radioWissen - Bayern 2   /     Der Orientalist Karl SĂŒĂŸheim - Vergessen und wiederentdeckt

Description

Karl SĂŒĂŸheim ist Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern ein Begriff. WĂ€h-rend des Ersten Weltkrieges sind die Sprachkenntnisse des jĂŒdischen His-torikers und Orientalisten sogar unentbehrlich. Nach dem Zweiten Welt-krieg gerĂ€t Karl SĂŒĂŸheim allerdings jahrzehntelang in Vergessenheit. Autorin: Ulrike Beck

Subtitle
Duration
00:23:47
Publishing date
2024-01-19 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/der-orientalist-karl-suessheim-vergessen-und-wiederentdeckt/2088935
Contributors
  Ulrike Beck
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2088935/c/feed/der-orientalist-karl-suessheim-vergessen-und-wiederentdeckt.mp3
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Shownotes

Karl SĂŒĂŸheim ist Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern ein Begriff. WĂ€h-rend des Ersten Weltkrieges sind die Sprachkenntnisse des jĂŒdischen His-torikers und Orientalisten sogar unentbehrlich. Nach dem Zweiten Welt-krieg gerĂ€t Karl SĂŒĂŸheim allerdings jahrzehntelang in Vergessenheit. Autorin: Ulrike Beck

Credits
Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan merki, Laura Maire, Christopher Mann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Dr. Kristina Milz, Historikerin, Autorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ad hoc-AG Judentum in Bayern in Geschichte und Gesellschaft der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Referentin am Institut fĂŒr Zeitgeschichte MĂŒnchen–Berlin;
Lisa D’Angelo, Enkelin Karl SĂŒĂŸheims

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ZUM PODCAST

Literaturtipps:

Kristina Milz, „Karl SĂŒĂŸheim Bey (1878 –1947). Eine Biografie ĂŒber Grenzen“. Sehr ausfĂŒhrliche und detaillierte Biografie ĂŒber das Leben und Werk Karl SĂŒĂŸheims.

Kristina Milz, „Karl SĂŒĂŸheim (1878–1947). Ein verfolgter Wissenschaftler und seine UniversitĂ€t“. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift fĂŒr Politik und Geschichte der Bayerischen Landeszentrale fĂŒr politische Bildung. Ausgabe 02/22. Sehr kompakter und lesenswerter Artikel.

Barbara Flemming, Jan Schmidt: The diary of Karl SĂŒssheim (1878–1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Steiner, Stuttgart 2002

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1 (Z8046919109 Thomas Lemmer: Infinity 0’20)

ErzÀhler

Karl SĂŒĂŸheim. Die Historikerin Kristina Milz wird hellhörig, als sie auf den Namen stĂ¶ĂŸt. 

1.O-Ton (Kristina Milz)

Also ich habe an der LMU Magister Geschichte studiert und habe mich damit auseinandergesetzt, wie die Historiker an der LMU mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind. Und dafĂŒr habe ich mir erstmal angeschaut, wer von 1933 bis 45 in der FakultĂ€t ĂŒberhaupt da war. Und da ist mir sein Name aufgefallen. Er war 1933 noch da, im Sommersemester, und es war ein klar erkennbar jĂŒdischer Name und verschwindet dann eben sang- und klanglos. Man hört nichts mehr von ihm. Da war mir relativ schnell klar, er muss einer der Opfer der Rassenpolitik gewesen sein, also dieses Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Und dachte natĂŒrlich, dass sich im Historicum in der Bibliothek Literatur dazu finden lĂ€sst. 

MUSIK 2 (Z8046919109 Thomas Lemmer: Infinity 0’55)

ErzÀhlerin:

Doch auch nach lÀngerer Suche stellt sich heraus: Es gibt nichts. 

2.O-Ton (Kristina Milz)

Und so bin ich dann natĂŒrlich sehr neugierig worden.

ErzÀhlerin

Das Ergebnis ist eine Dissertation, die 2022 als Biografie erscheint und den Titel trĂ€gt: „Karl SĂŒĂŸheim Bey. Eine Biografie ĂŒber Grenzen“.  

Kristina Milz hat ihre Dissertation am Institut fĂŒr Zeitgeschichte in MĂŒnchen verfasst. Seit 2022 arbeitet sie auch fĂŒr die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich der Erforschung und Vermittlung jĂŒdischen Lebens in Bayern widmet.

