radioWissen - Bayern 2   /     Tempo! Immer schneller, immer mehr

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Kurz etwas essen, dabei Mails checken, noch schnell eine SMS schreiben ? und schon geht?s weiter zum nächsten Termin. Viele Menschen fühlen sich ständig gehetzt, Zeit ist irgendwie immer knapp. Was genau hat unser Leben so beschleunigt? Und könnten wir etwas dagegen tun? Wollen wir das überhaupt? Autorin: Maike Brzoska

Subtitle
Duration
00:21:54
Publishing date
2024-01-31 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/tempo-immer-schneller-immer-mehr/2089430
Contributors
  Maike Brzoska
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2089430/c/feed/tempo-immer-schneller-immer-mehr.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Kurz etwas essen, dabei Mails checken, noch schnell eine SMS schreiben ? und schon geht?s weiter zum nächsten Termin. Viele Menschen fühlen sich ständig gehetzt, Zeit ist irgendwie immer knapp. Was genau hat unser Leben so beschleunigt? Und könnten wir etwas dagegen tun? Wollen wir das überhaupt? Autorin: Maike Brzoska

Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Benjamin Stedler
Technik: Christine Frei
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Gerhard Bosch, Arbeitssoziologe, Professor an der Universität Duisburg-Essen;
Jürgen Rinderspacher, Zeitforscher, Dozent an der Universität Münster;
Dietrich Henckel, Zeitforscher, emeritierter Professor der TU Berlin

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Literaturtipp:

Hartmut Rosa, „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, 2005, Suhrkamp Verlag – ein Klassiker der Zeitforschung, der die Steigerungslogik moderner Gesellschaften anschaulich macht.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN 

Eine Fußgängerzone vormittags an einem klaren Sommertag: Viele Menschen sind unterwegs, einige flanieren, andere hasten durch die Einkaufsmeile, tragen Tüten von Geschäft zu Geschäft. Auf den ersten Blick wirkt alles wie immer – wäre da nicht die kleine Gruppe Forschender, die unauffällig am Gehsteig-Rand mit Stoppuhren hantiert. Denn die Fußgänger sind Teil eines Experiments, sagt der Zeitforscher Dietrich Henckel. Er ist emeritierter Professor der TU Berlin und war selbst nicht an dem Experiment beteiligt.

01 O-TON (Henckel)

Da haben sie bestimmte Straßen in den Innenstädten ausgewählt und haben tatsächlich gemessen, wie schnell die Leute bestimmte Strecke zurücklegen. Und das haben sie mit einer Vielzahl von Leuten gemacht und dann eben die Durchschnittsgeschwindigkeit daraus berechnet.

SPRECHERIN

Die Messung der Gehgeschwindigkeit war Teil eines größeren Projekts. Ein Forschungsteam um den amerikanischen Sozialpsychologen Robert Levine wollte wissen, wie sich das Lebenstempo in Städten weltweit unterscheidet. Dafür reiste das Team in 31 Länder, um mehrere Indikatoren zu erheben. Neben der Gehgeschwindigkeit ermittelten sie auch, wie lange es in einem Land dauert, eine Standard-Dienstleistung zu erbringen.

02 O-TON (Henckel)

Das war der Verkauf einer Briefmarke.

SPRECHERIN

Das Forschungsteam überprüfte auch, wie genau die Uhren in der Öffentlichkeit gehen. Das werteten sie als Indiz für Pünktlichkeit und Zeitspannen, die toleriert werden. Heute dürfte dieser Indikator veraltet sein. 

03 O-TON (Henckel)

Weil die öffentlichen Uhren verschwinden zunehmend aus dem öffentlichen Raum. Es gibt sie immer weniger, weil jeder das Handy in der Tasche hat und an Fahrplananzeigen und so weiter und so fort ist immer die Zeit auch angezeigt und wesentlich genauer.

SPRECHERIN

Das breit angelegte Forschungsprojekt ist auch schon einige Jahre her. Es fand Mitte der 1990er Jahre statt. Dennoch gilt es in der Zeitforschung immer noch als wegweisende Studie, die immer wieder zitiert wird, weil sie einige interessante Zusammenhänge aufgedeckt hat. Es zeigte sich beispielsweise, dass die wichtigste Determinante für das Lebenstempo der Wohlstand ist. Genauer gesagt: Je höher das Tempo in den Städten, desto reicher die Menschen. So landeten auf den ersten Plätzen des Tempo-Rankings die Schweiz, Irland und Deutschland. Japan kam auf den vierten Platz – aber nur weil am Postschalter die Briefmarke noch in aller Ruhe eingepackt und hübsch umwickelt wurde. Auf den letzten Plätzen landeten Mexiko, Brasilien und Indonesien.

