radioWissen - Bayern 2   /     Das lyrische Ich - Gedichte zwischen Fiktion und Wahrheit

Description

Wer spricht in oder durch ein Gedicht? Die Vermutung liegt nahe, dass sich Autor und Autorin hier persönlich ausdrĂŒcken. Doch die Stimme eines Gedichts, auch lyrisches Ich genannt, kann viele Rollen oder Haltungen einnehmen. Steht das Werk also immer fĂŒr sich ? egal, wie krass sich die dichtende Person danebenbenimmt? Autorin: Justina Schreiber

Subtitle
Duration
00:23:40
Publishing date
2024-01-16 09:05
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/das-lyrische-ich-gedichte-zwischen-fiktion-und-wahrheit-1/2089381
Contributors
  Justina Schreiber
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2089381/c/feed/das-lyrische-ich-gedichte-zwischen-fiktion-und-wahrheit-1.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Wer spricht in oder durch ein Gedicht? Die Vermutung liegt nahe, dass sich Autor und Autorin hier persönlich ausdrĂŒcken. Doch die Stimme eines Gedichts, auch lyrisches Ich genannt, kann viele Rollen oder Haltungen einnehmen. Steht das Werk also immer fĂŒr sich ? egal, wie krass sich die dichtende Person danebenbenimmt? Autorin: Justina Schreiber

Credits
Autorin dieser Folge:Justina Schreiber
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Amberger, Susanne Schroeder
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Prof. Dr. MatĂ­as MartĂ­nez, Literaturwissenschaftler und Leiter des Institutes fĂŒr ErzĂ€hlforschung an der Uni Wuppertal

Literaturtipps:

Roland Barthes, „Der Tod des Autors“: Kleiner Text, der den strukturalistischen Ansatz des berĂŒhmten französischen Philosophen verdeutlicht.

Matías Martínez, „Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs.“ In: Heinrich Detering (Hrsg.): „Autorschaft: Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 376–389.


Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK Flicker of Flame 00:43min

ZITATORIN:

Ich ging im Walde so fĂŒr mich hin.

SPRECHERIN:

Goethes Gedicht „Gefunden“ scheint ein individuelles Erlebnis zu veranschaulichen. Sieht man den lustwandelnden Dichter nicht förmlich vor sich, wie er am Wegrand dieses BlĂŒmchen entdeckt
? 

ZITATORIN:

Wie Äuglein schön, 

SPRECHERIN:

Und wie er es dann doch nicht pflĂŒckt


ZITATORIN:

Ich wollt es brechen,

SPRECHERIN:

Aber das schöne BlĂŒmchen legt Protest ein. Es will nicht dahinwelken mĂŒssen. Na gut, dann wird es eben verpflanzt:

ZITATOR:

Ich grub’s mit allen

Den WĂŒrzlein aus.

Zum Garten trug ich’s

Am hĂŒbschen Haus.

SPRECHERIN:

Goethe schickte dieses Gedicht seiner Ehefrau Christiane Vulpius im August 1813 zum 25-jĂ€hrigen JubilĂ€um ihrer Beziehung. Es bietet sich also förmlich an, das BlĂŒmchen mit seiner LebensgefĂ€hrtin gleichzusetzen. Schließlich war ihr der Dichter zwar nicht im Wald, aber doch im Weimarer Park an der Ilm erstmals begegnet. War er damals etwa aufdringlich geworden? Hatte sie sich zur Wehr setzen mĂŒssen? Man könnte durchaus annehmen, dass das Ich, das aus dem Gedicht spricht, mit dem Autor eng verwandt ist, sagt der Literaturwissenschaftler MatĂ­as MartĂ­nez. 

