radioWissen - Bayern 2   /     Dona Gracia Nasi - Eine vergessene Heldin der Renaissance

Description

Dona Gracia Nasi ist eine der erstaunlichsten Frauen der Renaissance: Als Tochter zum Christentum übergetretener Juden wird sie katholisch getauft. Sie steigt zur Chefin eines Bank- und Handelshauses auf, das sich mit den Fuggern und Welsern messen kann. Und sie hütet ein Geheimnis, das sie zur Flucht quer durch Europa zwingt. Autor: Simon Demmelhuber

Subtitle
Duration
00:23:06
Publishing date
2024-02-16 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/dona-gracia-nasi-eine-vergessene-heldin-der-renaissance/2090067
Contributors
  Simon Demmelhuber
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2090067/c/feed/dona-gracia-nasi-eine-vergessene-heldin-der-renaissance.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Dona Gracia Nasi ist eine der erstaunlichsten Frauen der Renaissance: Als Tochter zum Christentum übergetretener Juden wird sie katholisch getauft. Sie steigt zur Chefin eines Bank- und Handelshauses auf, das sich mit den Fuggern und Welsern messen kann. Und sie hütet ein Geheimnis, das sie zur Flucht quer durch Europa zwingt. Autor: Simon Demmelhuber

Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Benedikt Schregle
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Prof. Dr. Matthias Lehmann, Lehrstuhl für Neuere Jüdische Kultur- und Sozialgeschichte am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität zu Köln

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Literaturtipps:

Marianna D. Birnbaum: The Long Journey of Gracia Mendes. Budapest [Central European University Press], 2003.

Andrée Aelion Brooks: The Woman Who Defied Kings. The Life and Times of Dona Gracia Nasi. A Jewish Leader during the Renaissance.

Abraham David: The Nasi Family and the Reconstruction of Tiberias in the Second Half of the Sixteenth-Century”. In: Judaica, vol. 73, no. 1 (March 2017): 36-57.

Cecil Roth: The House of Nasi. Dona Gracia. Philadelphia [The Jewish Publication Society of Amerika] 1947.

Herman Prins Salomaon und Aron di Leoni Leoni: Mendes, Benveniste, de Luna, Micas, Nasci: The State of the Art (1532-1558. In: In The Jewish Quaterly Review, LXXXVIII, Nos. 3-4 (January-April, 1998) 135-211.

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1: CD949350003   Caldibi castigliano  0‘47

ERZÄHLERIN

Sie ist reich und mächtig wie kaum eine Frau ihrer Zeit. Sie lebt in Palästen, führt eines der größten Handels- und Bankimperien der Renaissance. Ihr Wort hat Gewicht, Könige und Kaiser sind ihre Schuldner.

SPRECHER

Das ist das eine, das öffentliche ihrer zwei Leben. Als Tochter zwangschristianisierter Juden wird sie katholisch getauft und ist 43 Jahre lang offiziell Christin.

ERZÄHLERIN

Innerlich aber bleibt sie dem Judentum treu. Das ist ihr zweites, ihr verborgenes Leben: 

Z8026958137 Bad thoughts 0‘20

Sie darf nicht sein, wer sie ist, und fürchtet Tag für Tag, der Inquisition anheimzufallen.

SPRECHER

Die päpstlich autorisierten Glaubensgerichte verfolgen Ketzer. Dazu zählen auch jüdische Scheinchristen. Wer katholisch getauft ist und dennoch "judaisiert", darf keine Gnade erhoffen: Das Eigentum entlarvter Kryptojuden verfällt dem Tribunal, sie selbst werden nach Schwere des Falls entweder eingekerkert, verbannt oder hingerichtet.

SPRECHER

Vor dieser latenten Dauergefahr flieht sie von Lissabon über Antwerpen, Venedig und Ferrara bis nach Konstantinopel ins Osmanische Reich, wo sie den jüdischen Namen Gracia Nasi annimmt. 

MUSIK 2: CD26191007 La rosa enflorese  0‘32

ERZÄHLERIN

Die längste Zeit ihres Lebens aber heißt sie Beatriz de Luna. Auf diesen Namen wird sie um 1510 in Lissabon als Neugeborene getauft. Auch Eltern sind Christen.