Rund zehn Jahre danach, also Mitte der Nuller Jahre, hat ein britisches Forschungsteam die Gehgeschwindigkeit in den Städten erneut gemessen. Das Ergebnis: Im Schnitt hat das Tempo um zehn Prozent zugenommen. Das Leben in den Städten ist also tatsächlich schneller geworden.

Obwohl schon einige Jahre alt, werden die Tempo-Studien immer wieder zitiert. Vielleicht weil sie ein Gefühl vieler Menschen bestätigen: Dass sich ihr Alltag beschleunigt, dass alles immer hektischer wird. Doch warum überhaupt? Wer oder was steckt dahinter? Und wer ist besonders betroffen? 

04 O-TON (Rinderspacher)

Davon betroffen sind vor allen Dingen die, die man so als die Menschen bezeichnet, die in der Rushhour des Lebens stehen. Das sind eben Menschen, die gleichzeitig berufliches Fortkommen und Familie bewerkstelligen müssen und da natürlich in die üblichen Zeitprobleme geraten und einfach in einer Phase sind, in der sich sehr viele Anforderungen stauen. Das sind aber auch Menschen, die viele Überstunden machen müssen. 

SPRECHERIN

Sagt der Zeitforscher Jürgen Rinderspacher. Er ist Dozent an der Universität Münster. Ein guter Teil des Stresses entsteht also am Arbeitsplatz. Dort jagt ein Termin den nächsten, nebenbei werden schnell Mails beantwortet, beim Mittagessen das Projekt besprochen und abends geht’s dann noch zur Weiterbildung. Man will ja beruflich fortkommen. Im privaten Bereich geht’s dann weiter: Nach der Arbeit zur Kita oder zum kranken Vater hetzen, unterwegs noch ein Geschenk besorgen, eine SMS an die Freundin wegen der Feier am Wochenende, und später zu Hause noch was kochen und die Wäsche aufhängen. Gefühlt tausend Dinge müssen an einem Tag erledigt werden. Man nennt das Zeitverdichtung.

05 O-TON (Rinderspacher)

Der Begriff der Zeitverdichtung kommt eigentlich aus dem Erwerbsbereich und das bedeutet, dass man Dinge, die man vorher mit mehr Zeit getan hat, jetzt in kürzerer Zeit tun muss. ((Also das ist das Klassische, was wir unter Rationalisierung verstehen im Erwerbsbereich. Wir haben das aber auch im Bereich der Hausarbeit, dass man Dinge, für die man früher mehr Zeit hatte, nun weniger Zeit sich nimmt oder gezwungen ist, Dinge in kürzerer Zeit zu tun.)) Das ist also eine Verdichtung sozusagen der Poren des Tages. Und die wird eben auch sehr stark als Zeitstress empfunden.

SPRECHERIN

((Eine Verdichtung des Arbeitstages gibt es in vielen Bereichen.)) Ein krasses Beispiel ist die Logistikbranche. Paketbotinnen und -boten stehen heute sehr oft unter einem enormen Zeitdruck. 

06 O-TON (Henckel)

Was dann dazu führt, dass die gar nicht mehr klingeln, sondern gleich die Benachrichtigungskarte in den Briefkasten werfen oder gleich beim Nachbarn im ersten Stock klingeln und das abgeben. Weil die unter einem elenden Druck stehen und dann im fünften Stock laufen und dann ist da niemand. Und gleichzeitig haben sie eben ein unglaubliches Pensum zu erfüllen.

SPRECHERIN

Zeit ist eben Geld, das gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel die Forschung.

07 O-TON (Henckel)

Ich war früher in einem Forschungsinstitut. Und das, was ich damals dort an Forschung gemacht habe und die Art und Weise, wie ich das mit meinen Kolleginnen und Kollegen gemacht habe, das wäre heute nicht mehr denkbar. Wir haben damals auch schon über die Beschleunigung gesprochen und wie viel stärker der Produktionsdruck damals wurde. Also ich rede von den 80er Jahren. Und im Rückblick ist das ein Kinderspiel gegen das, was sich danach abgespielt hat. 