O-TON 01: (Martinez)

„Die Gattung der Lyrik legt es besonders nahe, den Autor zu identifizieren mit dem Sprecher.“ 

MUSIK Flicker of Flame 00:40min

SPRECHERIN:

Hier spricht ein realer Mensch, eine private Person: Besonders Erlebnislyrik wie Goethes Gedicht oder auch Liebesgedichte mit Widmung laden zu dieser Deutung ein. „An Luise. 1816“ heißt ein Poem von Joseph von Eichendorff, dessen Frau den Vornamen Luise trug. Sie hatte 1816 das erste gemeinsame Kind zur Welt gebracht. Kein Wunder also, nicht wahr? dass der Gatte das hĂ€usliche GlĂŒck bedichtete:

ZITATORIN:

Sitz‘st du vor mir, das Kindlein auf dem Arme.

O-TON 02: (MartĂ­nez)

„Es gibt ein BedĂŒrfnis, Gedichte mehr noch als Romane und TheaterstĂŒcke, aber auch die, vor allem Gedichte tatsĂ€chlich zu beziehen auf autobiografische Erfahrungen des Autors.“ 

SPRECHERIN:

Der Bezug zum Autor oder zur Verfasserin eines Gedichtes liegt besonders nahe, wenn in Gedichten – wie hier bei Goethe oder Eichendorff - „Ich“ gesagt, also die erste Person Singular des Personalpronomens verwendet wird. 

O-TON 03: (Martinez)

„Lyrik ist traditionell die Gattung, in der ein Sprecher seine Meinung verkĂŒndet, seine SubjektivitĂ€t zum Ausdruck bringt. Deshalb gab es auch immer die Tendenz, gerade bei Gedichten, diesen einzelnen Sprecher zu identifizieren mit dem realen Autor des Gedichtes.“

MUSIK Piano pecularity full 00:55min

SPRECHERIN:

Was aber, wenn das Ich eines Gedichtes nicht mit Blumen oder Frauen, sondern mit einem Mondkalb zu tun hat? Bei dem 1905 erstmals veröffentlichten Gedicht „Das Ă€sthetische Wiesel“ des Dichters Christian Morgenstern handelt es sich offenkundig um ein reines Hirngespinst. Im Zentrum steht die Frage, warum ein Wiesel auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel saß. 

ZITATORIN:

Das Mondkalb verriet es mir im Stillen.

Es tat es um des Reimes willen.

SPRECHERIN:

Und das Mondkalb hatte sogar Recht. Gedichte folgen nÀmlich anderen Gesetzen als logischen oder biologischen. Sie können einem Reimschema folgen. Kiesel, Wiesel und so weiter. Lyrik hebt sich von der schlampigen automatisierten Alltagsrede ab, erklÀrt Matías Martínez:

O-TON 04: (MartĂ­nez)

„Traditionell ist die Lyrik ja immer definiert gewesen durch ihren Abstand zur Alltagsrede, zur Prosa, durch Reime, durch Metrik, durch rhetorische Figuren.“ 

SPRECHERIN:

„Das Ă€sthetische Wiesel“ ist also ein Kunstwerk. Und was ist mit dem Ich, das vom Mondkalb belehrt wird? Der Dichter Christian Morgenstern hat sicher nicht persönlich diesem merkwĂŒrdigen Tier gelauscht! Das Ich des Gedichts, das noch dazu keine Ahnung vom Reimen hat, gehört ganz klar in den Bereich der Fiktion. Aber auch Texte, die von persönlichen Stimmungen und Erlebnissen geprĂ€gt zu sein scheinen, sind ja gemacht und gedrechselt worden. Allein schon, damit Versmaß und Metrum stimmen, muss sich Dichtung die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen. Daneben gibt es noch: 

MUSIK Off the ledge 00:35min

ZITATORIN:

Weitere GrĂŒnde dafĂŒr, dass die Dichter lĂŒgen

SPRECHERIN:

So heißt ein Gedicht des 2022 verstorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger. 

ZITATOR:

(
) der,

von dem da die Rede ist,

schweigt.

SPRECHERIN:

Wer ist dann der oder die Andere, wenn nicht Autor oder Verfasserin im Gedicht ihre GefĂŒhle und Weltsicht kundtun? Die deutsche Literaturwissenschaft behilft sich hier mit der Konstruktion eines lyrischen Ichs. 

