radioWissen - Bayern 2   /     Offene Beziehungen - Das Ende der Monogamie?

Description

Laut Umfragen ist fast jeder Dritte schon mal fremdgegangen. Evolutionsbiologen betonen, der Mensch sei gar nicht für die Monogamie geschaffen. Warum also nicht ehrlich sein und die Beziehung öffnen? Es gibt Paare, für die passt dieses Modell. Sie scheinen weniger von Verlustangst geplagt zu sein. Andere hingegen stimmen nur zähneknirschend zu ? aus der Angst, den Partner oder die Partnerin zu verlieren. Autorin: Karin Lamsfuß

Subtitle
Duration
00:23:14
Publishing date
2024-02-06 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/offene-beziehungen-das-ende-der-monogamie/2089664
Contributors
  Karin Lamsfuß
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2089664/c/feed/offene-beziehungen-das-ende-der-monogamie.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Laut Umfragen ist fast jeder Dritte schon mal fremdgegangen. Evolutionsbiologen betonen, der Mensch sei gar nicht für die Monogamie geschaffen. Warum also nicht ehrlich sein und die Beziehung öffnen? Es gibt Paare, für die passt dieses Modell. Sie scheinen weniger von Verlustangst geplagt zu sein. Andere hingegen stimmen nur zähneknirschend zu ? aus der Angst, den Partner oder die Partnerin zu verlieren. Autorin: Karin Lamsfuß

Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Sven Hussock
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Dr. Wolfgang Krüger, Psychotherapeut;
Anouk Algermissen, Psychologin und Paarberaterin;
Friedemann Karig, Wissenschaftsjournalist und Autor;
Verena König, Traumatherapeutin

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Literaturtipps:

Friedemann Karin: Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Atb-Verlag, 2018.

Wolfgang Krüger: Treue: der Konflikt zwischen Vertrauen und Begehren. BoD – Books on Demand 2019.

Holger Lendt und Lisa Fischbach: Trennung ist auch keine Lösung. Ein Plädoyer für mehr Freiheit in der Liebe. Piper 2014.

Und hier noch zwei besondere Podcast-Empfehlungen der Redaktion:

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Musik 1: Explain - C1529290110 – 49 Sek

O-Ton 1 Steffen (0‘01“): 

Ich liebe sie beide.

O-Ton 2 Wolfgang Krüger (0’11“): 

Dass wir viele andere Menschen lieben können, glaube ich nicht, ich glaube, dass die Liebe immer etwas Exklusives hat, zumindest, was Erotik anbetrifft.

O-Ton 3 Steffen (0‘12“): 

Warum nur eine? Sag mir einen ordentlichen Grund, warum man nur eine Freundin haben sollte. Ich denke nicht, dass ein Herz eine mechanische Größe hat. 

O-Ton 4 Anouk Algermissen (0‘07“): 

Die meisten Menschen, die sich mit dem Thema Offene Beziehung beschäftigen, die machen das aus dem Grund, dass sie mehr Freiheit wollen.

O-Ton 5 Nicole (0‘07“): 

Wir haben so ne hohe Scheidungsrate: Warum bieten man seinem Partner nicht einfach die Möglichkeit an, offen und ehrlich zu sein? 

Atmo Sektkorken, Party + Musik 2: Shameless - Z8027434102 – 44 Sek

Sprecherin: 

Es passiert auf der Weihnachtsfeier, an Karneval oder auf dem Oktoberfest. Fremdgehen ist fast schon Normalität. Jeder zweite bis dritte – je nach Studie – ist schon einmal fremdgegangen. In der Folge wird gelogen, verheimlicht, manchmal gebeichtet. Ganz oft mündet das in einer großen Katastrophe für die Partnerschaft. Weil der Vertrauensbruch nicht mehr zu kitten ist. 

Sprecher: 

Jede zweite Ehe in Deutschland wird geschieden. Mit zunehmender Beziehungsdauer sinkt die sexuelle Zufriedenheit. Viele Paare reden nicht mehr miteinander. Irgendwann angeblich nur noch sieben Minuten am Tag. Ist die Monogamie am Ende?