SPRECHERIN

Dietrich Henckel gehörte hierzulande zu den ersten Hochschullehrenden, die Zielvereinbarungen bekamen. Für viele Forschende ist das heute Standard.  

08 O-TON (Henckel)

Ihr müsst so und so viele Aufsätze in referierten Journals veröffentlichen in der und der Zeit. Und die ganzen Evaluationen der Institute, die funktionieren alle nach diesen Geschichten; wie viele Publikationen in referierten Zeitschriften veröffentlicht werden, wie ist der Output dieser Institution dann abteilungsweise und so weiter und so fort. Also da ist ein unglaublicher Beschleunigungsdruck überall drin.

SRECHERIN

Man kann also festhalten: In vielen Bereichen gibt es einen starken Produktions- und Leistungsdruck – und der führt dazu, dass tatsächlich immer mehr in kürzerer Zeit erledigt werden muss. 

Wobei wir auf der anderen Seite heute auch sehr viele Hilfsmittel haben. Dinge, die uns Arbeit abnehmen oder schneller erledigen lassen. Zuhause übernehmen Wasch-, Spül- und Küchenmaschinen einen großen Teil der Hausarbeit. Mit Auto, Zug oder Flugzeug kommen wir sehr viel schneller ans Ziel. Und dank Computer und Internet können wir binnen Sekunden Emails schicken, komplizierte Berechnungen anstellen oder ganze Bibliotheken durchforsten. Im Prinzip „sparen“ wir also jede Menge Zeit – und haben trotzdem keine. Woran liegt das?

09 O-TON (Rinderspacher)

Ich habe das mal genannt: die infinitesimale Verwendungslogik der Zeit. Wir versuchen eben Zeit zu gewinnen, um dann in diese gewonnenen Zeiträume immer mehr reinzutun. Und das bedeutet natürlich, dass wenn ich jetzt durch eine Geschirrspülmaschine Zeit spare, dann werde ich mir in der Zeit, die ich gewonnen habe, irgendwas vornehmen. Damit wachsen dann auch die Anforderungen an uns selbst. Wir haben ja dann Zeit erspart und diese ersparte Zeit wollen wir irgendwie dann – jetzt kommt das Stichwort – sinnvoll nutzen. Das ist eben eine Folge der infinitesimalen Verwendungslogik der Zeit.

SPRECHERIN

Es sind also nicht nur die Anforderungen im Beruf, die vielerorts gestiegen sind, sondern auch die Erwartungen an uns selbst. Die Wohnung soll tiptop aussehen – man kann schließlich, während die Spülmaschine läuft, schon mal aufräumen. Oder während der Konferenz online neue Gummistiefel für den Urlaub bestellen. Wieder Zeit gespart, denken wir zumindest. Denn einige Studien zeigen, dass Multitasking oft dazu führt, dass wir letztlich sogar länger brauchen. Auch einige Haushaltsgeräte, die Zeit sparen sollten, hatten letzten Endes einen gegenteiligen Effekt.  

10 O-TON (Henckel)

Also die Waschmaschine ist ein typisches Beispiel dafür, dass es den damals noch rein den Hausfrauen die Arbeit erleichtern sollte und ihnen ein hohes Maß an Zeitersparnis bringen sollte, weil sie jetzt nicht mehr die Wäsche in den Topf, nicht kochen müssen, das läuft nebenher. Damit einhergegangen sind aber völlig andere Hygiene-Vorstellungen und Sauberkeitsvorstellungen, was Kleider angeht. Man wäscht viel häufiger. Das ist mit Geschirrspülmaschinen genau das gleiche. Man verbraucht einfach auch viel mehr als früher. Man ist früher viel sparsamer mit Geschirr umgegangen, also dem Schmutzigmachen von Geschirr, als das heute der Fall ist. Und das sind so Sachen, die die Zeit, die eingespart wird, auch wieder auffressen. 

SPRECHERIN

Die Teller kommen wegen ein paar Krümeln in die Spülmaschine. Die T-Shirts nach einmal Tragen in die Wäsche. Die Folge ist, dass sich die Dinge schneller abnutzen – und wir wieder schneller neue brauchen. Ein durchschnittlicher Konsument, eine durchschnittliche Konsumentin kauft heute sehr viel mehr Dinge als in früheren Zeiten, sagt der Arbeitssoziologe Gerhard Bosch. Er ist Professor an der Universität Duisburg-Essen.