O-TON 05: (MartĂ­nez)

„Dieser Begriff wurde zum ersten Mal 1910 von einer Literaturwissenschaftlerin namens Margarete Sussmann geprĂ€gt, die diesen Begriff benutzt hat, um das empirische Ich des Gedicht-Autors zu unterscheiden zwischen dem empirischen Autor-Ich und dem Text-Ich. Dieser Begriff ist dann sehr erfolgreich gewesen und wird bis heute gerne benutzt, allerdings in einer sehr uneinheitlichen Weise.“

SPRECHERIN:

Andere Sprachen kennen den Begriff des lyrischen Ichs nicht. Manche sprechen von einem „lyrischen Subjekt“. Die Philosophin Margarete Susman wollte mit dem Terminus den Blick auf die Text-Eigenschaften eines Gedichts lenken. Doch die Debatten, die sich im 20. Jahrhundert um das lyrische Ich rankten, zeigen, wie dehnbar der Begriff im Grunde ist. Handelt es sich tatsĂ€chlich um eine poetologische Kategorie oder nicht doch eher um eine fast religiöse Idee von einem ĂŒberpersönlichen Ich, das durch ein Gedicht spricht? Wer oder was Ă€ußert sich dann hier? Schwer zu sagen. 

O-TON 06: (MartĂ­nez)

„Es gibt also keine Übereinstimmung darĂŒber, was das lyrische Ich wirklich bedeuten soll.“

MUSIK Scenic Village 00:52min

SPRECHERIN:

Hinzu kommt: Jede Epoche hat ihren eigenen Zeitgeist und ihre eigenen Ausdrucksformen. Nehmen wir nur einmal das berĂŒhmte mittelalterliche Spruchgedicht:

ZITATORIN:

Ich saz ûf eime steine

SPRECHERIN:

Wer sitzt da wohl mit ĂŒbereinander geschlagenen Beinen, den Kopf aufgestĂŒtzt auf einem Stein und denkt ĂŒber die politische Lage im Reich nach? Es kann eigentlich niemand anderes sein als der Verfasser des berĂŒhmten Gedichtes selbst, der MinnesĂ€nger Wolfram von Eschenbach. 

ZITATORIN:

und dahte bein mit beine

da rûf satzt ich den ellenbogen

SPRECHERIN:

Wer sonst sollte hier seine Gedanken kundtun? Die Frage nach dem lyrischen Ich bringt keinen Erkenntnisgewinn. Ähnliches gilt auch fĂŒr barocke Leichen- oder Hochzeitsgedichte, die erwartbare Äußerungen machen, also, den Konventionen gemĂ€ĂŸ, gratulieren oder kondolieren. Hier Ă€ußern sich reprĂ€sentative Stimmen, keine lyrisch bewegten Subjekte. Trotzdem etablieren Gedichte immer eine besondere Sprecher-Rolle. Manchmal macht ja schon der Titel klar, dass jetzt zum Beispiel ein Zauberlehrling das Wort erhebt. 

MUSIK Der Zauberlehrling 00:24min

SPRECHERIN:

In anderen Texten dagegen bleibt die Herkunft der Rede offen. Oder um aus Schillers Ballade „Der Gang nach dem Eisenhammer“ zu zitieren: 

ZITATORIN:

Herr, dunkel war der Rede Sinn!

SPRECHERIN:

Stammelt hier der fromme Fridolin.

O-TON 07: (MartĂ­nez)

„Das VerstĂ€ndnis von Lyrik hat immer ein bisschen geschwankt zwischen der Identifikation des Sprechers in diesem Gedicht oder der Sprecherin mit dem realen Autor oder der realen Autorin einerseits. Und andererseits gab es aber auch immer ein Bewusstsein darĂŒber, dass, sobald jemand ein Gedicht schreibt, derjenige, der in diesem Gedicht spricht, herausgelöst ist aus einer normalen Kommunikationssituation.“ 

MUSIK First Steps Outsides 00:51min

SPRECHERIN:

Im antiken Griechenland trug man lyrische Texte noch zur Lyra oder Kithara vor. Der Ă€ußere Rahmen war festlich. Mit dem Buchdruck verbreiteten sich Gedichte dann auch in schriftlicher Form. Man kann die Textgattung nun am Drucksatz, an den kurzen Zeilen oder den Strophen erkennen. Ein privater Brief sieht anders aus. Doch:

O-TON 08: (MartĂ­nez)

„Wenn ich eine Liebes-Botschaft eben in diesen traditionellen lyrischen Formen vorbringe
“

SPRECHERIN:

Wenn in einer Mail vielleicht eingerĂŒckt und abgesetzt ein Text steht, in dem sich Herz auf Schmerz, Blick auf GlĂŒck und GefĂŒhl auf GewĂŒhl reimt.

O-TON 09: (MartĂ­nez)

„Dann bekommt das auch in einer privaten Kommunikation einen anderen Charakter, einen verallgemeinernden Charakter.“

SPRECHERIN:

Und man kann oder muss sich fragen: was will der lyrische Text mir eigentlich sagen? 

MUSIK Struggle With Reason 00:58min

ZITATORIN:

Einsamer Tag am Fenster (Amsterdam 1939) 

SPRECHERIN:

So nennt die aus Nazi-Deutschland emigrierte Schriftstellerin Irmgard Keun ihr melancholisches Poem.

ZITATORIN:

Und ich trÀum gen Himmel.

SPRECHERIN:

Sehnsucht und Heimweh, Liebe und Tod, das Ich und die Welt, GlĂŒck und Leid, Werden und Vergehen. Gedichte mögen autobiographische AnlĂ€sse haben, sie mögen private Themen verarbeiten. Aber sie bilden seit Goethezeit und Romantik auch den Versuch ab, anders nicht Sagbares, vielleicht sogar Unsagbares in Worte zu kleiden. Sprachbilder und metaphorische Übertragungen können Empfindungen, Beobachtungen und Gedanken zu universell gĂŒltigen Aussagen oder Parabeln ver“dichten“. Ein Meister der Verallgemeinerung, der den hohen Anspruch der Poesie zugleich karikierte, war Wilhelm Busch.

MUSIK Barmy Town 00:44min

ZITATORIN:

Das Zahnweh, subjektiv genommen,

ist ohne Zweifel unwillkommen:

doch hat’s die gute Eigenschaft,

dass sich dabei die Lebenskraft,

die man nach außen oft verschwendet,

auf einen Punkt nach innen wendet.

SPRECHERIN:

Auch hier spricht, wenn man so will, ein lyrisches Ich, obwohl Wilhelm Busch nicht „ich“, sondern unpersönlich „man“ sagt. Sein lyrisches Ich distanziert sich vom leidenden Subjekt und betrachtet es spöttisch von außen: Ja, so kommst du der Welt abhanden, weil du Zahnweh hast. Und nicht wie andere grĂ¶ĂŸere(?) Dichter Liebeskummer.

O-TON 10: (Martinez)

„Es gibt viele Gedichte, in denen schon mal grammatisch gar nicht die erste Person Singular benutzt wird und die auch ĂŒberhaupt eine Ausdrucksform benutzen, die eher neutral ist. Man wird aber schon sagen können, dass auch in Gedichten, in denen wir kein explizites Ich vorfinden, doch auch so eine SubjektivitĂ€t sich ausdrĂŒckt.“

MUSIK A stranger 01:12min

SPRECHERIN:

Subjektive Darstellungen wecken Emotionen. Sie laden zur Identifikation ein. Gedichte können Saiten zum Klingen bringen, die im Alltag unterdrĂŒckt werden. Sie artikulieren diffuse GefĂŒhle und vermitteln ZusammenhĂ€nge, die nicht von Daten, Fakten oder Algorithmen bestimmt werden. Rhythmus, Wortwahl und Sprachmelodie verfĂŒhren zum Nachempfinden und Mitsprechen. Vielleicht geht ein Gedicht sogar ins kulturelle GedĂ€chtnis einer Sprachgemeinschaft ein und ĂŒberdauert die Zeiten - wie Eduard Mörikes FrĂŒhlingspoem „Er ist’s“, das bis heute gern vertont und zitiert wird.