O-Ton 6 Wolfgang Krüger (0‘31“): 

Die Konstruktion, die wir heute haben von Partnerschaften, die ist ausgesprochen anspruchsvoll. Also wir wollen, dass wir mindestens zehn, 20 Jahre mit jemandem zusammen sind, dass man den Alltag miteinander verbringt, dass man Konflikte klärt, dass man sich möglicherweise ein Haus baut, dass man also so was ist wie ne Wirtschaftsgemeinschaft, dass man die Kinder zusammen hat, dass man Vertrauen hat, und dann wollen wir auch noch, dass man immer wieder in den anderen verliebt ist und eine lebendige Erotik hat! 

Sprecher: 

Dr. Wolfgang Krüger, Psychotherapeut. 

Sprecherin: 

Nicht selten entsteht in eingeschlafenen langjährigen Beziehungen und Ehen eine heimliche Sehnsucht: nach mehr Lebendigkeit, nach Aufregung, nach intensivem Fühlen. 

O-Ton 7 Wolfgang Krüger (0‘18“): 

Und wenn man dann noch Herzklopfen haben will, muss man tendenziell fremdgehen, und 60% der Seitensprünge gehören diesem Muster an, dass man merkt: Die Beziehung hat eigentlich kein wirkliches Liebespotential mehr, man will sich aber nicht trennen, also geht man fremd. 

Musik 3: Clouds up aus: The virgin suicides - C1090260002 – 35 Sek

Sprecher: 

Warum nicht mal anders mit dem Thema umgehen? Warum nicht die Beziehung öffnen – und zwar offen und ehrlich? 

Sprecherin: 

Vielleicht ist das ja die Lösung für ein bislang ungelöstes Dilemma: Nämlich, dass einerseits viele Beziehungen auf Dauer an Lebendigkeit verlieren. Andererseits heimliche Seitensprünge einen hohen Preis haben: zerbrochene Beziehungen und Verrat an den eigenen Werten.

Doch gibt es beides gleichzeitig: Treue UND Freiheit?

O-Ton 8 Anouk Algermisssen (0‘23“): 

Ich glaube, viele Paare versuchen zu navigieren, eine langfristige, stabile Partnerschaft zu haben, und gleichzeitig einen Weg zu finden, ihr Freiheitsbedürfnis, Experimentierbedürfnis auszuleben, und ich glaube, das ist für viele Menschen sehr spannend, sich überhaupt die Freiheit rausnehmen zu können, das monogame Modell überhaupt hinterfragen zu dürfen. 

Sprecher: 

Sagt die Psychologin und Paartherapeutin Anouk Algermissen. 

Sprecherin: 

Sie begleitet Paare dabei, ihre Beziehung zu öffnen. Im Durchschnitt sind ihre Klientinnen und Klienten um die 30.

Sprecher: 

Laut einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage im Auftrag des Partnervermittlers ElitePartner hatten bereits 14 Prozent aller Männer und sieben Prozent aller Frauen zumindest eine Zeit lang eine offene Beziehung. Unter den 18- bis 39-Jährigen waren es sogar 19 Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen.

O-Ton 9 Algermisssen (0‘32“): 

Was auch häufig ist, ist, dass man unterschiedliche sexuelle Vorstellungen hat oder auch Vorlieben, dass das z.B. schwer vereinbar ist, und es gibt auch manche Menschen, da geht es gar nicht so sehr um die Sexualität, die im Vordergrund steht, sondern tatsächlich um das Konzept der Beziehungsform. Also da kommen die sozusagen rein und sagen „Wir wollen selber noch mal überlegen, wie wir Beziehung führen möchten und machen das sozusagen im Kontext der offenen Beziehung. Um uns das noch mal neu anzugucken und zu schauen, wie wir Beziehung leben wollen. 

Sprecherin: 

Die neuen Beziehungsmodelle jenseits der klassischen Monogamie werden gerne in Lifestyle-Magazinen als Zeitgeist-Phänomen präsentiert. Offen, unkonventionell, experimentell. So dass sich jeder, der treu lebt fragt: 

Musik 4: Conundrum – C1566350107 - 12 Sek

Sprecher: 

Hab ich irgendwas verpasst? Bin ich vielleicht einfach zu spießig?