ErzÀhler

WĂ€hrend der Recherchen zu ihrer Biographie stĂ¶ĂŸt Kristina Milz darauf, dass Jahrzehnte vor ihr im niederlĂ€ndischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt auf Karl SĂŒĂŸheim aufmerksam geworden sind. Und in langjĂ€hriger Kleinarbeit seine TagebĂŒcher ins Englische ĂŒbersetzt haben.

ErzÀhlerin

Es sind zeitgeschichtliche Dokumente von unschĂ€tzbarem Wert, die Kristina Milz damit auf Englisch zur VerfĂŒgung stehen. Um mit den ĂŒbrigen Quellen und dem Nachlass arbeiten zu können, nimmt sie Sprachunterricht am MĂŒnchner Nahostinstitut, wo der Name SĂŒĂŸheim ihrem Dozenten noch gelĂ€ufig ist:

3. O-Ton (Kristina Milz)

Das heißt, ich musste tatsĂ€chlich anfangen, erst mal TĂŒrkisch zu lernen, habe auch Arabischkurse belegt und habe dann eben das Osmanische, dafĂŒr gibt es an der LMU auch Kurse, und da bin ich auch dringesessen. Mein Osmanisch-Dozent hat auch immer gesagt: Kristina, du lernst nicht Osmanisch, Du lernst SĂŒĂŸheim!

MUSIK 3 (ZE012800105 Bamberger Symphoniker - Gustav Mahler: Blumine. Sinfonischer Satz 1’10)

ErzÀhler

Karl SĂŒĂŸheim kommt am 21. Januar 1878 in NĂŒrnberg zur Welt. Sein Vater Sigmund betreibt einen florierenden Hopfenhandel, die Mutter Clara stammt als Tochter des Fabrikanten und Politikers David Morgenstern aus sehr wohlhabenden VerhĂ€ltnissen. 

ErzÀhlerin

Karl wĂ€chst also gemeinsam mit seinem Ă€lteren Bruder Max und seiner jĂŒngeren Schwester Paula in einer wohlsituierten und jĂŒdisch-liberalen Familie auf.

ErzÀhler

Sigmund SĂŒĂŸheim möchte selbstverstĂ€ndlich, dass einer seiner Söhne das erfolgreiche GeschĂ€ft ĂŒbernehmen soll. Doch der Hopfenhandel interessiert weder Max, noch Karl. 

ErzÀhlerin

Nachdem Max nach dem Abitur seinen Weg als Jurist und spĂ€terer SPD-Politiker im Bayerischen Landtag einschlĂ€gt, entscheidet sich auch Karl gegen den Wunsch des Vaters. Er beginnt 1896, Geschichte zu studieren. ZunĂ€chst in Jena, dann in MĂŒnchen, Erlangen und Berlin. 

ErzÀhler

In Berlin besucht Karl das Seminar fĂŒr orientalische Sprachen und lernt dabei junge Gaststudenten aus dem Osmanischen Reich kennen. Woher sein Interesse an dieser Region kommt, lĂ€sst sich nur rekonstruieren.

4.O-Ton (Kristina Milz)

Das durfte seine Familie auf keinen Fall wissen, weil die Orientalistik damals ja auch noch sehr so als Orchideenfach verschrien war. Und als Karl SĂŒĂŸheim dann in Berlin war, (
) war einige Jahre zuvor das sogenannte Seminar fĂŒr Orientalische Sprachen gegrĂŒndet worden. (
) Also in dieser Zeit muss man sich vorstellen, entsteht eigentlich die Islamwissenschaft. Es entsteht dieses Fach, das sich mit dem „zeitgenössischen Orient“, wie man damals gesagt hat, beschĂ€ftigt hat. Und das ist genau das, was Karl SĂŒĂŸheim dann interessiert hat.

MUSIK 4 (NC078310117 Adrien Espinouze; Evgenios Voulgaris - Taksim & Mahur Pesrev 0‘50)

ErzÀhlerin

Gleich nach der Abgabe seiner Dissertation ĂŒber die „Preußischen Annexionsbestrebungen in Franken
“ zieht Karl SĂŒĂŸheim 1902 fĂŒr einige Jahre nach Konstantinopel. Um dort seine Sprachkenntnisse im TĂŒrkischen und Arabischen zu vertiefen.

