In der SpÀtsteinzeit entstand in Europa die Glockenbecherkultur. Genetiker und ArchÀologen sind gemeinsam der Frage auf der Spur, wie diese weitlÀufige Kultur entstanden ist. Autor: Matthias Hennies (BR 2019)
In der SpÀtsteinzeit entstand in Europa die Glockenbecherkultur. Genetiker und ArchÀologen sind gemeinsam der Frage auf der Spur, wie diese weitlÀufige Kultur entstanden ist. Autor: Matthias Hennies (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Constanze Fennel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Elisabeth Reuter, Töpferin, Friedland;
Prof. Philipp Stockhammer, LMU MĂŒnchen;
Dr. Wolfgang Haak, MPI fĂŒr Menschheitsgeschichte, Jena;
Dr. Guido Brandt, MPI fĂŒr Menschheitsgeschichte, Jena;
Prof. Harald Meller, LandesarchÀologe von Sachsen-Anhalt, Halle
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo 1 Werkstatt 43:35Â
Schmirgeln, Klopfen, Wasser rauscht
Sprecher
Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton. Trennt ein StĂŒck ab und formt ein GefĂ€Ă.Â
1. O-Ton Reuter 13:20
GerÀusche. Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden HÀnden gleichzeitig -
Atmo 2 Werkstatt 39:27 unterlegen
MUSIK
Sprecherin / Titel
Glockenbecher â ArchĂ€ologie und Genetik der Jungsteinzeit. Eine Sendung von Matthias Hennies (âHĂ©nnjesâ).
Sprecher
Elisabeth Reuter töpfert einen Becher, der in der Jungsteinzeit, im 3. Jahrtausend vor Christus, in ganz Europa verbreitet war. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der sich Tongeschirr viel schneller produzieren lĂ€sst. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist Spezialistin fĂŒr GefĂ€Ăe aus frĂŒhen Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes SchĂ€lchen, Basis fĂŒr einen âGlockenbecherâ, der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, gröĂer wird.Â
2. O-Ton Reuter 17:45
Und damit das GefÀà breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drĂŒcke es auch noch nach auĂen. Wir brauchen die Glockenform.
MUSIK
Sprecher
Der âGlockenbecherâ ist ein gutes, grĂŒndlich erforschtes Beispiel fĂŒr eine groĂe Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In einer Epoche, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in groĂen, gut organisierten Staaten, nicht in dicht bevölkerten StĂ€dten lebten: Haben Einwanderer in jenen Zeiten neues Gedankengut eingefĂŒhrt? Oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende oder HĂ€ndler, als Ideen-Transfer?
Atmo 3, 35:25Â (50:50)
SchabenÂ
3. O-Ton Reuter 45:59
Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glĂ€tten und oben auseinanderzuziehen-Â
Sprecher
Das GefÀà erinnert an eine Glocke, die auf dem Kopf steht: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der sich wieder zu einer weiten MĂŒndung öffnet. Es war mit regelmĂ€Ăigen Linien und Mustern verziert. Die Töpferin demonstriert, wie man sie herstellt: Sie legt behutsam eine Schnur um das weiche, ungebrannte GefĂ€Ă.Â
4. O-Ton Reuter 53:08
Das sind so Kordeln, gedrehte, die kann ich in den Ton eindrĂŒcken, muss ich mit gutem AugenmaĂ arbeiten, ich habe jetzt eine Linie rund um mein GefÀà eingedrĂŒckt, das sieht man als leichte schrĂ€ge Spuren in dieser Linie.Â
MUSIK
Sprecher
Linie wird unter Linie gesetzt, danach ist der Becher fertig zum Brennen. Etwa acht Stunden spĂ€ter kommt ein fein verziertes, stabiles GefÀà aus dem Feuer. Wozu mag man es im dritten Jahrtausend vor Christus verwendet haben?Â
4 Âœ. O-Ton Stockhammer 2â20 neu
Wir wĂŒssten natĂŒrlich sehr gern, was es mit denen auf sich hat, gerade mit dieser einheitlichen Form: Es gibt NahrungsrĂŒckstands-Analysen an einigen wenigen dieser Becher, in denen man âMĂ€desĂŒĂâ gefunden hat. Ein mir vorher auch unbekanntes Kraut, aus dem man eine alkoholische Substanz ziehen konnte, vielleicht war der Glockenbecher einfach ein spezifisches GefÀà zum Konsum alkoholischer GetrĂ€nke, so wie wir in Bayern einen MaĂkrug haben.
