radioWissen - Bayern 2   /     Das DĂ©jĹ•-vu - Ein Phänomen mit mystischer Aura

Description

Das hab ich genauso schon einmal erlebt! Obwohl man dieses Gefühl hat, weiß man: das kann eigentlich nicht sein. Das Déjà-vu: Ein Stück weit bleibt es Rätsel, aber es gibt mehrere Versuche, das Phänomen zu erklären. Von der Kunst über die Philosophie bis hin zu Psychologie und Neurologie. Und einige Ansätze scheinen plausibel. Autorin: Susanne Brandl

Subtitle
Duration
00:23:36
Publishing date
2024-01-16 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/das-d-j-vu-ein-phaenomen-mit-mystischer-aura/2088781
Contributors
  Susanne Brandl
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2088781/c/feed/das-d-j-vu-ein-phaenomen-mit-mystischer-aura.mp3
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Shownotes

Das hab ich genauso schon einmal erlebt! Obwohl man dieses Gefühl hat, weiß man: das kann eigentlich nicht sein. Das Déjà-vu: Ein Stück weit bleibt es Rätsel, aber es gibt mehrere Versuche, das Phänomen zu erklären. Von der Kunst über die Philosophie bis hin zu Psychologie und Neurologie. Und einige Ansätze scheinen plausibel. Autorin: Susanne Brandl

Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Laura Maire, Thomas Loibl, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Florian Schöberl, Neurologe, Hans Markowitsch, Psychologe;
Arthur Funkhouser, Psychoanalytiker (Overvoice)

Literaturtipps:

GĂĽnther Oesterle (Hrsg.): DĂ©jĂ -vu.
Hans Joachim Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen.
C.G. Jung: Synchronizität. Der Sinn des Zufalls.

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK m01 (Achlys red alt, 1:56)

ZITATOR 

„Unsere Seele stirbt nicht und wenn sie den Körper verlässt

lebt sie fort in einem neuen Gehäuse. (…)

Ich selbst erinnere mich: Zur Zeit des trojanischen Krieges

war ich Euphorbus (sprich: Euforbus), der Sohn von Panthous (sprich: Pantus). Vor kurzem hab' ich in Junos Tempel den Schild erkannt, den ich einst an meinem linken Arm getragen.“

SPRECHERIN

So beschreibt der antike römische Dichter Ovid seine einprägsamste Déjà-vu - Erfahrung. Und die erklärt er sich damit, dass die Seele von Körper zu Körper wandert. 

Die plötzliche Erinnerung an eine Situation, die so scheint, als habe man sie genau so schon einmal erlebt, die aber trotzdem neu sein muss, fasziniert die Menschheit schon lange.

Neben Ovids Verweis auf die Wiedergeburt gibt es bis heute unzählige Thesen über die Herkunft von Déjà-vus. Die Forschung ist sich uneinig, wo in der abendländischen Antike zum ersten Mal darüber geschrieben wurde. Einer der ersten, der sich zum Déjà-vu Gedanken machte, war der Philosoph Aristoteles. Er knüpfte die Déjà-vu-Erfahrung an die Ekstase. 

Um 400 nach Christus schrieb der römische Gelehrte Augustinus, trügerische und bösartige Geister seien für derartig fälschliche Erinnerungen verantwortlich. In der Romantik sah man im Traum den Vorboten des Déjà-vus und ab 1850 gab es in der Literatur wie auch in der Wissenschaft immer mehr psychologisch und physiologisch begründete Erklärungsversuche. 

Musik Ende

Bis heute fordert das Phänomen die Forschung heraus, stellt sie immer noch vor Rätsel. Es gibt verschiedene Theorien, die mehr oder weniger plausibel klingen.

O-TON 1 Markowitsch

„Man geht von mangelhaften bewussten Erinnerungen aus, also sieht das als Gedächtnisproblem an, und zwar auf der Ebene zwischen bewusst und unbewusst.“

SPRECHERIN

So der renommierte Gedächtnisforscher und Psychologe Hans Markowitsch. Ähnlich beschreibt es der Neurologe Florian Schöberl vom Ludwig Maximilians-Uniklinikum Großhadern. Er geht davon aus: Der Betroffene täuscht sich schlicht und in Wirklichkeit hat er die Situation leicht variiert schon einmal erlebt.