Sprecherin: 

Eine Frau lebt mit zwei Männern, ein Mann mit vier Frauen, mal lieben sich die Männer und Frauen auch untereinander, mal nicht. Erleben wir gerade eine Beziehungsmodell-Revolution?

O-Ton 10 Friedemann Karig (0‘20“): 

Monogamie ist nicht das eine natürliche Modell, nach dem wir alle leben müssen. Es war sozusagen mal eine schlaue Idee der menschlichen Kultur, sich darauf festzulegen, aber natürlich so wie unsere Sexualität entstanden ist, ist wahrscheinlich eher eine serielle Monogamie, die wir heute auch leben, oder sogar polygame Formen des Zusammenlebens. 

Sprecher: 

Friedemann Karig. Wissenschaftsjournalist und Autor des Buchs „Wie wir lieben“. Er hat viele Paare zur Treue, zur Ehrlichkeit und zum Miteinander befragt. Und Studien und Berichte ausgewertet: von Biologen, von Evolutionspsychologen, Genetikern, Soziologien, Anthropologen und Sexualwissenschaftlern.

O-Ton 11 Friedemann Karig (0‘17“): 

Es gibt so viele Liebesmodelle, wie es Menschen gibt. Es lohnt sich für jeden einzelnen, nach dem für ihn passenden Leben und Lieben zu suchen. Jenseits der Monogamie und jenseits einer Kultur, die uns heute immer noch vorschreiben will, dass eins plus eins genau das Richtige ist. 

Sprecher: 

Religiöse und gesellschaftliche Normen bröckeln schon länger. Das lässt mehr Raum für individuelles Experimentieren, mehr innere Freiheit.

Sprecherin: 

So scheint es, als befänden wir uns gerade in einem Selbstbedienungsladen der unterschiedlichen Beziehungsmodelle. Monogam, polyamor, offen, heimliche Affäre, Freundschaft plus,– um nur einige zu nennen. Jeder und jede kann ins Regal greifen und sich das passende Modell heraussuchen. Ist das wirklich so einfach?

O-Ton 12 Verena König (0‘27“): 

Aus der therapeutischen Haltung betrachtet, glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir uns bewusst machen, dass die anderen Beziehungsformen wie beispielsweise Polyamorie oder Polygamie oder offene Beziehungsmodelle, dass die nicht unbedingt weniger Reife und weniger Selbstreflexion von uns erfordern als die herkömmlichen Beziehungsmodelle, sondern im Gegenteil eher mehr. 

Sprecher: 

Verena König, Traumatherapeutin.

O-Ton 13 Verena König (0‘15“): 

 Es geht ja im Grunde bei Beziehungen immer um tiefe Bindung, es geht um Bindung. Es geht darum, dass sich zwei Menschen, zwei Herzen, zwei Körper, zwei Nervensysteme begegnen und verbinden. Zwei oder mehrere.

Musik 5: Silver lining title - Z8000828101 – 59 Sek

O-Ton 14 Nicole (0‘26“): 

Christian und ich waren in einer offenen Beziehung, ganz am Anfang, ich hab es ihm vorgeschlagen, weil er hatte mir gesagt, er hatte vor mir nur eine Beziehung, und da ist bei mir tatsächlich auch so der Gedanke gekommen: ‚Oh Gott, wenn das jetzt für immer ist … wird er sich fühlen, dass er was verpasst hat in seinem Leben, und da hatte ich tatsächlich das Gefühl, ich möchte ihm das anbieten, weil wenn das von beiden Seiten okay ist – warum nicht?

Sprecher: 

Nicole, Fabian und Christian leben eine polyamore Beziehung. Das heißt: Eine feste Liebesbeziehung mit mehr als zwei Menschen.