SPRECHER

Allerdings noch nicht lange und nicht aus freien Stücken. Sie sind Conversos. So heißen zum Katholizismus bekehrte Juden in Portugal und Spanien. Aus Überzeugung haben die wenigsten Konvertiten das Christentum angenommen. Den meisten blieb keine Wahl:

ERZÄHLERIN

Seit Beginn des 14. Jahrhunderts stehen iberische Juden unter wachsendem Bekehrungsdruck. Als 1391 in Sevilla, Cordoba, Toledo und vielen anderen Städten Christen mit dem Schlachtruf "Taufe oder Tod" über die Judenviertel herfallen, kommt es zu regelrechten Konversionswellen.

SPRECHER

Gerade diese Massenübertritte aber schaffen ein Problem, erläutert Matthias Lehman. Er ist Professor für Neuere Jüdische Kultur- und Sozialgeschichte am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Uni Köln.

01 O-TON LEHMANN (ca. 34 Sekunden)

Man hat plötzlich nicht nur einzelne Juden, die zum Christentum konvertiert sind. Man hat plötzlich eine ganze soziale Klasse von ehemaligen Juden, die nun offiziell Christen sind. Und als solche sind sie gleichberechtigt, man kann sie nicht mehr marginalisieren. Aber konnte man diesen Leuten trauen, dass sie wirklich Christen geworden sind?

SPRECHER

Der Argwohn setzt eine Entwicklung in Gang, die in zwei Stufen eskaliert:

ERZÄHLERIN

1478 gestattet der Papst die Einrichtung der Inquisition in Spanien. Die Glaubensgerichte sollen gezielt Conversos aufspüren, die heimlich am Glauben ihrer Väter festhalten.

02 O-TON LEHMANN (ca. 26 Sekunden)

Die Aufgabe der Inquisition war ja, die sogenannte Häresie des heimlichen Judaisierens auszumerzen. Die Inquisition hat erstmal an Juden, die als Juden leben, kein großes Interesse, sondern tatsächlich an diesen Conversos.

SPRECHER

Die Tribunale arbeiten effizient: Bis 1490 werden etwa 13.000 "heimlich judaisierende" Neuchristen teils verhaftet, teils zur Ausreise gezwungen oder verbrannt.

ERZÄHLERIN

Die zweite Eskalationsstufe zündet 1492: Nachdem mit Granada auch das letzte muslimische Kalifat gefallen ist, holen Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon zum Schlag gegen das Judentum aus. In der Alhambra, am Ort ihres Triumphs, erlassen sie ein hartes Edikt.

ATMO: Öffentliche Proklamation, Ausrufer

ZITATOR

Wir beschließen, alle Juden und Jüdinnen aus unseren Königreichen zu verbannen und dass sie niemals zurückkehren sollen. Wer sich weigert und in diesen Gebieten gefunden wird oder zurückkehrt, wird des Todes schuldig sein und sein Vermögen wird konfisziert.

SPRECHER

Juden, die bleiben möchten, müssen sich taufen lassen und der Inquisition unterstellen. Juden, die an ihrem Glauben festhalten, haben drei Monate zur Ausreise. Sie dürfen ihren Besitz verkaufen, ihre bewegliche Habe mitnehmen, aber weder Geld noch Waffen ausführen.

SC016630104 Por alli paso un cavallero   0‘23

ERZÄHLERIN

Schätzungen zufolge wählen etwa 150.000 spanische Juden das Exil. Die meisten wandern nach Nordafrika und Osteuropa aus, an die 60.000 ziehen nach Portugal, wo ihnen König João Zuflucht gewährt. Allerdings nicht für Gotteslohn und nur befristet.

SPRECHER

Acht Cruzados, den Gegenwert von zwei Tonnen Weizen, kostet ein acht Monate gültiges Aufenthaltsrecht in zugewiesenen Zonen. Wer allerdings 100 Cruzados pro Kopf aufbringt, darf seinen Aufenthaltsort frei bestimmen und unbegrenzt bleiben.

ERZÄHLERIN

Zu dieser privilegierten Gruppe gehören vermutlich auch Beatriz' künftige Eltern Alvaro Nasi und Philipa Mendes. Der Kölner Judaist Matthias Lehmann nimmt an, dass sie sich in Lissabon ansiedeln, um weiterhin als Juden zu leben.

03 O-TON LEHMANN (ca. 13 Sekunden)

Die wahrscheinlichere Variante ist, dass sie 1492 Spanien verlassen müssen als Juden und deswegen nach Portugal gehen. Es sind genau die Leute, die alles hinter sich gelassen haben, um Juden bleiben zu können.