ErzÀhler

In Konstantinopel erlebt der frisch promovierte Historiker eine ganz andere AtmosphÀre als im Kaiserreich.

5.O-Ton (Kristina Milz)

Als er zuerst nach Konstantinopel gekommen ist und sich vor allem in diesem sultanstreuen Umfeld bewegt hat, war er ja durchaus an der einen oder anderen Stelle mit Antisemitismus konfrontiert. (
)

Aber bei ihm ist es tatsĂ€chlich so, dass er erstmals in seinem Leben nicht in erster Linie als Jude wahrgenommen wird. In ihm wird vor allem der deutsche Wissenschaftler gesehen, der sich diese Sprachen so gut angeeignet hat und mit dem man jetzt eben ĂŒber Politik und Geschichte und dergleichen diskutieren kann. Und noch sehr viel evidenter wird das dann, wenn er sich mit den sogenannten JungtĂŒrken abgibt, also der osmanischen Opposition, die sehr nach Westen ausgerichtet war, die sehr auf Modernisierung geschaut hat und auch genau das einfordern wollte vom Sultan. 

ErzÀhlerin

Karl SĂŒĂŸheim ist selbst zunĂ€chst ĂŒberzeugter Konservativer und Monarchist.

6.O-Ton (Kristina Milz)

Als Karl SĂŒĂŸheim ins Osmanische Reich kam, war er politisch Ă€quivalent eigentlich aufgestellt zu seiner Einstellung im Kaiserreich also sehr königstreu und patriotisch. Und hat dann aber eben dadurch, dass er diesen Kontakt mit den JungtĂŒrken in Kairo hatte, zum ersten Mal die Idee des Tyrannensturzes fĂŒr sich auch akzeptiert. Und war dann auch mitten im Zentrum dieser Revolution.

ErzÀhler

Die Jahre im Osmanischen Reich sind in SĂŒĂŸheims Leben in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Er, der Zeit seines Lebens kein guter Netzwerker war, sucht plötzlich die NĂ€he zu orientalischen Intellektuellen und knĂŒpft Kontakte. Dabei findet er auch den Zugang zu seinem Glauben.

7.O-Ton (Kristina Milz)

Er macht es in seinem Tagebuch gar nicht so explizit, an welcher Stelle es dann so ist, dass er wirklich jĂŒdisch glĂ€ubig wird. Aber man sieht, er beschĂ€ftigt sich eben mit dem Islam auch sehr intensiv. Er hat zum Beispiel Kontakt mit dem Islamgelehrten Musa Kazim, der spĂ€ter dann der ScheichĂŒlislam, also der Großmufti eigentlich von Konstantinopel wird. Also das ist derjenige, der SĂŒĂŸheim zum Islam bringen will und da wird viel diskutiert. Und als er sich dann davon wieder abgrenzt und abwendet, findet er immer mehr Kontakt, auch mit den orientalischen Juden und beschĂ€ftigt sich dann damit und kommt dann eben sehr glĂ€ubig zurĂŒck.

MUSIK 5 (Produktionsmusik: N/A - Mash'aal instrumental 0’52)

ErzÀhlerin

Karl SĂŒĂŸheim ist 30 Jahre alt, als er zurĂŒckkehrt und an der Uni MĂŒnchen beginnt, seine Habilitation zu schreiben. Darin beschĂ€ftigt er sich mit der Geschichte der Dynastie vor den Osmanen: den Seldschuken.

ErzÀhler

Als frisch habilitierter Privatdozent gibt er ab 1911 an der MĂŒnchner UniversitĂ€t Kurse in Arabisch, Persisch und Osmanisch. Anfangs ist die Zahl seiner Studenten noch ĂŒberschaubar, aber mit Beginn des Ersten Weltkrieges Ă€ndert sich das schlagartig. 

ErzÀhlerin

Mit dem Osmanischen Reich als VerbĂŒndeten wollen plötzlich viele Studenten TĂŒrkisch lernen. Es entsteht ein regelrechter Boom auf die Expertise des Karl SĂŒĂŸheim. Wobei er nicht nur an der Uni gefragt ist.