Sprecherin: 

Bei den Dreien heißt das konkret: Nicole hat sowohl mit Fabian als auch mit Christian eine innige Beziehung. Körperlich sowie seelisch. Christian ist ihr Ehemann und Fabian ihr zweiter Partner. Die beiden Männer haben jedoch keinen Sex miteinander, erklärt Fabian: 

O-Ton 15 Fabian (0‘27“): 

Wir haben das mal so hinterfragt und sind drauf gekommen, dass wir uns auf eine asexuelle Weise lieben. Also wir sind auch in einer vollen Beziehung miteinander, das ist halt auch der Punkt, den viele übersehen: Vielen denken: ‚Aha, Sex ist gleich Beziehung, Nicole hat zwei Beziehungen, Christian und Fabian jeweils nur eine Beziehung, d.h. Nicole hat mehr vom Leben, Christian und Fabian weniger. (…) Und das ist halt bei uns nicht der Fall, vor allem auch, weil wir auch ne Triade sind.

Sprecherin: 

Christian und Nicole führten schon immer eine offene Beziehung. Das heißt: Jeder durfte fremdgehen. Dann kam Fabian hinzu. Zunächst als ein guter Freund des Paares. Und dann verknallte sich Nicole in Fabian. Nun sind sie zu dritt. 

O-Ton 16 Nicole (0‘23“)

Also für mich ist das Schönste, dass immer jemand für einen da ist. Das ist tatsächlich bei uns Dreien so: Tatsächlich egal, wer mal ausfällt, es passiert sehr, sehr selten, dass einer alleine ist, (…) als ich krank war, hat der Fabi was zu tun gehabt und zum Christian gesagt: „Machst du heute Teedienst für die Nicole?“ Also es ist wirklich immer einer für einen da!

O-Ton 17 Fabian (0‘06“)

Deine Familie wird einfach größer. Je mehr Menschen füreinander da sind, desto mehr Halt hast du auch! Und mehr Sicherheit! 

Musik 6: Romantics – M0077562105 – 23 Sek

Sprecherin: 

Halt und Sicherheit. Begriffe, die Außenstehende erst mal nicht mit offenen oder polyamoren Beziehungen verbinden würden. Diese Lebens- und Liebesformen klingen eher nach Anarchie und Instabilität. 

Sprecher:

Nicht unbedingt, sagt die Psychologin und Paartherapeutin Anouk Algermissen:

O-Ton 18 Anouk Algermissen (0‘17“) 

Wenn die offene Beziehung gelingt, dann kommt damit häufig auch eine größere Tiefe einher. Weil man dann nicht etwas rausnimmt, sondern ich muss ja noch mehr Kraft in die Beziehung investieren, damit ich die schön halten kann und gleichzeitig auch mein Bedürfnis befriedigt bekomme.

Sprecher: 

Wie viele Menschen in Deutschland zumindest zeitweise polyamor leben, ist nicht bekannt. Zahlen – allerdings auch nur geschätzte - aus den USA gehen von fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. 

Sprecherin: 

Polyamorie ist von der Idee her kein wildes Bäumchen-wechsel-dich, sondern ein tiefes sich Einlassen auf mehrere Menschen. Wer so lebt, sieht sich mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Die gehen von 

Sprecher: „kann nicht klappen“ 

Sprecherin: …über…

Sprecher: „ist sowieso der Anfang vom Ende!“ 

Sprecherin: …bis hin zu…

Sprecher:  „Ich würde umkommen vor Eifersucht!“

O-Ton 19 Christian (0‘17“): 

Am Anfang war schon etwas Eifersucht da, aber das hat sich aber ziemlich schnell gelöst, weil wir uns sowieso schon vorher sehr gut kannten. Dass wir Freunde waren, vorher. Und dadurch, dass wir viel geredet haben, um abzuklären und zu besprechen, ist die Eifersucht eigentlich ziemlich schnell verschwunden. 

 O-Ton 20 Nicole (0‘14“)

Ich glaub, am Anfang haben beide so ein bisschen Eifersucht gespürt, das hab ich auch so gemerkt, wir haben darüber gesprochen, das ist ja auch ein normales Gefühl, was dazu gehört, aber mit der Zeit verliert man ja die Eifersucht, weil man kennt diese Situation.

Sprecherin: 

Einfach reden, und schon schwindet die Eifersucht?