11 O-TON (Bosch)

Man kauft nicht mehr das Porzellan, die Möbel fürs Leben, wie das früher mit der Aussteuer war, sondern das wird mehrfach im Leben dann neu gekauft.

SPRECHERIN

Das liegt zum Teil auch daran, dass die Dinge nicht so lange halten. Für ein zehn Jahre altes Handy gibt es oft keine Ersatzteile mehr. Das Fernsehgerät braucht einen neuen technischen Standard, also muss ein neues her. Und eine kaputte Uhr zu reparieren, lohnt sich oft gar nicht. Eine neue zu kaufen ist günstiger – und dauert auch nicht so lang. Heute bestellt, morgen geliefert – in einigen Städten sogar noch schneller. 

12 O-TON (Henckel)

Amazon wirbt damit, in einer Stunde irgendwas auszuliefern. Und diese Erwartung: Wir kriegen alles sofort oder ganz, ganz schnell, das ist einerseits nachfrageseitig bestimmt, aber andererseits auch angebotsseitig, wo die Wettbewerber dann sagen: Aber wir sind noch schneller und wir liefern euch das Zeug noch schneller, und das paust sich dann auch durch auf die Fahrer.

SPRECHERIN

Man kann natürlich sagen: Das mache ich nicht mit. Man kann schließlich die Küchenmaschine auch reparieren lassen. Warten, bis der Pullover deutlich müffelt, bevor er in die Wäsche kommt. Und erst neue Hosen kaufen, wenn die alten durchgescheuert sind. Aber das machen eher wenige. Die meisten Menschen passen sich dem Tempo des modernen Lebens an. Warum?  

13 O-TON (Rinderspacher)

Der Mensch ist ja ein Herdentier, sage ich mal ganz einfach. Wissenschaftlich ausgedrückt wäre das der soziale Vergleich.

SPRECHERIN

Der Nachbar hat so tolle Möbel, die Schwester schon wieder neue Klamotten und der Sohn will, wie sein bester Kumpel, auch mal nach Spanien fliegen. Das alles auszusuchen, zu vergleichen, zu probieren, zu bestellen und vielleicht zu retournieren, kostet Zeit. Wobei man den Stress im Privaten noch selbst dosieren kann. Anders ist das im Erwerbsleben, dort haben viele Menschen gar keine andere Wahl, als das zunehmende Tempo mitzumachen. 

14 O-TON (Bosch)

Die wollen ihren Lebensunterhalt verdienen, die Miete muss bezahlt werden, man will vielleicht noch mehr, man hat eine Familie, man will auch seine Fähigkeiten nutzen und das kann man eigentlich nur innerhalb des Systems. Außerhalb des Systems können das ein paar Künstler machen, ein paar Aussteiger, die aber massive Einbußen des Lebensstandards dafür in Kauf nehmen.

SPRECHERIN

Deshalb machen viele das zunehmende Tempo mit. Sie hetzen durch den Alltag, versuchen Schritt zu halten, vielleicht sogar die Nase vorn zu haben im kollektiven Wettlauf gegen die Zeit. Auch wenn es einem hin und wieder so vorkommt, als finde das Rennen im Hamsterrad statt. 

Aber wer dreht dieses Rad eigentlich immer schneller? Was beschleunigt unser Leben? Warum muss oder will man immer mehr erledigen? 

Um das zu verstehen, hilft ein Blick zurück in die Geschichte. 

In früheren Jahrhunderten gab die Natur den Rhythmus vor, und der war deutlich langsamer. Gesät wurde im Frühjahr, geerntet im Herbst, wenn das Korn reif war. Beschleunigen ließ sich das nicht. Es gab sicherlich auch damals stressige Phasen, aber auch Zeiten der Muße. 

15 O-TON (Bosch)

Auch die Arbeiter in den Manufakturen hatten immer ihre Pausen, weil die Produktion hing ja ab von Windkraft und von Wasserkraft. Das lief nicht kontinuierlich. Und das hat sich dann aber geändert mit der Industrialisierung.

SPRECHERIN

Die Industrialisierung begann vor gut 250 Jahren. Damals fingen die Menschen an, Dinge mithilfe von Maschinen herzustellen. Anfangs waren das automatisierte Webstühle. Nach und nach gab es immer mehr Maschinen und automatisierte Abläufe. Das veränderte die Art zu arbeiten grundlegend.   