Sprecher
FĂŒr die ArchĂ€ologie ist etwas Anderes wichtiger, stellt Philipp Stockhammer klar, Professor an der Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t MĂŒnchen: Dass Glockenbecher gegen Ende der Jungsteinzeit massenhaft als reprĂ€sentative Grabbeigaben dienten. UnzĂ€hlige Exemplare haben sich bis heute erhalten, quer durch Europa, und die GrĂ€ber hatten â mit kleinen Abweichungen â immer dieselbe Ausstattung, immer dieselben Beigaben.Â
5. O-Ton Stockhammer 1â37
In Mitteleuropa wĂŒrde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/SĂŒd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den MĂ€nnern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trĂ€gt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schieĂt, nicht den Unterarm verletzt.Â
MUSIK
Sprecher
Viel weiĂ man nicht ĂŒber die Gemeinschaften, die diese Bestattungssitte praktizierten. Die Krieger kĂ€mpften offensichtlich mit Pfeil und Bogen, sie nutzten vermutlich schon Pferde als Reittiere. Lebensgrundlage war die Landwirtschaft, die Menschen bearbeiteten Ăcker und zĂŒchteten Vieh. Siedlungen sind in Mitteleuropa bisher nur selten zu Tage gekommen. Die auf dem gesamten Kontinent verbreiteten, einheitlichen GrĂ€ber deuten aber auf ein weit gespanntes Kommunikationsnetzwerk hin, das Bevölkerungsgruppen ĂŒber groĂe Entfernungen verband. Zugleich lassen sie auf eine ziemlich egalitĂ€re Sozialstruktur schlieĂen, doch mancherorts gab es auch eine wohlhabendere Schicht.Â
MUSIK aus
5 œ. O-Ton Stockhammer 4:55 neu
Es gibt GrĂ€ber auch in SĂŒddeutschland, mit Gold, mit Bernstein â und wir haben auch ein Grab in SĂŒddeutschland, das mit spanischem Silber ausgestattet ist, also Objekte, die klar zeigen, ja, es gab Menschen, die in diesem Netzwerk offensichtlich eine herausragende Position innehatten und denen es möglich war, ĂŒber dieses Netzwerk aus fremden Regionen Objekte und natĂŒrlich auch Wissen zu beziehen.
Sprecher
Entscheidend fĂŒr die Entwicklung der âGlockenbecher-Kulturenâ war der Einfluss von Steppenhirten, die aus Osteuropa kamen.Â
6. O-Ton Stockhammer 6:01
Im frĂŒhen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem MĂ€nner waren. Es ist sehr spannend â wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der mĂ€nnlichen Linie weitergegeben â dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die mĂ€nnlichen lokalen Linien alle enden.Â
MUSIK
Sprecher
Friedlich kann es wohl kaum abgegangen sein. ArchĂ€ologische Belege dafĂŒr sind allerdings noch nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-GrĂ€bern lĂ€sst sich nur nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropĂ€ischen Bauernbevölkerung vermischten.