O-TON 2 Schöberl

„Wahrscheinlich der biologischen Realität am nächsten kommen tatsächlich biologisch orientierte, neurowissenschaftlich orientierte Theorien. Und da ist so die bekannteste und verbreitetste Theorie die Erinnerungstheorie: Nach der geht man davon aus, dass im Grunde Konstellationen und ein Gesamtkontext von visueller Szenerie, von Gerüchen, von Temperatur, von Gehörtem sehr ähnlich ist zu einer Situation, die man schon mal in seinem Leben erlebt hat, dass man dann im Grunde leicht auch ein Déjà-vu Erlebnis bekommt und denkt, das ist die völlig gleiche Situation.“

SPRECHERIN

Aber wenn man sich nur mangelhaft erinnert oder sich täuscht, warum fühlt man sich dann im Augenblick des Déjà-vus wie erschüttert? Das fragt sich der Psychoanalytiker Art Funkhouser, der über das Phänomen promoviert hat:

O-TON 3 OVERVOICE FUNKHOUSER

„Für mich muss ein echtes Déjà-vu-Erlebnis diesen Schock haben, das Gefühl von Verwirrung, von das kann doch nicht sein, von Verblüffung und die Frage: wie kann das nur passieren?“

SPRECHERIN

Als junger Mann hatte Funkhouser selbst zwei Déjà-vu - Erlebnisse, die ihn verstört zurückließen.

O-TON 4 OVERVOICE Funkhouser

„Der Widerspruch zwischen dem, was ich erlebt hatte und dem, was ich für real hielt, war so dramatisch, dass ich dachte, das kann nicht sein und dann fragte ich Menschen und versuchte mich zu informieren, aber niemand konnte mir helfen.“

SPRECHERIN:

Das war in den 50er, 60er Jahren. In einer Zeit, in der 

Neurowissenschaftler in den USA gerade anfingen, bei epilepsiechirurgischen Eingriffen im Gehirn nachzuforschen.

O-TON 5 SCHĂ–BERL

„Wo man auch bestimmte Gehirnareale stimuliert hat und dann dort durch diese Stimulation und bewusste Erregung im Grunde Gedächtnisinhalte reaktivieren, Déjà-vus auch auslösen konnte, ja so dass es da definitiv eine neurowissenschaftliche Grundlage dafür gibt, auch wenn wir noch nicht jedes Detail verstehen.“

SPRECHERIN:

Was die Neurologen aber bereits ganz sicher wissen: Das Déjà-vu ist manchmal ein Symptom der Epilepsie. Und das hilft der Forschung wesentlich weiter. 

O-TON 6 SCHĂ–BERL

„Aus der Epilepsie Versorgung weiß man, dass ein kleiner Teil dieser Patienten als Ausdruck epileptischer Anfälle und dieser krankhaften Überregbarkeit der Hirnzellen auch Déjà-vu-Erlebnisse durchleben kann als Symptom. Und man weiß eben, dass das vor allem Patienten sind, die eine Epilepsie haben, die im mittleren Schläfenlappen entsteht.“

SPRECHERIN:

Der Schläfenlappen bildet den unteren und seitlichen Abschnitt des Großhirns und befindet sich oberhalb der Ohren, im Bereich der Schläfe. Der Zusammenhang zwischen Epilepsie, Déjà-vu-Erfahrung und mittlerem Schläfenlappen lässt vermuten, …

O-TON 7 SCHĂ–BERL

„…dass v.a. der mittlere Schläfenlappen, der für die Gedächtnisbildung sehr wichtig ist und wo auch Emotionen mit verarbeitetet werden, dass das die entscheidenden und wesentlichen Hirnareale auch sind bei der Entstehung von Déjà-vus.“

SPRECHERIN:

Hierin stimmt auch der Physiker und promovierte Psychoanalytiker Art Funkhouser überein. 

Doch es gibt einen Aspekt des Déjà-vus, an dem die Wissenschaft nicht mehr weiterkommt: die Präkognition. 

Musik m02 (Eclipse, 0:25)

Personen, die ein Déjà-vu erleben, meinen manchmal zu wissen, was im nächsten Moment geschieht, da sie die Situation ja vermeintlich schon einmal erfahren haben. Was gleichbedeutend damit wäre, die Zukunft voraussagen zu können. Betroffene erzählen, dass die Dinge, die sie im Déjà-vu voraussahen, dann im darauffolgenden Moment genau so geschahen. 