16 O-TON (Bosch)

Es wurden große Fabriken gebaut und der eigentliche Durchbruch kam mit der Dampfkraft und der Elektrizität, weil mit diesen Energiequellen konnte man sicherstellen, dass kontinuierlich auch rund um die Uhr und ohne große Ausfälle produziert wurde.

SPRECHERIN

Statt dem Rhythmus der Natur gaben nun Maschinen den Takt vor. Und der war anfangs gnadenlos. 

17 O-TON (Bosch)

Zwölf Stunden am Tag war üblich, sechs Tage die Woche auch. Am Sonntag wurde den halben Tag noch gearbeitet. Es gab keine bezahlten Feiertage, Urlaub eh nicht.

SPRECHERIN

Und noch etwas Anderes half, die Arbeit in den Fabriken zu organisieren. Eine Erfindung, die unser modernes Leben im wahrsten Sinne des Wortes „einläutete“: die Uhr. Erste Exemplare gab es schon im Mittelalter, aber mit der Industrialisierung bekamen sie eine deutlich größere Bedeutung für jeden und jede Einzelne. Denn damit konnte man zum Beispiel feste Zeiten für Arbeitsbeginn und Ende vorgegeben. Damals eine neue Erfahrung für die Menschen. 

18 O-TON (Rinderspacher)

Das war zunächst ein sehr großes Problem, die Arbeitsbevölkerung so zu erziehen, in Richtung Pünktlichkeit zu erziehen, dass sie dann auch pünktlich zur Arbeit kam, dass sie dann in bestimmten Zeiten auch bestimmte Dinge erledigt haben. Das ist ein großer kollektiver Sozialisationsprozess geworden. Die Umerziehung ganzer Kulturen, kann man sagen, hin zu einer industriellen Zeit-Kultur. Und dann wird die Uhr zu einem Ordnungssystem. 

SPRECHERIN

Bevor Uhren den Takt vorgaben, traf man sich zur „Zeit der größten Mittagshitze“. Oder „vor Sonnenuntergang“. Pünktlichkeit war da Ansichtssache. Man wartete halt. Die Uhren veränderten das Erwerbs- aber auch das soziale Leben. Man konnte sich nun zu einer bestimmten Zeit treffen. Wobei anfangs noch jeder Ort seine eigene Uhrzeit hatte, die sich nach dem Stand der Sonne richtete. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das vereinheitlicht. Das Deutsche Kaiserreich schloss sich der mitteleuropäischen Zeitzone innerhalb der Weltstandardzeit an. Im Gesetzesblatt hieß es:

ZITATOR

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen, verordnen im Namen des Reichs: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich. 

SPRECHERIN

Hintergrund dafür waren die Eisenbahnfahrpläne.

19 O-TON (Henckel)

Damals war in jeder Stadt eine lokale Zeit und dann kann man natürlich die Fahrpläne nicht vernünftig aufeinander abstimmen. Und deshalb wurde die Eisenbahnzeit eingeführt, um in größeren Räumen eine Standardzeit zu haben, um das zu verbinden.

SPRECHERIN

Mit der Eisenbahn wurden damals zunehmend auch Waren und Güter transportiert. Es lohnte sich deshalb bald, größere Fabriken zu bauen, um mehr zu produzieren und die Waren anderswo zu verkaufen. Das veränderte wiederum die Arbeitsweise. Die Effizienz nahm zu, und gleichzeitig auch die Geschwindigkeit.

20 O-TON (Bosch)

Mit der großen Fabrik entstand natürlich dann auch eine Form der Organisation, wo komplexere Arbeit in kleine Schritte zerlegt wurde und diese einfachen Tätigkeiten in hohem Tempo verrichtet werden mussten. Also was man allgemein die Verdichtung der Arbeitszeit nennt.

SPRECHERIN

Die Rationalisierung setzte sich nach und nach durch. Denn sie machte die Ware günstiger, was für andere Fabrikantinnen und Fabrikanten bedeutete, dass sie nachziehen mussten. Sonst drohte die Pleite. 

21 O-TON (Bosch)

Der Kapitalismus ist ein Konkurrenzsystem und die Unternehmen versuchen natürlich, möglichst große Marktanteile zu gewinnen. 