MUSIK aus
7. O-Ton Stockhammer 7:22
Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-PhĂ€nomen ist quasi eine kulturelle BewĂ€ltigung dieser Einwanderer aus dem Osten.Â
Sprecher
Mit der Expansion der MĂ€nner aus der Steppe verbreiteten sich die Glockenbecher-Kulturen rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren TongefĂ€Ăe mit ins Grab. Offen war bisher jedoch, ob allein die Migranten aus dem Osten die neue Sitte weitergetragen haben oder ob sie auch unabhĂ€ngig von den Steppenhirten praktiziert wurde.Â
Ein internationales Forscherteam hat nun Knochen und ZĂ€hne von 400 Menschen aus Glockenbecher-GrĂ€bern auf Erbgut der Steppenhirten untersucht, in einer der bisher umfangreichsten Untersuchungen prĂ€historischer DNA. ArchĂ€ologen aus ganz Europa holten dafĂŒr Skelettreste aus frĂŒheren Ausgrabungen aus den Magazinen.Â
8. O-Ton Haak 8:23
Wir sprechen von Proben aus Portugal, Spanien, Frankreich, den britischen Inseln, dann ĂŒber Benelux und Mitteleuropa bis hin nach Tschechien, Italien und Ungarn hinein. Â
Sprecher
Das Projekt eröffnete neue Einblicke in die VerĂ€nderungen im Genom der EuropĂ€er und illustriert zugleich die groĂen Fortschritte der Genforschung, erlĂ€utert Dr. Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut fĂŒr Menschheitsgeschichte in Jena, der als Genetiker daran mitgearbeitet hat. Â
8 œ. O-Ton Haak 1:32 neu
Ich komme ja noch aus einer Generation, wo man das ganz mĂŒhselig aus diesen alten Knochenfunden herausarbeiten musste, das waren ganz langwierige Prozesse, und man hat da mit groĂem Aufwand ganz wenig Informationen herausbekommen, also nur noch wenige BruchstĂŒcke aus dem Genom, die man dann zusammengestĂŒckelt hat, und damals hat man noch alles allein gemacht, man hat alles von A-Z, der Probennahme bis letztlich zur Publikation machen können, das ist heute nicht mehr der Fall.Â
Sprecher
In den groĂen Projekten der PalĂ€ogenetik arbeiten jetzt Spezialisten in Dutzenden Labors von Harvard ĂŒber Kopenhagen bis Jena zusammen. Das ist möglich â und oft auch nötig â, weil Millionen von Erbgut-Proben nun parallel, in Massen-Analysen, untersucht werden können.Â
9. O-Ton Haak 4:09
Da musste man auch sich auf den Hosenboden setzen, schön Hausaufgaben machen, das war ne steile Lernkurve fĂŒr uns alle, das hat natĂŒrlich die gesamte Molekulargenetik betroffen, also nicht nur die alte DNA, sondern die Biologie insgesamt, und da ist es egal, was man sequenziert, ob das jetzt die Hefe ist oder der Löwe aus dem Zoo oder eben prĂ€historische Menschen, wir sind jetzt in der Lage, mit höchster Auflösung die Dinge anzugehen.