So berichtet es auch Funkhouser, der mit ca. 16 Jahren ein einprägsames Déjà-vu-Erlebnis hatte: Er habe innerhalb des Déjà-vus voraussagen können, was dann in Wirklichkeit Sekunden später passierte. Eines Tages fuhr er mit den Nachbarsjungen Fahrrad und da hatte einer die Idee, mit den Fahrrädern verstecken zu spielen und fuhr davon, um ein Versteck zu finden. 

O-TON 8 OVERVOICE Funkhouser

„Es dauerte nicht lange, bis wir realisierten, dass es viel zu viele Orte gäbe, um unseren Freund zu finden. Also fuhren wir zurück zu meinem Haus und um dahin zu kommen, mussten wir bei der nächsten Ecke rechts fahren und mein Haus war an der darauffolgenden Ecke. Noch bevor wir um diese Ecke fuhren, wusste ich, dass unser Kumpel, den wir noch nicht gefunden hatten, hinter der Ecke gerade sein Fahrrad ablegte. Und als wir um die Ecke kamen, passierte das tatsächlich, genau so.“ 

Musik Ende

SPRECHERIN:

Nach einer weiteren Erfahrung war Funkhouser so perplex, dass er sich intensiver auf die Suche begab, bis hin zur Recherche für seine Promotion. Er fand viele weitere Déjà-vu-Berichte. Unter anderem von dem englischen Dichter Percy Bysshe Shelley, der nach eigenen Angaben in einem Traum eine Situation voraussah, die dann tatsächlich passierte und ihm ein Déjà-vu bescherte. Er hatte diese Erfahrung in Oxford, wo er mit einem Freund spazieren ging. 

Musik m03 (Sphere ME 08, 0:20)

ZITATOR

“Die Situation war gewöhnlich. Aber den Eindruck, den sie auf mich machte, hätte ich so nie erwartet. Plötzlich erinnerte ich mich, dass ich genau diese Situation in einem Traum schon einmal erlebt hatte … Ich musste den Ort sofort verlassen, überwältigt von einem entsetzlichen Grauen.“ 

Musik Ende

O-Ton 9 OVERVOICE Funkhouser

„Shelley empfand das als so massiv, dass er für lange Zeit ausgeknockt war - weil es nicht zu dem passte, was er über die Wirklichkeit wusste. Er war ein sehr feinfühliger Typ.“

SPRECHERIN

Eine weitere Form von Präkognition im Rahmen eines Déjà-vus widerfährt Goethe, wenn er auch weniger geschockt als vielmehr besonnen reagiert. Er schreibt in Dichtung und Wahrheit:

Musik m05 (SfaĂ­ra, 0:45)

ZITATOR:

„Nun ritt ich auf dem Fußpfad gegen Drusenheim und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich nicht mit den Augen des Leibes sondern des Geistes, mich mir selbst den selben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen und zwar in einem Kleid wie ich es nie getragen. Es war grau und etwas gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, dass ich nach acht Jahren in dem Kleid, dass mir geträumt hatte und das ich nicht aus der Wahl sondern aus Zufall gerade trug, mich auf dem selben Weg fand, um Frederike noch einmal zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten. Das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige Beruhigung.“ 

O-TON 10 Markowitsch 

„Er war ja in die Friederike verliebt und da hat er offenbar das Traumbild gehabt … wenn sowas stimmen würde oder man annimmt, es gäbe sowas als Präkognition, dass man schon vorher weiß, was eintreffen wird. Ich weiß es nicht, was da dran ist, aber finde es auch eine faszinierende Spekulation.“

SPRECHERIN

Der Neurologe Florian Schöberl aber hält Spekulationen über Parallelwelten bis hin zur Theorie, es gäbe einen Fehler in der Matrix, für wissenschaftlich nicht tragfähig. Auch so etwas, wie scheinbar präkognitive Ahnungen, seien neurologisch erklärbar.

O-TON 11 Schöberl

„Wir wissen ja auch mittlerweile, dass der Schlaf und vor allem auch der Traumschlaf ne wichtige Funktion hat in der Gedächtnisbildung und da oft Inhalte, die man tagsüber so oder die letzten Tage davor erlebt hat, dass die sich dann wirklich verfestigen, so dass es jetzt auch deswegen neurowissenschaftlich natürlich genauso erklärbar ist, dass ich Situationen, die ich im Grunde träume eine verblüffende Ähnlichkeit haben können zu Situationen und Konstellationen, die ich dann tagsüber in meinem wirklichen Leben durchlebe.“

SPRECHERIN: 

Auch der Psychoanalytiker Funkhouser spekuliert nicht. Er glaubt aber, dass so etwas wie Präkognition ein mystisches Phänomen ist, das bisher nicht zu erklären ist.