8.O-Ton (Kristina Milz)

Im Ersten Weltkrieg war es so, dass SĂŒĂŸheim nicht eingezogen wurde, weil er eben an der Heimatfront, wie man es nannte, unentbehrlich war. Das lag daran, dass er eben als einer der wenigen diese Sprachkenntnisse hatte und dann in vielerlei Hinsicht helfen konnte zu Hause. Zum einen bei der bayrischen MilitĂ€rzensur hat er gearbeitet. Er hat aber auch als Dolmetscher gearbeitet. Wenn zum Beispiel jungtĂŒrkische Delegationen zu Besuch waren, dann ist er mit denen mitgefahren und hatte eben ĂŒbersetzt.

MUSIK 6 (Z8046986106 Sercan Halili - Nikriz sirto 0’35)

ErzÀhler

Ab 1919 unterrichtet Karl SĂŒĂŸheim als außerordentlicher Professor die Sprachen Arabisch, Persisch und TĂŒrkisch. Er ist inzwischen 41 Jahre alt und noch immer Junggeselle. 

ErzÀhlerin

Karl findet erst acht Jahre spÀter die Frau, die zu ihm passt. Mit Karolina Plank, einer tiefglÀubigen Katholikin. Ausgerechnet er, der als einziger in seiner Familie ein glÀubiger Jude ist, lÀsst sich 1927 auf eine gemischt-konfessionelle Ehe mit Karolina ein.

9.O-Ton (Kristina Milz)

Man muss aber schon auch sagen, das war sicher fĂŒr ihn ein großer Schritt zu gehen, weil er davor sehr, sehr lange explizit nach einer jĂŒdischen Frau gesucht hat. Er hat sich dann aber von seiner Frau versprechen lassen, dass er fĂŒr die religiöse Erziehung der Kinder zustĂ€ndig sein wird in der Ehe. Und wir reden vom Jahr 1927. Da hat sie sich auch darauf eingelassen, weil sie auch noch ĂŒberhaupt gar nicht wusste, was das fĂŒr Auswirkungen haben wird.

ErzÀhler

1929 kommt Tochter Margot zur Welt, die zweite Tochter Gioconda wird 1934 geboren. Ein Jahr, nachdem sich fĂŒr Karl SĂŒĂŸheim und seine Familie alles verĂ€ndert hat.

10.O-Ton (Kristina Milz)

1933, kann man zweifellos sagen, dass das das allerschlimmste Jahr in seinem ganzen Leben war. Also neben der nationalsozialistischen MachtĂŒbernahme stirbt erstmal sein Bruder an einem Schlaganfall. Dann wird durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihm seine Stelle an der UniversitĂ€t genommen. Und seine Mutter stirbt auch noch in diesem Jahr. Also alles passiert innerhalb eines Jahres, und da ist der Bruch zwischen der Zeit davor und diesem Jahr ganz extrem in den Quellen.

ErzÀhlerin

Nach der Pogromnacht vom November 1938 wird Karl SĂŒĂŸheim fĂŒr 16 Tage im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er schreibt ĂŒber diese Zeit auf Arabisch in sein Tagebuch und schafft damit laut Kristina Milz ein einzigartiges Dokument. In dem er nicht nur nĂŒchtern Fakten fĂŒr die Nachwelt festhĂ€lt, sondern auch sehr akkurate Skizzen vom Konzentrationslager anfertigt, die er auf Arabisch beschriftet.

11.O-Ton (Kristina Milz)

Und man muss sich vorstellen, er war jemand, der natĂŒrlich ein relativ behĂŒtetes Leben hatte. Und plötzlich kommt er in dieses Konzentrationslager, sieht, dass Menschen erschossen werden. Sieht, dass Menschen zusammenbrechen, wird geschlagen, weil er sich nicht als Judenschwein bezeichnen will. All diese Dinge passieren ihm dort. Und nachdem er zuvor immer gesagt hat, er geht nicht aus Deutschland weg, weil das seine Heimat ist – Bayern, seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Bayern –, denkt er dann um. Dabei muss man aber auch wissen, dass er unterschreiben musste, dass er das Land verlassen wird, als er aus dem Konzentrationslager entlassen wird.