Atmo 4 Labor Brandt 1, 58:50 und MUSIK
Roboter gurgelt, rasselt, brummt
Sprecher
Ein Roboter fĂ€hrt auf einer Laborbank des Jenaer Forschungsinstituts hin und her. Er pipettiert minimale Mengen Erbgut und Chemikalien in winzige KanĂ€le in einem blauen Kunststoffklotz. Damit beginnt das erste der drei entscheidenden neuen Verfahren: die âLibrary Preparationâ, der Aufbau einer DNA-Bibliothek. Laborleiter Dr. Guido Brandt erlĂ€utert die HintergrĂŒnde. Â
10. O-Ton Brandt 3:38
Ich habe ein DNA-Fragment aus einer Probe und damit ich dieses DNA-Fragment analysieren kann, muss ich es manipulieren. Und das machen wir, indem wir an die beiden Enden dieses DNA-Fragments bekannte DNA-Sequenzen herankleben. Das sind selbst designte Sequenz-Schnipsel, die Sie bei Firmen in Auftrag geben und die synthetisieren synthetische DNA. In diesen âAdapternâ, wie wir sie nennen, sind bestimmte Bereiche enthalten, die dafĂŒr verantwortlich sind, dass ich die DNA vervielfĂ€ltigen kann, dass ich sie spĂ€ter aber auch von Fragmenten einer anderen Probe unterscheiden kann. Man muss sich das so vorstellen wie einen Barcode, wie an der Supermarktkasse einen Strichcode.Â
Sprecher
Dank dieses âStrichcodesâ sind die Proben aus dem Erbgut eines Menschen identifizierbar â und können im nĂ€chsten Arbeitsschritt zusammen mit der DNA mehrerer hundert anderer Individuen sequenziert werden. Die âMassive Parallele Sequenzierungâ, der zweite groĂe Fortschritt, beruht einer dramatischen Verbesserung der Sequenziermaschinen.Â
11. O-Ton Brandt 7:30
Die Technik von vor 15 Jahren, die wurde letzten Ende verwendet, um das erste humane Genom zu erzeugen, man hat da zwei Jahrzehnte dran gearbeitet und es hat Millionen von Dollar verschlungen, heute ist es möglich, ein humanes Genom fĂŒr unter 1000 Dollar in 24 Stunden zu erzeugen. Der groĂe Vorteil ist einfach diese massive parallele Sequenzierung, die es mir erlaubt, viele hundert Individuen auf einmal zu bearbeiten und eben Millionen von DNA-Sequenzen in einem Sequenzierlauf zu erzeugen.
Sprecher
FrĂŒher mussten Forscher fĂŒr die Sequenzierung einen Abschnitt aus einer DNA-Probe auswĂ€hlen. Dass beim âNext Generation Sequencingâ, wie es auch genannt wird, nun Millionen DNA-Sequenzen gleichzeitig bearbeitet werden, vereinfacht insbesondere die Erforschung Alten Erbguts: Nun fĂ€llt eine solche FĂŒlle von Daten an, dass es keine Bedeutung mehr hat, wenn einige DNA-Sequenzen nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr intakt sind. Die PalĂ€ogenetik erlebt daher einen mĂ€chtigen Boom.
MUSIK
Sprecher
Die neue Technik wĂ€re nicht komplett ohne den Entwicklungssprung in der Bioinformatik. Um die gigantischen Datenmengen aus der Parallelen Sequenzierung auswerten zu können, mussten neue Computerprogramme geschrieben und leistungsstarke Rechner angeschafft werden.Â
12. O-Ton Brandt 22:18 (O-Ton vorn gekĂŒrzt!)
Durch das Library Prep werden einfach alle MolekĂŒle, die in meiner Probe drin sind, in eine Library transferiert und damit ist es möglich, alle sofort zu sequenzieren. Und spĂ€ter dann eben am Computer der richtigen Position im Genom zuzuordnen. Es wird dann ĂŒber bestimmte bio-informatische Algorithmen errechnet, wo ein Sequenzschnipsel im Genom am besten hinpasst.Â
MUSIK
Sprecher
Den Wissenschaftlern eröffnen sich damit neue Erkenntnis-Möglichkeiten:Â
Statt vor der Analyse auf gutâ GlĂŒck einen DNA-Abschnitt auszuwĂ€hlen, können sie jetzt das komplette Erbgut mehrerer Individuen rekonstruieren und danach entscheiden, wo die vielversprechenden Abschnitte liegen: Die Y-Chromosomen fĂŒr die mĂ€nnlichen Linien etwa, die mitochondriale DNA fĂŒr die Vererbung auf mĂŒtterliche Seite oder Mutationen im Erbgut, wenn es um die Charakterisierung von Bevölkerungsgruppen geht.