ZITATORIN:

FrĂŒhling, ja, du bists!

Dich hab ich vernommen!

SPRECHERIN:

Und siehe da! Wer ein Gedicht vortrÀgt oder zitiert, verschmilzt mit der Stimme, die aus dem Gedicht spricht. Insofern kann man sagen, so der Literaturwissenschaftler Matías Martínez: 

O-TON 11: (Martinez)

„Dass das lyrische Ich derjenige ist, der das Gedicht spricht. Und das kann auch der Leser sein, der es eben nachspricht.“

SPRECHERIN:

So erweitert sich das lyrische Ich zu einem lyrischen Wir, zu einem Chor von Sprecherinnen und Sprechern. Wer hat nicht schon beim Autofahren oder Tanzen Songtexte mitgesungen oder ein fremdes Liebesgedicht fĂŒr eigene Zwecke eingesetzt? Stellvertretend fĂŒr alle hat da jemand etwas in Worte gefasst und nimmt uns mit in eine andere Welt oder Stimmung:  

O-TON 12: (Martinez)

„Das kann natĂŒrlich auch sehr unangenehm sein, wenn man sich auf einmal hineintransportiert findet in Situationen und in Haltungen, in Wertungen, die man nicht teilt. Aber gerade darin besteht natĂŒrlich auch eine Chance, von Literatur, Erfahrungen auszuprobieren spielerisch, die man im realen Leben nicht macht und vielleicht auch gar nicht machen möchte.“

MUSIK (Ich steh' auf) Berlin 00:45

ZITATORIN:

Ich fĂŒhl mich gut

Ich steh auf Berlin

SPRECHERIN:

Die Neue-deutsche Welle-Band „Ideal“ brachte 1980 ein Loblied auf Berlin heraus. Der Songtext, in dem sich „Morgenrot“ auf „Hundekot“ reimt, schaffte es 2023 in die erweiterte Neuausgabe des „Ewigen Brunnen“, einer Sammlung deutscher Gedichte aus acht Jahrhunderten. Ein Werk der SĂ€ngerin Annette Humpe steht jetzt also zwischen zwei Buchdeckeln vereint mit Gedichten von Friedrich Hölderlin, Theodor Storm, Bert Brecht und Ingeborg Bachmann. 

ZITATORIN:

Ich ess die Pizza aus der Hand

SPRECHERIN:

Annette Humpes Verszeile ist keine banale Aussage mehr. Sie trÀgt einen exemplarischen Charakter wie auch Goethes Formulierung: 

ZITATORIN:

Ich ging im Walde so fĂŒr mich hin.

SPRECHERIN:

Die Bedeutung des Kontextes darf auf keinen Fall unterschÀtzt werden, wiederholt der Literaturwissenschaftler Matías Martínez:

O-TON 13: (Martinez)

„Dadurch wird auch der Sprecher dieses Gedichtes verĂ€ndert, wenn ein Text als Gedicht zirkuliert und nicht einfach nur eine Äußerung ist in normaler alltĂ€glicher Kommunikation. Denn auch der Sprecher wird dadurch selber zum Gegenstand der Betrachtung.“ 

SPRECHERIN:

WĂ€hrend der eine im Wald ein BlĂŒmchen ausgrĂ€bt, ist die andere als Schwarzfahrerin mit der Berliner U-Bahn unterwegs. Aber es sind eben nur ein paar Indizien, aus denen Zuhörerinnen und Leser SchlĂŒsse auf das Subjekt des lyrischen Textes ziehen. Die imaginierte Sprecher-Instanz, der Sprecher, der aus dem Gedicht spricht, wandelt sich je nach Perspektive und Deutung.