ErzÀhler

Erst im Sommer 1941 gelingt es Karl SĂŒĂŸheim mit seiner Frau und den Töchtern, nach Istanbul zu emigrieren. Sie sind eine der letzten Familien in Bayern, die der Schoa entkommen sind. Ein Teil seiner Privatbibliothek wird beschlagnahmt und landet in der Bayerischen Staatsbibliothek.

ErzÀhlerin

Da aber auch die TĂŒrkei zu diesem Zeitpunkt eigentlich keine deutschen Juden mehr aufnimmt, musste das tĂŒrkische Kabinett eine Ausnahme fĂŒr Karl SĂŒĂŸheim beschließen. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist damit verbunden, dass er an der dortigen UniversitĂ€t unterrichtet. Damit steht er zwar unter Druck, aber auch endlich wieder im Hörsaal. Die Bedingungen an der UniversitĂ€t Istanbul brachten fĂŒr Karl SĂŒĂŸheim einige Herausforderungen mit sich: Er musste um seinen Professorentitel kĂ€mpfen, seine PublikationstĂ€tigkeit war eingeschrĂ€nkt. Auch in der Lehre musste er sich erst eingewöhnen.

12. O-Ton (Kristina Milz)

Man muss sich auch diese Situation mal vorstellen, also er hatte jahrelang wĂ€hrend des Nationalsozialismus wenige SchĂŒler bis gar keine SchĂŒler. Er hatte vielleicht noch ein paar Privatstunden gegeben fĂŒr die Leute, die sich das getraut haben. Und plötzlich ist er da in der TĂŒrkei und steht vor vollen HörsĂ€len, und alle wollen ĂŒber die tĂŒrkische Geschichte bei ihm lernen. Es ist auch interessant, weil in seinem Nachlass finden sich die Inskriptionslisten, wo man die ganzen Namen der tĂŒrkischen Studierenden sieht, die sich fĂŒr seine Vorlesungen angemeldet haben. Und es sind seitenweise EintrĂ€ge.

MUSIK 7 (Produktionsmusik: Roman Raithel – Arabic Keys 1’10)

ErzÀhler

Karl SĂŒĂŸheim bleiben nur wenige Jahre im Exil. Er stirbt am 13. Januar 1947 mit nur 68 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. Und wird auf dem jĂŒdischen Friedhof in Istanbul beerdigt.

An seinem Grab spricht der jĂŒdische Romanist Erich Auerbach die Worte:

Zitator

Auf dem Gebiet der tĂŒrkischen Geschichte wird der Name Karl SĂŒssheim nicht vergessen werden und nicht vergessen werden können.

ErzÀhlerin

Was SĂŒĂŸheims Reputation in der TĂŒrkei angeht, sollte Auerbach Recht behalten. Doch in Deutschland passiert das Gegenteil: Der einstige Professor fĂŒr orientalische Sprachen und die „Geschichte der mohammedanischen Völker“ gerĂ€t in Vergessenheit. 

ErzÀhler

Nicht zuletzt, weil die Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t keinen Nachruf auf ihren einstigen Professor Karl SĂŒĂŸheim herausgibt. Obwohl eine WĂŒrdigung von ehemals verfolgten Wissenschaftlern in der Nachkriegszeit eigentlich zum Standard gehört.

ErzÀhlerin

Und auch SĂŒĂŸheims Witwe wird lange ignoriert. Karolina, die nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert ist, wendet sich 1947 mit der Bitte um eine Witwenrente an die Uni. Und muss 11 Jahre lang dafĂŒr kĂ€mpfen:

13.O-Ton (Kristina Milz)

Man könnte ja meinen, so wie ich auch eben damals auf ihn gestoßen bin, dass er eben einfach vergessen wurde. Man sieht aber sehr deutlich eben an den Quellen auch im UniversitĂ€tsarchiv, dass das nicht der Fall war, weil die LMU fast 20 Jahre lang damit beschĂ€ftigt war, kein Geld auszugeben in der Sache SĂŒĂŸheim. Also diese Quellen im UniversitĂ€tsarchiv, die betreffen die UniversitĂ€t, das Finanzministerium, das Kultusministerium und so weiter. Und man sieht daran auch, dass zum Beispiel noch mit nationalsozialistischer Gesetzgebung wirklich argumentiert wird. Also es wird dann zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob seine Witwe Witwenrente bekommt, mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 argumentiert.  Und es stellt sich bei ihm sehr lange nicht einmal die Frage in den Dokumenten, was denn mit ihm passiert wĂ€re, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hĂ€tte. 