MUSIK aus
Sprecher
Im Glockenbecher-Projekt fanden die Genetiker das Erbgut der Steppenhirten in fast allen Skelettresten aus Mittel- und Westeuropa. Nur in den Ă€ltesten Proben, die auf etwa 2800 vor Christus datiert werden und aus Spanien stammen, lieĂ sich keine DNA der Einwanderer feststellen. FĂŒr den ArchĂ€ologen Stockhammer ergibt sich daraus eine klare Schlussfolgerung: Glockenbecher waren auf der iberischen Halbinsel schon vor Ankunft der Einwanderer bekannt. Die neue Bestattungssitte hat sich also nicht nur durch Migration in Europa verbreitet, sondern ist unter iberischen Bevölkerungsgruppen schon vorher weitergetragen worden: als Ideentransfer, sozusagen von Mund zu Mund.
13. O-Ton Stockhammer 11:11& 23:17
Der Impetus kam durch Einwanderer, aber das Glockenbecher-PhĂ€nomen an sich ist dann nicht durch groĂrĂ€umige Wanderungen entstanden, sondern durch Kontakt zwischen den Beteiligten. Es war sicher das erste groĂrĂ€umige PhĂ€nomen, von dem man zeigen konnte, dass es nicht vor allem durch Migration entstanden ist.Â
Sprecher
Ausnahme: Die britischen Inseln, die die Einwanderer ab Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus eroberten. Sie löschten die Einheimischen, deren Vorfahren einst Stonehenge erbaut hatten, fast vollstĂ€ndig aus. Und sie brachten die Glockenbecher mit: Auf den britischen Inseln verlaufen Einwanderung und Verbreitung von Glockenbechern eindeutig parallel.Â
Insgesamt gesehen, liefert die Studie neuen Stoff fĂŒr einen alten Streit. Lange meinten Altertumswissenschaftler, wo einheitliche Fundensembles zu Tage kamen, hĂ€tte auch eine einheitliche Menschengruppe gelebt. So sprach man von einem âGlockenbecher-Volkâ.Â
Oder man meinte, ĂŒberall, wo eiserne BratspieĂe und so genannte âAntennendolcheâ ausgegraben wurden, hĂ€tten Kelten gewohnt. In den sechziger Jahren kamen Zweifel auf: Kann man tatsĂ€chlich aus Ă€hnlichen Objekten schlieĂen, dass ein Volk sie hervorgebracht hat, mit einer ĂŒbereinstimmenden Signatur des Erbguts? Die Glockenbecher-Untersuchung spricht dagegen.Â
14. O-Ton Stockhammer 7â57
Wir haben ja die GrĂ€ber der Einwanderer, bevor sie nach Mitteleuropa kamen. Die hatten eben auch Becher, aber die waren keine Glockenbecher, die waren eben ein bisschen anders, die waren schnurverziert. Die hatten keine Kupferdolche, die hatten SteinĂ€xte, die hatten auch Hockerbestattungen, aber nicht Nord-SĂŒd, sondern Ost-West. Und das Spannende ist, das Glockenbecher-PhĂ€nomen dreht quasi alle kulturellen Aspekte dieser Steppenhirten in ihr Gegenteil, aber es bleibt ein Dialog, wie eine Dialektik, zwischen dem, was da aus dem Osten in den Westen gekommen ist und dem, was vorher schon im Westen da war.Â
SprecherÂ
Die Glockenbecher-Sitte und die Kultur der Einwanderer gehen nicht auf denselben Ursprung zurĂŒck, betont Stockhammer, haben sich im Umbruch der massiven, blutigen Einwanderungswelle aber gegenseitig beeinflusst.Â
Doch die alte Streitfrage ist noch nicht entschieden. Gerade am entscheidenden Resultat der Studie, das den Ideentransfer belegen soll, hat der Genetiker Wolfgang Haak Zweifel. Er hebt hervor: Die Verbreitung von Glockenbechern fĂ€llt rĂ€umlich und zeitlich zum allergröĂten Teil mit der massiven Expansion der Steppenhirten zusammen. Nur die Ă€ltesten, auf 2800 vor Christus datierten Glockenbecher aus Spanien passen nicht ins Bild.Â