O-TON 14: (MartĂ­nez)

„Schon dadurch kann er nicht mehr automatisch identifiziert werden mit dem realen Autor als einem Alltagssubjekt.“ 

SPRECHERIN:

Jeder Text fĂŒhrt ein Eigenleben, sobald er veröffentlicht ist. Der französische Philosoph Roland Barthes war der Meinung, dass moderne Gesellschaften der Person von Autoren und Autorinnen grundsĂ€tzlich zu viel Bedeutung beimessen. Stichwort: Starkult. Roland Barthes verkĂŒndete 1967 provokativ den „Tod des Autors“. 

O-TON 15: (Martinez)

„Roland Barthes hat stattdessen die Geburt des Lesers propagiert, dass ein Text sich vollstĂ€ndig ablöst aus der Entstehungssituation und dass er sozusagen frei zirkuliert und die Bedeutung annimmt, die der Leser ihm gibt.“

SPRECHERIN:

Was fĂŒr das lyrische Ich bedeutet: es wĂ€re nicht mehr bei den Autoren zu verankern, sondern bei den Lesern und Leserinnen, die mit einem Gedicht machen können, was sie wollen - sofern keine Urheberrechte verletzt werden. Verszeilen lassen sich abwandeln, verfĂ€lschen, weiterspinnen oder wie eine Blume eigenmĂ€chtig verpflanzen. Kunst hilft weiter, wenn die eigenen Worte fehlen. Doch was hĂ€tte Rainer Maria Rilke wohl zum inflationĂ€ren Gebrauch seiner Verse in heutigen Todesanzeigen gesagt?

ZITATORIN:

Der Tod ist groß.

Wir sind die Seinen

lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen,

wagt er zu weinen

mitten in uns.

MUSIK Snow Again 01:23min

SPRECHERIN:

Manche Gedichte wirken einfach nur genial. Wie kommen Dichter und Dichterinnen eigentlich auf ihre Ideen? Woher bekommen sie ihre Eingebungen? Guten Gedichten merkt man die Arbeit am Text nicht an. Die Verse hĂŒpfen leichtfĂŒĂŸig daher. Reime, Metrum, Rhythmus, alles fĂŒgt sich scheinbar selbstverstĂ€ndlich. WĂ€hrend der Autor vielleicht schwer um jedes Wort ringen musste, wirkt das fertige Werk dann wie eine Offenbarung. Das lyrische Ich kann sich meilenweit von der realen Person am Schreibtisch entfernen. Was im Umkehrschluss bedeutet: Dichter und Dichterinnen mĂŒssen sich fĂŒr ihr lyrisches Ich nicht unbedingt verantwortlich fĂŒhlen. Wenn es sich zum Beispiel danebenbenimmt oder Unsinn verzapft, ließe sich argumentieren: Sie, die Verfasser, seien hier ja nicht persönlich tĂ€tig oder gar tĂ€tlich geworden. „Es“, eine Stimmung, eine Stimme, ein Gedanke, ein Funke, was auch immer, habe sie ergriffen und ihnen die Feder gefĂŒhrt. Kunst ist eben Kunst. Da ist einerseits etwas dran, sagt MatĂ­as MartĂ­nez.

O-TON 16: (MartĂ­nez)

„Die Freiheit der Kunst ist ja ein Grundrecht, das im Grundgesetz garantiert ist. Und wir haben ja auch eine Vorstellung davon, dass Kunst ein autonomer Bereich ist, in dem auch Haltungen und Meinungen prĂ€sentiert werden können, die Normen und Tabus durchbrechen. Vielleicht ist es ja sogar auch eine wichtige soziale Funktion von Kunst, eben auch bestimmte Grenzen zu ĂŒberschreiten und zu provozieren. Andererseits muss sich die Kunst natĂŒrlich auch gefallen lassen, moralisch beurteilt zu werden. Sie agiert ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist ja Teil einer gesellschaftlichen Diskussion.“

MUSIK Entitiy 00:51min 

SPRECHERIN:

Etwa wenn es um sexuelle Gewalt geht. Als 2023 ein Dutzend Frauen VorwĂŒrfe gegen den Rammstein-SĂ€nger Till Lindemann erhob, geriet auch sein Lyrikband „In stillen NĂ€chten“ in Verruf, den er zehn Jahre vorher veröffentlicht hatte. Der Verlag beendete die Zusammenarbeit mit dem Autor, nachdem er sich in einem Musikvideo, das Buch schwenkend, in extremen Sexszenen inszeniert hatte. Die öffentliche Empörung verĂ€nderte den Blick auf das lyrische Ich seiner Texte. Moralische Urteile können der kĂŒnstlerischen Freiheit Grenzen setzen. 