Sprecher:

Psychologin Anouk Algermissen macht oft andere Erfahrungen: 

O-Ton 21 Algermissen (0‘29“): 

Menschen in offenen Beziehungen sind ebenfalls eifersüchtig, verlustängstlich, und denen tut das ebenfalls weh. Also das ist keine andere Gattung von Mensch! Aber die Menschen in offenen Beziehungen, die das aushalten, wollen das ja! Also es gibt ja für sie irgendnen Nutzen, nen Vorteil! Vielleicht ist es für sie auch aufregend, davon zu hören! Dann gibt es vielleicht die Möglichkeit, dass das weh tut, dass das nicht so einfach ist zu hören, aber irgendwo hat es auch was Aufregendes, was Kribbelndes! 

Sprecherin: 

Damit das Ganze überhaupt eine Chance hat, sollten Paare feste Regeln vereinbaren, so die Psychologin:

O-Ton 22 Algermissen (0‘15“): 

Also wie möchte ich informiert werden über die Außentreffen zum Beispiel? Wie soll da der Austausch passieren? Möchte ich wissen, wer das ist? Möchte ich vorher ein Foto sehen, möchte ich, dass wir danach darüber sprechen? Möchte ich, dass wir nicht darüber sprechen?

Musik 7: Explain – siehe M1 – 15 Sek

Sprecherin: 

Liebe nach festen Regeln. Liebe, die gönnt. 

Sprecher: 

Der Berliner Psychotherapeut Dr. Wolfgang Krüger sieht das Ganze kritisch: 

O-Ton 23 Wolfgang Krüger (0‘26“): 

In der Literatur wird manchmal beschrieben, man solle die Großzügigkeit haben: „Ich wünsche dir viel Vergnügen bei deinen Erlebnissen!“ und das halte ich schlicht und ergreifend für eine dreiste Zumutung, ich will, wenn ich mit einem Partner, einer Partnerin zusammen bin und habe dort eine gute und erfüllte Sexualität, dann will ich, dass ich der Einzige bin und dass es exklusiv ist. Und ich würde eher Sodbrennen kriegen, wenn ich wüsste, dass dieser Partner, diese Partnerin mit anderen schläft. 

Sprecherin: 

Wolfgang Krüger, der auf 40 Jahre Erfahrung als Psychotherapeut zurückblickt, ist ein Verfechter der Treue. Er stellt das Modell der offenen Beziehung grundsätzlich infrage. Denn – so seine Meinung - es verkenne die Komplexität der menschlichen Seele. Und das filigrane Wechselspiel zwischen Körper und Seele.  

O-Ton 24 Wolfgang Krüger (0‘42“): 

Erotik ist im Grunde Leidenschaft, ist von der Tendenz her etwas, was immer eine Verschmelzung beinhaltet, und das ist die Absicht. Wenn ich miteinander schlafe, dann will ich, dass sich die Grenzen zwischen mir und dem anderen, dass ich die aufhebe! Das ist der Sinn von Sexualität! Der Sinn von Sexualität ist Verschmelzung. Das bedeutet Kontrollverlust. (…) Und man tut immer so in der Sexualität als wären das einfach Liegestütze, die Spaß machen. Aber Sexualität ist ein hoch emotionaler, sinnlicher Prozess, wo viel passieren kann, man kann sich eben auch in den anderen verlieben, obwohl man das am Anfang nicht wollte. Und das können Sie nicht vereinbaren, und da können Sie nicht irgendwelche Regeln aufstellen, das ist im Grunde alles Kinderei. 

Musik 8: Highschool... aus: The virgin suicides - C1090260008 – 35 Sek

Sprecherin: 

In seinen Augen liegt ein weiteres Problem darin, dass Paare – sobald sie die Beziehung öffnen – permanent diskutieren müssen: 

Sprecher: Wie viel Nähe wollen wir, wie viel Autonomie? 

Sprecherin: Wer darf wie oft mit anderen Partnern zusammensein? 

Sprecher: Wollen wir uns davon erzählen?

Sprecherin: Bleibt das gemeinsame Schlafzimmer eine Tabuzone?