SPRECHERIN

Das gelang auch über neue Maschinen – oder allgemeiner gesprochen: Innovationen. Manche davon sparten Arbeitskraft ein. Andere brachten ganz neue Produkte hervor: Autos, Flugzeuge, Waschmaschinen, Computer, Handys. Wobei sich im Laufe der Zeit auch der Innovationszyklus selbst beschleunigte. Immer schneller kamen und kommen neue Produkte auf den Markt. 

22 O-TON (Bosch)

Man kann sagen, dass die Innovationszyklen, also die Entwicklung neuer Produkte, sich auch beschleunigt hat. Die Einführung etwa neuer digitaler Instrumente, die geht viel schneller als die Einführung des Autos oder des Radioapparats in der Vergangenheit. 

SPRECHERIN

Über die Jahrhunderte hinweg führte dieses System aus Rationalisieren, Innovieren, Marktanteile gewinnen, Konkurrenten abhängen zu enormen Produktivitätsgewinnen. 

23 O-TON (Bosch)

Unsere Produktivität ist zwischen 1870 und 1990 um 700 Prozent gestiegen. Das heißt pro Kopf 17 Mal so viel.

SPRECHERIN

Und deshalb haben wir heute auch ein Vielfaches an Waren und Dienstleistungen im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Ein modernes Leben mit einem enormen Wohlstand – aber eben auch einem deutlich höheren Tempo. 

Wobei es immer auch Zeiten gab, wo die Geschwindigkeit gedrosselt wurde. Denn der gnadenlose Takt der Maschinen in den Fabriken führte dazu, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter Pausen einforderten. Sie legten die Arbeit kollektiv nieder und schalteten die Maschinen ab. Es waren sprichwörtliche „Aus-Zeiten“. Und sie schlossen sich zu Gewerkschaften zusammen und kämpften für den 8-Stunden-Tag oder den freien Samstag. Man könnte auch sagen: Sie kämpften für mehr Zeitwohlstand. 

24 O-TON (Bosch)

Samstags gehört Papi mir. War ja nichts anderes als ein Zeitwohlstand, der wirklich auch funktioniert hat. ((Und wenn sich eine Arbeitszeitverkürzung mal durchgesetzt hat, dann stellen die Leute ihr ganzes Leben um und genießen diesen Zeitwohlstand und bauen den in ihre Lebensplanung ein. Der freie Samstag und der freie Sonntag sind ja heute selbstverständlich. Mein Vater musste noch samstags arbeiten und ich bin noch samstags zur Schule gegangen, was heute auch nicht mehr der Fall ist.))

SPRECHERIN

Daneben gab es aber auch Zeiten, in denen das Tempo schneller zunahm. Oft waren es politische Entscheidungen, die den Startschuss dafür gaben.

25 O-TON (Bosch)

Die Regeln des Systems haben sich so verändert, dass das System beschleunigt wurde. In den letzten Jahren also zum Beispiel die Privatisierung vieler öffentlicher Dienstleistungen. Früher war die Bahn ein Monopol Unternehmen, die Post auch. Und heute gibt es viele Konkurrenten und die setzen sich gegenseitig unter Druck. 

SPRECHERIN

Ausbaden müssen das in erster Linie die Paketbotinnen und Paketboten. Zumindest wenn politisch nicht gegengesteuert wird, um das Tempo in der Branche zu drosseln. Ohnehin drehen sich viele politische Debatten eigentlich um Zeit, auch wenn vordergründig um Geld gerungen wird. Die Lokführer bei der Bahn zum Beispiel streikten zuletzt dafür, nur noch 35 statt 38 Stunden in der Woche arbeiten zu müssen. Auch beim Elterngeld oder der bezahlten Pflege von Angehörigen geht es letztlich um Zeitwohlstand. 

((26 O-TON (Bosch)

Das ist ja auch eine Form von Arbeitszeitverkürzung in einer bestimmten Lebensphase, wo man Kinder hat, und auch die Option, freie Tage für Pflege zu bekommen.))

SPRECHERIN

Am Ende kann man festhalten: Es hängt alles zusammen: Die Gehgeschwindigkeit in den Innenstädten und der Wohlstand. Die Genauigkeit der Uhren und die Effizienz. Der Leistungsdruck und die rationalisierte Standard-Dienstleistung. 

Vielleicht sollte man es deshalb hin und wieder machen wie die Japaner: Sich Zeit nehmen und in aller Ruhe eine schöne Schleife um die Briefmarke binden. Auch wenn man dann nicht auf dem ersten Platz landet.