O-TON 12 OVERVOICE Funkhouser

„Wenn wir eine Situation oder einen Ort wirklich vorausträumen könnten, dann wäre diese Präkognition, die da involviert ist, ein Problem. Denn dann wissen wir nicht wie viel freien Willen wir haben, wenn die Zukunft schon so präzise und klar angelegt ist. Da ist auch das physikalische Problem der Kausalität. Die Ursache ist noch nicht passiert, aber wir kennen schon das Ergebnis. Das sind heikle Probleme.“

SPRECHERIN:

Der Tiefenpsychologe und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung war von Déjà-vu-Erlebnissen und präkognitiven Träumen so beeindruckt, dass er versuchte, darauf ein Konzept anzuwenden, das er in engem Austausch mit dem Quantenphysiker Wolfgang Pauli entwickelte: Das Konzept der Synchronizität. Die ist dann vorhanden, wenn das Kausalitätsprinzip versagt - wie in der Quantenphysik, so Jung:

Musik m06 (Calls from the other world, 0:35)

ZITATOR

„Die Ergebnisse der modernen Physik haben eine bedeutende Veränderung unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes herbeigeführt (…), weil sich sehr kleine Größen nicht mehr den bekannten Naturgesetzen gemäß verhalten. 

SPRECHERIN:

Zum Déjà-vu notiert er: 

ZITATOR:

„Das (…) Déjà-vu beruht (…) auf einem Vorauswissen in Träumen, das (…) auch im Wachen vorkommt. In solchen Fällen wird der bloße Zufall äußerst unwahrscheinlich.“

SPRECHERIN:

Carl Gustav Jung unterscheidet sich in seiner Faszination für Déjà-vu -Erlebnisse stark von seinem Kollegen Sigmund Freud. Der hielt parapsychologische Ereignisse für Unsinn: 

ZITATOR:

„Ein naiv-mystischer unpsychologischer Erklärungsversuch will die Phänomene des Déjà-vu als Beweise für frühere Existenzen unseres seelischen Ichs verwerten.“

SPRECHERIN:

Dennoch beschäftigte sich Freud mit dem Déjà-vu. Sein Interesse galt weniger der Herkunft des Déjà-vus als der Frage, welche Funktion es innerhalb des psychischen Haushalts einnimmt. In einem Brief von 1936 notiert er, Déjà-vus seien Versuche der Psyche, dem Ich etwas vertraut erscheinen zu lassen. Es seien: 

ZITATOR:

„Täuschungen, in denen wir etwas als zu unserem Ich gehörig annehmen wollen.“ 

O-TON 13 Markowitsch:

„Also Freud und französische Forscher aus dem vorletzten Jahrhundert, also so 1880 rum, haben sich mit dem Déjà-vu beschäftigt und es im Grunde als eine psychische Fehlleistung interpretiert. Freud hat es in einem Atemzug benutzt mit Sich-Versprechen, ging davon aus, dass dahinter ein gestörtes Ich steht. Also ein Ich, das mit sich selbst nicht so im Reinen ist.“

SPRECHERIN:

So der Gedächtnisforscher Hans Markowitsch. Aber heute entwarnen sowohl Psychologie als auch Neurologie. Seltene bis gelegentliche Déjà-vus seien keine Merkmale einer physischen oder psychischen Labilität. Allerdings gibt es offenbar bestimmte Faktoren, die das Auftreten dieser Erfahrung wahrscheinlicher machen. 

Einer der ersten, der sich dazu Gedanken machte, war der britische Arzt Arthur Wigan. Er gehörte zu der Gruppe von Forschern, die im 19. Jahrhundert begannen, das Déjà-vu wissenschaftlich zu untersuchen. In seiner Schrift „The duality of mind“ von 1844 beschreibt er ein Déjà-vu, das ihm im Schloss Windsor, bei der Beerdigung von Prinzessin Charlotte von Wales, widerfuhr.