Sprecher: 

Klingt anstrengend. 

Doch für Anouk Algermissen liegt genau darin die ganz große Qualität von offenen Beziehungen: 

O-Ton 25 Anouk Algermissen (0‘29“) 

Da gibt’s auch einige Studien zu, die ganz interessant sind: Paare in offenen Beziehungen, wenn die funktioniert, müssen die eben ne sehr hohe Kommunikationskompetenz haben. Und das hilft ihnen eben auch in vielen anderen Lebensbereichen. Also sei es, wenn man über Finanzen spricht, über Lebensplanung spricht, wenn es viel Stress von außen gibt: Das ist ja eine Kompetenz, die man auf viele unterschiedliche Lebensbereiche anwenden kann. Und wenn man die einmal gelernt hat und diese Fähigkeit ausgebaut hat, dann hat man da auf jeden Fall nen großen Vorteil.

Sprecherin: 

In jedem Fall müssen Begriffe wie „Vertrauen“ und „Treue“, die ja bis dato ganz hohe Werte in Beziehungen waren, neu definiert werden. 

O-Ton 26 Anouk Algermissen (0‘40“): 

Ich kann natürlich auch Vertrauen anders aufbauen: indem ich merke, dass da jemand ist, der mein Interesse im Blick hat, der auf mich achtgibt, der dennoch sich weiterhin an die Absprachen hält, die wir auch ausgemacht haben, auch wenn die innerhalb einer offenen Beziehung passieren, aber dann können das eben Absprachen sei wie ‚Du meldest dich, nach dem Treffen‘ oder ‚wir besprechen das nach‘ oder ‚ich weiß vorher, wenn du triffst‘ (…)  Wenn man merkt, dieses stetige ‚Ich weiß, worauf ich mich verlassen kann‘ fällt weg, weil jetzt sehr viel Unsicherheit und Neues mit reinkommt, da muss man sich ganz bewusst nach neuen Quellen des Vertrauens und der Sicherheit umsehen. 

O-Ton 27 Wolfgang Krüger (0‘20“): 

Dass man über alles redet und dass man auf diese Weise auch wieder Vertrauen hat, durch die Offenheit usw., das ist im Grunde gut und schön, ich finde nur: Solche Regelungen sind am Rande der Albernheit, weil ich Leidenschaften und Gefühle nicht durch irgendwelche Regeln bestimmen darf, wer das versucht, hat meines Erachtens vom Wesen der Leidenschaft nichts verstanden.

Musik 9: We move lightly – Z8000380110 – 1:12 Min

Sprecherin: 

Es ist wahrlich kein einfacher Weg, alternative Beziehungsmodelle auszuprobieren und zu leben. Vom Umfeld oft misstrauisch beäugt ist es auch intern ein fortlaufender Prozess des Klärens und Diskutierens. Des Probierens und des Experimentierens. Regeln werden aufgestellt, Regeln wieder verworfen. Es gibt ja kaum Vorbilder.

Traumatherapeutin und Paarberaterin Verena König gibt zu bedenken: Die Sache ist komplexer als man denkt – und zwar auf einer viel tieferen Ebene: Gerade Menschen mit unsicheren, instabilen frühen Bindungserfahrungen fühlen sich womöglich hingezogen zu einer offenen Beziehung, in der sie – vermeintlich – niemanden wirklich nah an sich ranlassen müssen. Gleichzeitig kann diese Unsicherheit auch alte Wunden aufreißen: 

O-Ton 28 Verena König (0‘30“): 

Also ich würde zur Vorsicht mahnen oder einladen wollen, wenn Beziehungen ein grundlegend angstbesetztes Thema ist. Also wenn Menschen zum Beispiel immer wieder grundlegend das Gefühl haben, sie laufen Gefahr, verlassen zu werden. Sie sind vielleicht nicht gut genug, wenn sie sich gewohnheitsmäßig übermäßig anpassen und solche Beziehungsmuster leben, dann würde ich sagen, ist die Gefahr recht hoch, dass man etwas tut oder sich auf etwas einlässt, was man nicht wirklich möchte und was einen dann sehr belasten kann. 