MUSIK 8 (Produktionsmusik: N/A – Mercy Gate 0’45)

ErzÀhler

Erst nachdem Karolina SĂŒĂŸheim 1951 die United Restitution Organization bevollmĂ€chtigt, sich ihres Falls anzunehmen, fordert das Kultusministerium die Personalakte SĂŒĂŸheims bei der Uni an. 

ErzÀhlerin

Es werden Gutachten in der Causa SĂŒĂŸheim eingeholt. Unter anderem vom Dekan der Philosophischen FakultĂ€t Anton Spitaler, der wĂ€hrend der NS-Zeit Stipendiat der gleichgeschalteten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bei der Korankommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Und im Zweiten Weltkrieg der Wehrmacht in Belgien und Frankreich als Dolmetscher gedient hatte. In seinem Gutachten fĂ€llt Spitaler ein vernichtendes Urteil ĂŒber seinen ehemaligen Lehrer.

14.O-Ton (Kristina Milz)

Anton Spitaler (
) wurde direkt gefragt, wie die Karriere von Karl SĂŒĂŸheim weitergegangen wĂ€re, hĂ€tte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Und dieses Gutachten ist wirklich erstaunlich vernichtend. (
) Er macht seine Sprachenkenntnisse zum Beispiel sehr schlecht, sagt die wĂ€ren nicht vorhanden gewesen. Das sind ganz offensichtliche LĂŒgen, die in diesem Gutachten drinstehen. Und an einer Stelle schreibt er sogar noch, er hĂ€tte durchaus etwas von Karl SĂŒĂŸheim gelernt, aber das hĂ€tte er eher aus ihm herausgeholt, als dass SĂŒĂŸheim es ihm gegeben hĂ€tte. Das war natĂŒrlich sehr bezeichnend. Und man muss sich vor Augen halten, dass es zu dem Zeitpunkt ja ĂŒberhaupt nicht mehr darum ging, Karl SĂŒĂŸheims Karriere voranzutreiben oder dergleichen, er war ja lĂ€ngst tot. Also es ging wirklich nur noch darum, seine Familie zu entschĂ€digen.

ErzÀhler

Dieses Gutachten geht in die Bewertung des Falles ein. Erst 11 Jahre nach dem Tod ihres Mannes bekommt Karolina SĂŒĂŸheim ab 1958 eine entsprechend kleine EntschĂ€digung. Weitere sieben Jahre spĂ€ter wird der Fall zu den Akten gelegt.

MUSIK 9 (Produktionsmusik: Goksun Cavdar: Bosnia Herzegowina 0’27)

ErzÀhlerin

WĂ€hrend in Bayern der Name SĂŒĂŸheim bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in Vergessenheit gerĂ€t, machen sich im niederlĂ€ndischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt daran, SĂŒĂŸheims TagebĂŒcher ins Englische zu ĂŒbersetzen. Zeitgeschichtliche Dokumente von unschĂ€tzbarem Wert, die lange Zeit unentdeckt waren. 

15.O-Ton (Kristina Milz)

Weil er sehr viele Handschriften gesammelt hat, im Laufe seines Forscherlebens also originale Handschriften aus dem Nahen Osten und die auch zusammengehalten hat. Seine Witwe hat diese Handschriftensammlung dann verkauft, und die ist in Teilen in Berlin und in Teilen in Washington gelandet. Und in Berlin – bei diesen Handschriften befand sich eben auch sein Tagebuch, was die Witwe bestimmt nicht gewusst hat, weil das natĂŒrlich nicht unterscheidbar war zu anderen Notizen, die er gemacht hat fĂŒr sie, weil es in fremden Sprachen war. Und deswegen sind eigentlich Wissenschaftler erstmals wieder mit ihm in Kontakt gekommen, weil sie sich seine Handschriften angeschaut haben und dann das Tagebuch gefunden haben.