Musik Kirche Gottesdienst 

Musik m08 (Autumn gale, 0:42)

ZITATOR

„Ich hatte vor der Beisetzung einige Nächte nicht geschlafen und der zusätzliche Mangel an Schlaf der vergangenen Nacht versetzte meinen Geist in eine hysterische Gereiztheit, die durch meine Trauer, Schwäche und Hunger und noch stärker wurde. Ich war nun schon vier Stunden gestanden (…) und war in einen benommenen Tagtraum gefallen. (…) Plötzlich fühlte ich die absolute Gewissheit, dass ich die gesamte Situation zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal erlebt hatte.“

SPRECHERIN

Dieses Erlebnis veranlasste Wigan das Déjà-vu noch weiter zu durchdringen und er kam zu folgender These: Solche Erfahrungen würden nur dann auftreten, wenn jemand so müde oder erschöpft ist, dass eine Gehirnhälfte mehr oder weniger unaufmerksam bis abwesend ist, während etwas passiert. Die eine Gehirnhälfte sieht etwas, die andere nimmt es nicht bewusst wahr, weil sie gerade abgedriftet ist. Unbewusst aber speichert sie die Situation ab. Wenn sie das Geschehen dann plötzlich wieder bewusst wahrnimmt, dann kommt ihr das Gesehene vertraut vor. 

Die Theorie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass Müdigkeit die Wahrscheinlichkeit eines Déjà-vu erhöht, ist bis heute nicht widerlegt. Im Gegenteil, sie wird sogar gestützt. So auch vom Neurologen Florian Schöberl, der neben Erschöpfung noch weitere Faktoren nennt, zum Beispiel: 

O-TON 14 Schöberl

„Gewisse visuelle olfaktorische Trigger, also Gerüche, die einen wirklich an eine gewisse Situation dann wieder erinnern, die man schon mal durchlebt hat. Man kann es aber nicht runterbrechen und sagen, OK, das sind jetzt die zwei oder drei klassischen Konstellationen und nur dann kommen Déjà-vus und in anderen Konstellationen nicht. 

SPRECHERIN:

Wobei eine bestimmte Altersgruppe offenbar besonders betroffen ist:

O-TON 15 Schöberl:

„Also es gibt eben diese Befragungen, die man so übers letzte Jahrhundert mehrfach in verschiedenen Regionen der Welt durchgeführt hat und nach dem, was man dort erhoben hat, ist es tatsächlich so, dass wirklich so das junge bis mittlere Erwachsenenalter so das typische Alter ist, wo am häufigsten über diese Erlebnisse berichtet wird und das dann im höheren Alter wieder weniger wird. 

SPRECHERIN:

Die meisten Menschen, die dieses sekundenlange Phänomen erleben, wissen, dass sie gerade ein Déjà-vu haben und können das auch benennen. Auch wenn es oft schwer in Worte zu fassen ist, was da gerade genau geschieht. 

Musik m09 (Every breath a prayer C, 1:10)

Die Forschung im 19. Jahrhundert aber wollte das Déjà-vu als solches präzise beschreiben und klassifizieren. Und dazu gehörte, es erst einmal zu benennen. Das geschah 1876: In einer philosophischen Publikation nannte der französische Wissenschaftler Emile Boirac das rätselhafte Gefühl, etwas bereits gesehen zu haben, „Déjà-vu“, zu Deutsch: „Schon gesehen“. Angeblich soll Boirac von seinem Zeitgenossen, dem Dichter Paul Verlaine dazu inspiriert worden sein. 

ZITATOR

In dem StraĂźenherzen einer Stadt im Traum

Wird dir einmal sein, als hast du schon gelebt,

Ein Gefühl, so klar und haltlos doch wie Schaum –

O die Sonne, die durch Nebel schwebt!

Musik Ende

SPRECHERIN:

Dies sind nur die Anfangsverse eines längeren Gedichts, das dem Gefühl des Gesehenhabens auf metaphorisch-poetische Weise besonders gerecht wird. Wobei Verlaine nicht direkt von „Gesehenhaben“ spricht. Er spricht von „Deja vecu“, also von schon „erlebt“ haben. 

Damit fasste er das Déjà-vu noch weiter. 

Bis zur Moderne hatten verschiedene Forscher unterschiedlich genaue Begrifflichkeiten. Um 1900 aber übernahmen dann alle mehr oder weniger den Begriff „Déjà-vu“.