15. O-Ton Haak 18:28 (vorn gekĂŒrzt!)
Das sind nur diese ersten 300 Jahre, wo das nicht zusammengeht, dann spĂ€ter geht es wirklich 1:1 zusammen, was wir im Rest des Genoms sehen und auch die archĂ€ologische Sachkultur, das geht Hand in Hand.Â
MUSIK
Sprecher
Ist die Datierung der spanischen Funde wirklich zuverlĂ€ssig? Die Jahreszahl 2800 vor Christus wurde nicht aktuell im Rahmen der Studie ermittelt, sondern lag bereits aus der Ausgrabung vor. Und, so Haak weiter, lassen sich diese GrĂ€ber eindeutig der Glockenbecher-Kultur zuordnen? Der Genetiker, der in mehreren internationalen GroĂprojekten aktiv ist, will das europaweite PhĂ€nomen nun noch detaillierter erforschen: mit neuen archĂ€ologischen Daten und Erbgut-Analysen von mehreren tausend Individuen.Â
MUSIKÂ aus
Sprecher
Weitere Untersuchungen bieten sich auch an, weil hinter der neuen Bestattungssitte mehr steht als nur eine andere Grabbeigabe: Die Menschen begannen eines Tages, ihren Toten Glockenbecher ins Grab zu legen, weil sie fĂŒr sie eine konkrete Bedeutung hatten. Sie waren Ausdruck einer bestimmten Ăberzeugung, eines Glaubens. Welche WĂŒnsche und Hoffnungen damit verbunden waren, lĂ€sst sich nicht rekonstruieren, doch es war eine neue Religion oder eine neue Ideologie. Und sie hatte erstaunlichen Erfolg, verbreitete sich von Ungarn bis Portugal, von Italien bis auf die britischen Inseln. Die Menschen standen trotz der Entfernung miteinander in Verbindung, sie bildeten ein Netzwerk, sagen die Forscher.Â
16. O-Ton Haak 25:30
Warum hat es immer wieder funktioniert? Da muss es ja ein kulturelles oder soziologisches Konzept gegeben haben, vielleicht auch eine Ideologie, die dann attraktiv war, das war möglicherweise einfach das Wirtschaftsmodell, das gezogen hat, das Gelobte Land, das neue Ding, es ging aufwĂ€rts, vorwĂ€rts, das ist ein Modell, das man mal prĂŒfen mĂŒsste.Â
Sprecher
Dieses Netzwerk bereitete wahrscheinlich der Innovation den Boden, die eine neue Epoche einlĂ€utete: der Herstellung der Bronze, des ersten praktischen Metalls. Mancherorts in Europa hatten Menschen schon vorher Kupfer bearbeitet, aber kupferne Waffen und Werkzeuge sind relativ weich.Â
Legiert man Kupfer jedoch mit etwas Zinn, wird das Material hĂ€rter, lĂ€sst sich gut bearbeiten und glĂ€nzt obendrein wie Gold: Das sind die VorzĂŒge der Bronze. Bronze ist aber nicht leicht herzustellen, weil Zinnvorkommen in Europa rar sind: GröĂere LagerstĂ€tten finden sich nur im Ă€uĂersten Westen Englands, im heutigen Cornwall. Dort lieĂen sich Menschen der Glockenbecher-Kulturen ab 2450 vor Christus nieder. Viele ArchĂ€ologen vermuten, dass sie die Kenntnis von der Zinnbronze ĂŒber den Kontinent verteilten. Philipp Stockhammer:Â
MUSIK
17. O-Ton Stockhammer 37:22