ErzÀhler

Die Edition „The Diary of Karl SĂŒssheim“ erscheint 2002 und löst eine Welle der Erinnerung aus. Oder wie die FAZ damals schreibt:

Zitator

Erst die kommentierte Übersetzung der TagebĂŒcher gibt SĂŒssheim sein Leben zurĂŒck, macht aus dem Vergessenen und Unbekannten einen an allem interessierten Menschen im Wirbel des dramatischen Geschehens der ersten HĂ€lfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

MUSIK 10 (Produktionsmusik: N/A – Mercy Gate 0’23)

ErzÀhlerin

Nicht nur die Bayerische Staatsbibliothek setzt ab 2003 ein Restitutionsverfahren ein, sondern auch die Provenienzforschung des Stadtarchivs NĂŒrnberg wird aktiv. Und setzt sich mit der Familie SĂŒĂŸheim in Verbindung. FĂŒr Lisa D’Angelo, der Enkelin von Karl SĂŒĂŸheim, eröffnet sich damit ein ganz neuer Zugang zur eigenen Familiengeschichte:

16.O-Ton (Lisa D‘Angelo)

2014 hatte ein Archivar das Internet genutzt, um meine 84-jĂ€hrige Tante Margot in New York ausfindig zu machen, wo sie seit ĂŒber 65 Jahren lebte. Er wollte sie wissen lassen, dass das Archiv ein antikes Buch mit dem SĂŒĂŸheimer Exlibris besaß. Und dieses Buch war von den Nazis beschlagnahmt worden, kurz bevor mein jĂŒdischer Großvater und meine katholische Oma und ihre beiden MĂ€dchen nach Istanbul geflohen waren. Und als das NĂŒrnberger Archiv mit meiner Tante Margot Kontakt aufgenommen hat, hat sich uns natĂŒrlich eine ganz neue Welt der Familie SĂŒĂŸheim eröffnet. 

ErzÀhler

Margot SĂŒĂŸheim ist es, die beginnt, als Zeitzeugin ĂŒber ihren Vater zu sprechen. Und auch ihrer Nichte einige Details ĂŒber die Schwierigkeiten ihrer Familie wĂ€hrend der Nazizeit zu erzĂ€hlen. Allerdings erst, als Lisa erwachsen ist.

17.O-Ton (Lisa D‘Angelo)

Ehrlich gesagt, wusste ich nur sehr wenig ĂŒber meinen Großvater. Als Kind hörte ich, dass mein Großvater ein Sprachwissenschaftler war, der etwa 15 Sprachen beherrschte. Ich hörte auch, dass seine Mutter Clara ein bisschen schwierig war. Und sie sammelte auch Dinge, die mein Großvater auch geerbt hatte.

Und seine Vorliebe fĂŒr das Sammeln von BĂŒchern rettete tatsĂ€chlich die Familie, denn meine Oma verkaufte seine umfangreiche BĂŒchersammlung an die Yale University in den USA, um die Schiffstickets zu kaufen, mit denen sie von Istanbul nach New York auswandern konnten. 

ErzÀhlerin

Lisa D’Angelo ist das öffentliche Gesicht der Familie SĂŒĂŸheim. Sie verwaltet nicht nur den privaten Nachlass ihres Großvaters, sondern reist auch nach Deutschland, um Ausstellungen zu eröffnen oder VortrĂ€ge zu halten. So wie 2022 im MĂŒnchner Literaturhaus. Da hatte sie die weite Anreise von Chicago auf sich genommen, um zur Vorstellung von Kristina MilzÂŽ Biografie „Karl SĂŒĂŸheim Bey“ zu sprechen; der ersten umfassenden Biografie des bedeutenden bayerischen Orientalisten.

MUSIK 11 (Z8046919112 Thomas Lemmer: Faith 0’40)

ErzÀhler

Karl SĂŒĂŸheim hat ein kostbares Erbe hinterlassen. Eines, das viel zu lange im Verborgenen geblieben ist, sagt Kristina Milz:

18.O-Ton (Kristina Milz)

Ich finde es vor allem eben sehr wichtig, weil oftmals davon ausgegangen wird, man hĂ€tte zum Nationalsozialismus schon alles erzĂ€hlt. Und gerade die Geschichte von Karl SĂŒĂŸheim zeigt auch mal wieder, dass wir noch lange nicht fertig sind damit, diese Zeit uns anzuschauen.