O-Ton 16 OVERVOICE Funkhouser: 

„Und alle anderen Begriffe fielen weg. Ich bleibe dabei: Keiner weiß wirklich, worüber wir genau reden. Das Phänomen ist so vage. Und beinhaltet so viel, dass es sehr helfen würde, wenn wir präziser werden könnten.“

SPRECHERIN:

Funkhouser selbst unterscheidet viele unterschiedliche Déjà-vu-Erlebnisse, darunter das deja revé, das deja vecu und deja visité und beschreibt das sehr detailreich.

O-Ton 17 OVERVOICE Funkhouser: 

„Deja vecu bedeutet, etwas durchlebt zu haben und diese Erfahrung haben viele während einer Situation und sie wissen, sie waren nie davor in dieser Situation, aber sie ist vertraut. Ich denke, da muss es mehrere Stufen geben, aber die meisten haben es sehr klar, wie ein richtiges Wiedererkennen – oh - und es dauert nicht lange, maximal ein paar Sekunden.“

SPRECHERIN:

Ein Deja visité hingegen sieht anders aus. Visité heißt auf Deutsch besuchen, oder besser besucht haben.

O-Ton 18 OVERVOICE Funkhouser: 

„Deja Visité bezieht weder die Zeit mit ein noch Bewegung noch irgendwelche Dinge, die passieren. Es ist mehr das Wiedererkennen eines Ortes.“

MUSIK m05 ((SfaĂ­ra, 0:43)

SPRECHERIN:

Zum Beispiel einer Landschaft. Und es scheint so, als wäre man schon einmal dort gewesen, ohne jemals dort gewesen sein zu können. 

Um dem Déjà-vu auf die Schliche zu kommen, hält Funkhouser es für unerlässlich, die einzelnen Erfahrungen voneinander abzugrenzen und genau danach zu fragen, was eigentlich untersucht wird. Ihm zufolge müssen nicht nur die neuronalen Prozesse untersucht werden, sondern auch das in den Blick genommen werden, was im Betroffenen emotional geschieht. Doch diesen Weg geht kaum ein Forscher, es sei denn es dient seinem privaten Interesse.

SPRECHERIN:

In der Hirnforschung jedenfalls wird eifrig weiter geforscht. Auch wenn das Déjà-vu hier kein zentrales Forschungsobjekt ist, so weiß man doch schon ein paar Dinge und es deutet viel darauf hin, dass das Déjà-vu eine biologische Grundlage hat. Aber wird die Neurologie dieses rätselhafte Phänomen jemals ganz verstehen können?

O-Ton 20 Schöberl

„Das ist eine ganz große Frage. Wir erlangen immer größere Kenntnisse darin, wie unser Gehirn funktioniert, wie vor allem auch höhere Hirnfunktionen wie Gedächtnisbildung funktionieren, da ist unser Verständnis in den letzten ein, zwei Jahrzehnten deutlich angewachsen, ob man natürlich irgendwann mal alles bis ins letzte Detail versteht und man irgendwann prognostizieren kann, dieser Mensch wird in seinem Leben zehn Déjà-vu Erlebnisse haben, das kann man natürlich kritisch hinterfragen und bezweifeln, ob man soweit vordringt.“

MUSIK m08 ((Autumn gale, 1:08)

SPRECHERIN:

Und es gibt ganz einfach pragmatische Probleme. Das Déjà-vu entwischt immer wieder nach Sekunden. Es lässt sich nicht messen, so der Gedächtnisforscher Hans Markowitsch.

O-Ton 21 Markowitsch: 

„Weil man es so schwer experimentell überprüfen kann. Man kann es ja nicht auf Befehl hervorrufen, sondern es tritt halt irgendwann auf. Also morgens beim Aufwachen oder nach ner langen Wanderung, wenn man ins Tal zurückkehrt. Also es lässt sich nicht so einfach evozieren. Und was man an Forschungen macht, ist dann immer, dem irgendwie nahezukommen.

Musik

SPRECHERIN:

Aber eben nicht nahe genug. Es kann noch lange dauern, bis sich das Déjà-vu der Menschheit offenbart. Vielleicht wird es auch für immer im Dunkeln bleiben. Allerdings ist das ist nicht weiter schlimm. Denn es hat auch seinen Reiz, zu rätseln, zu staunen, zu glauben oder was auch immer mit dem Nichtwissen einhergeht.