Sprecherin: 

Ein weiteres Problem: Die Ehrlichkeit zu sich selbst. In der Regel ist es so: Einer von beiden will die Beziehung öffnen. Der andere stimmt vielleicht zu. Allerdings nicht immer aus tiefer Überzeugung, sondern manchmal aus reiner Verlustangst: 

O-Ton 29 Verena König (0‘34“):  

Ich würde auch zur Vorsicht mahnen wollen oder einladen wollen, wenn das Ganze sich überfordernd anfühlt und man es nicht gut differenziert kriegt. Es ist vielleicht noch mal auch hilfreich, sich zu fragen: Geht es da wirklich um Polyamorie? Ist es unser beider Bedürfnis? Ist es das Bedürfnis des Einen? Wer ist hier vielleicht im Hintertreffen? Wer wird vielleicht übergangen? Geht es eigentlich um Sexualität? Geht es wirklich um Bindung? Was für Probleme sind vielleicht ausschlaggebend, die dann zu dieser Idee führen ‚Wir könnten unsere Beziehung öffnen‘?  

Sprecher: 

Eine Beziehung zu öffnen und Dritte oder gar Vierte hinzuzuholen – sei es offen gelebt oder im Rahmen eines „Stillschweigeabkommen“ – ist immer ein Wagnis. Niemand weiß, wohin die Reise geht. In jedem Fall aber ist es ein sehr anspruchsvoller Weg, sich selbst kennenzulernen. Alles in allem ein ziemlich herausforderndes Experiment. 

Musik 10: Clouds up – siehe vorn – 38 Sek

Sprecherin: 

Um auf die Ursprungsfrage zurückzukommen: Ist die offene Beziehung denn nun das Ende der Monogamie? Bedingt. Sie ist durchaus eine Alternative zum heimlichen Fremdgehen. Zum Lügen, Betrügen und dem Schmerz, wenn alles ans Tageslicht kommt.

Sprecher: 

Weniger ist die offene Beziehung eine Alternative für zwei Menschen, die sich gerne, bewusst und aus tiefstem Herzen füreinander entscheiden. 

Sprecherin: 

Gerade das, so der Psychotherapeut Wolfgang Krüger habe in unsicheren Zeiten wie die, in denen wir leben, eine ganz hohe Qualität. 

O-Ton 30 Wolfgang Krüger (0‘29“): 

Ich glaube, dass Treue eher etwas Modernes ist. Das hat immer im Laufe der Geschichte geschwankt, wir haben immer dann eine Mehrheit derer gehabt, die sich eine offene Beziehung gewünscht haben, in Zeiten von Sicherheit, und mittlerweile schlägt das Pendel eher etwas in die Richtung dass Treue wieder sehr viel mehr angesagt ist, weil der Wunsch nach Verlässlichkeit, der wird momentan stärker.  

Sprecher: 

Treue hat für viele nach wie vor eine große Bedeutung. Das gaben laut einer Studie des Institutes für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 90% aller befragten Menschen an. 

Über Musik 11: We move lightly – siehe vorn – 1:06 Min

Sprecherin: 

Am Ende ist es immer eine Entscheidung: 

Sprecher: 

Zwischen Sicherheit und Stabilität auf der einen Seite.

Und Aufregung, Freiheit und Abwechslung auf der anderen Seite. 

Sprecherin: 

Die Frage ist immer, was man vom Leben will. Und welchen Preis man bereit ist zu zahlen.

Für Wolfgang Krüger ist die Sache klar: Er will blind vertrauen können. 

O-Ton 31 Krüger (0‘25“): 

Wir wollen neben dem anderen liegen und morgens wach werden und haben noch den Schlaf in den Augen und wollen quasi unsere Hand ausstrecken und bevor wir den Verstand einschalten können, haben wir fast eine kindliche Form des Vertrauens, und diese Form des Vertrauens ist uns unendlich wichtig, weil wenn wir in einer Krise sind, wenn wir krank sind, wenn wir seelisch irgendwie schwanken, dann wissen wir: Auf diesen einen Menschen ist im Grunde Verlass.

Musik aus.