Gerade das Glockenbecher-Netzwerk war einer der entscheidenden Momente, Wissen auszutauschen: Oh, hier haben wir die ZinnlagerstĂ€tten, oh, hier haben wir Kupfer, oh, hier haben wir die neuen metallurgischen Techniken aus dem Orient. Und deshalb war das Glockenbecher-PhĂ€nomen eigentlich die entscheidende Triebfeder fĂŒr die Herausbildung der Bronzezeit in Mitteleuropa, und ich sehe in meinen Forschungen, dass sich in Mitteleuropa eigentlich nur dort die frĂŒhe Bronzezeit entwickeln konnte, wo wir vorher auch das Glockenbecher-PhĂ€nomen fassen.Â
MUSIK aus
Atmo 5Â XII 56-807, 0:09
Besucher im Museum
Sprecher
Etwa ab 2400 vor Christus entwickelte sich ein Zentrum der frĂŒhen Bronze-Herstellung im östlichen Mitteldeutschland. Das Landesmuseum fĂŒr Vorgeschichte in Halle kann eine FĂŒlle einschlĂ€giger archĂ€ologischer Funde prĂ€sentieren.Â
18. O-Ton Meller 5:38
Die frĂŒhesten Bronze-Objekte, die wir hier haben, kann ich Ihnen zeigen, das sind DolcheâŠ
Atmo 6 Museum XI 57-799, 7:50
Schritte
Sprecher
Professor Harald Meller, Museumsdirektor und LandesarchÀologe von Sachsen-Anhalt, ist an mehreren Forschungsprojekten zum Anfang der Bronzezeit in Europa beteiligt. Auch er zieht eine Verbindung zwischen der Glockenbecher-Kultur und der Metallverarbeitung.
19. O-Ton Meller 13:27
Die FĂ€higkeit, Bronze herzustellen, gibt es schon ganz alt im Vorderen Orient und am Balkan, aber bei uns in Mitteleuropa ist die Bronzeherstellung noch mal erfunden worden, zumindest ist das die Hypothese, durch die Eroberung von SĂŒdengland, Glockenbecherleute erobern SĂŒdengland, und die entdecken dann in Cornwall das Zusammentreffen von reichen Zinnquellen in den FlĂŒssen und dieses Zinn ermöglicht es natĂŒrlich, Bronze herzustellen.Â
Atmo 6 Museum XI 57-799, 7:50
Schritte
Sprecher
Vor einer Wand-hohen Vitrine, in der auf dunklem Stoff mehrere Reihen bronzener Beilklingen aufgehÀngt sind, eine wie die andere, wird deutlich, welche Revolution die Entdeckung dieses Materials bedeutete: Sie verÀnderte die Gesellschaft grundlegend.
20. O-Ton Meller 18:39
Der Bronzeguss ist fĂŒr uns so wahnsinnig wichtig, weil damit die Menschen zum ersten Mal selbstgeschaffen identische Dinge herstellen. Vorher hast du ein Steinbeil, jedes Beil ist anders, abhĂ€ngig von der Quelle. Das heiĂt, ein FĂŒrst lĂ€sst 100, 200, 300 Beile gieĂen, und die sind völlig identisch, die kann er jetzt an die Bauernsöhne verleihen, kann er eine Armee aufstellen.Â
MUSIK
SprecherÂ
Ab Ende des dritten Jahrtausends vor Christus herrschten erstmals mĂ€chtige FĂŒrsten in einigen Gegenden Mitteleuropas. Aus den Glockenbecher-Kulturen, die kaum Hierarchien kannten, hatte sich eine neue Gesellschaftsstruktur gebildet. Meller spricht dabei ĂŒbrigens von âGlockenbecherleutenâ â als ob sich die bauchigen TongefĂ€Ăe doch mit einer genetisch einheitlichen Bevölkerung identifizieren lieĂen. Ăber die Frage, ob die Bestattungssitte mit Glockenbechern, die erfolgreiche neue Religion, von Einwanderern verbreitet wurde oder als Idee von Mund zu Mund wanderte, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.