Wenn Till Lindemann in dem Gedicht „Wenn du schlĂ€fst“ die Vergewaltigung einer mit Rohypnol betĂ€ubten Frau beschreibt: 

O-TON 17: (MartĂ­nez)

„Und zwar positiv markiert, dann kann man schon daran Anstoß nehmen. Also, da gibt es einen Ermessensspielraum, ob man diesen Text eher als ein Gedicht liest, das durch die Freiheit der Kunst gedeckt ist, oder als Äußerung eines empirischen Autors, der das zwar in Gedichtform tut, der aber doch da bestimmte Vorlieben erkennen lĂ€sst, die verwerflich sind. Wenn man da eben sagt, da wird ein sexualisierter Gewaltakt beschrieben, dann ist das ja schon ein sehr schwerwiegender Vorwurf.“

MUSIK Heidenröslein 00:50min

SPRECHERIN:

Ein gutes Gedicht zeichnet sich auch durch Mehrdeutigkeit aus. Stilistische Mittel wie Ironie, Parodie oder Rollensprache verhindern den Kurzschluss zwischen Autor und lyrischem Ich. Auch Goethe thematisiert ja in seinem Gedicht „Heidenröslein“ eine Vergewaltigung. Anders als Till Lindemann schildert er das Geschehen jedoch nicht nur aus der Sicht des vermutlich mĂ€nnlichen Sprechers. Er lĂ€sst das Opfer selbst, das Heidenröslein zu Wort kommen.

ZITATORIN:

Röslein wehrte sich und stach,

Half ihm doch kein Weh und Ach,

Mußt’ es eben leiden.

Röslein, Röslein, Röslein roth,

Röslein auf der Heiden.

O-TON 18: (Martinez)

„Bei Goethe wird zwar ein Unrecht beschrieben, aber es wird ja auch sehr stark der Leidcharakter dieses Unrechts hervorgehoben. Und insofern kann man sagen, dass in der Beschreibung dieses Unrechts oder dieses Übergriffs, dieser Gewalttat gleichzeitig auch so ein mahnender Charakter enthalten ist.“

MUSIK CHAMBER 01:27min

SPRECHERIN:

Die literaturwissenschaftliche Kategorie des lyrischen Ichs ist schillernd, verfĂŒhrerisch und trĂŒgerisch wie die Kunst selbst. Die Bandbreite poetischer Äußerungen lĂ€sst sich kaum auf einen Nenner bringen. Ob dichterische Inspirationsquellen vielleicht doch göttlich-ĂŒberirdischer Natur sind oder eher mit Sex, Alkohol, Kaffee, Musik und Disziplin zusammenhĂ€ngen: es gibt auf jeden Fall viele Faktoren, innere wie Ă€ußere, die ein lyrisches Werk beeinflussen, zum Beispiel auch LĂ€rm, Geldnot, Selbstzweifel oder frĂŒher Ruhm.

O-TON 19: (Martinez) 

„So ein kreativer Prozess hat natĂŒrlich immer auch immer mit dem individuellen Autor zu tun. Nicht jeder Autor bringt beliebige Texte hervor, sondern es gibt natĂŒrlich ein enges VerhĂ€ltnis zwischen der IndividualitĂ€t eines Autors, also seiner Person und der Kunst oder den Texten, die er hervorbringt, das ist ein schwieriges, und ich wĂŒrde sagen, offenes Gebiet.“

SPRECHERIN:

Umso besser passen hier jetzt also die Worte, mit denen der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Debatten abzuschließen pflegte, in Abwandlung des Bert-Brecht-Zitats: „Wir stehen selbst enttĂ€uscht und sehn betroffen“


ZITATORIN:

Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.