicken Sterne, dann werden es immer mehr Sterne. Da gibt es überall ein Netzwerk von Wissenschaftlern, die Beobachtungen vielleicht Experimente austauschen, die Konsequenzen diskutieren, die Folgerungen ableiten und dann Theorien entwickeln, die andere dann wieder angreifen oder stützen können. Und es ist eigentlich ein Netzwerk in der Wissenschaft. Und ab und zu gibt es dann halt Kristallisationspunkte, die dann ein bisschen herausleuchten. Aber auf dieser zweiten Ebene sieht man natürlich mehr.“

SPRECHERIN

Mit anderen Worten: Nicht nur in der Geschichte der Astronomie lohnt es sich, den Blick zu weiten.

SPRECHER

Denn auch Spieler und Spielerinnen in „der zweiten Liga“ leisten oft großes. Simon Marius ist dafür ein gutes Beispiel.