ERZÄHLERIN

Die Hoffnungen zerschlagen sich gründlich. 1497 befiehlt Manuel I. allen Juden in Portugal den Übertritt zum Christentum. Damit sitzen Alvaro Nasi und Philipa Mendes in der Falle. Da sie als Juden weder nach Spanien zurückkehren noch in Portugal leben können, werden sie notgedrungen Katholiken und führen fortan den Familiennamen de Luna. Ihre 1510 geborene Tochter Beatriz kommt also rechtlich gesehen nicht als Conversa, sondern als Christin zur Welt.

SPRECHER

Dass die Familie insgeheim dem Judentum treu bleibt, ist sehr wahrscheinlich, aber nicht belegbar. Nach außen hin jedenfalls wahrt man den katholischen Schein: Man geht zur Messe, feiert die kirchlichen Feste und lässt sich, wie Beatriz, katholisch trauen.

MUSIK 3: CD492100032 Carmen für 4 Gamben 0‘39

ERZÄHLERIN

1528 heiratet sie mit etwa 18 Jahren den Kaufmann Francisco Mendes, einen Onkel mütterlicherseits. Der Bräutigam entstammt einer in Portugal zwangsgetauften Familie jüdischer Exilanten, die im Handel mit Edelsteinen, Pfeffer, Gewürzen und durch Kreditgeschäften reich geworden ist. Zehn Jahre lang sieht es aus, als habe sich doch noch alles zum Guten gewendet: Das Haus Mendes blüht, 1534 wird die Tochter Ana geboren, die Schrecken der Inquisition verblassen.

Z8026958137 Bad thoughts 0‘21

SPRECHER

Die Ruhe trügt. Das Misstrauen gegen konvertierte Juden sitzt auch in Portugal tief. Um das vermeintliche Übel auszurotten, wird die Inquisition 1536 hier ebenfalls aktiv. Und das bedeutet akute Gefahr.

04 O-TON LEHMANN (ca. 15 Sekunden)

Die Inquisition ist eine interessante Institution insofern, als dass sie sich selbst finanziert. Wenn jemand von der Inquisition verurteilt wurde, konnte auch das Vermögen eingezogen werden. Das gab natürlich einen gewissen Anlass, sich gerade für prominente Familien zu interessieren.

SPRECHER

Darauf will es Francisco Mendes nicht ankommen lassen. Er kennt das Beuteschema der Glaubenstribunale und beschließt nach Antwerpen zu ziehen, wo sein Bruder Diogo eine Niederlassung des Unternehmens leitet. Umsetzen kann er den Plan allerdings nicht mehr.

ERZÄHLERIN

Francisco stirbt im Januar 1535. Er vermacht die Hälfte des Familienvermögens seiner Witwe, die nun den Ortswechsel vorantreibt. Sie tut es entschlossen, lautlos und klug, wie alles, was sie beginnt. 1537 übersiedelt sie mit ihrer zweijährigen Tochter, ihrer Schwester Brianda sowie den Neffen Bernardo und João in die Niederlande.

MUSIK 4: R034690118 La Rose chanson  0‘28

ERZÄHLERIN

Die Stadt an der Schelde ist eine wahre Boomtown der Renaissance: Der Diamanten- und Textilhandel brummt; Banken vermitteln Risikokapital für Handelsfahrten und Expeditionen; täglich treffen Schiffe mit Waren aus Ostindien ein, die von hier aus nach Nordeuropa und in den Mittelmeerraum gelangen.

SPRECHER

Das Bank- und Handelshaus durchlebt goldene Jahre. Diogo hat sich das Ankaufsmonopol für den gesamten Pfeffer- und Gewürzimport der portugiesischen Krone gesichert. Er dominiert den Markt, diktiert die Preise, erzielt enorme Profite. Ein Großteil der Gewinne fließt zurück in Kredite für Königshäuser, die sich durch Privilegien und Schutzbriefe erkenntlich erweisen.

ERZÄHLERIN

Beatriz bewährt sich in allen Belangen des Handels und der Finanzverwaltung als erfahrene Partnerin ihres Schwagers. Aber auch karitativ ziehen beide an einem Strang: Sie spenden für Spitäler und Synagogen, unterstützen sefardische, das heißt aus Spanien und Portugal stammende Juden, und sie schleusen jüdisches Vermögen an der Inquisition vorbei nach Flandern.

SPRECHER

1539 heiratet Diogo Beatriz' jüngere Schwester Brianda. Aber auch sein Leben endet früh. Er stirbt im Herbst 1543 und hinterlässt ein Testament, das einen jahrelangen Erbstreit zwischen den Schwestern auslöst: Anstelle seiner Frau Brianda setzt er Beatriz als Alleinverwalterin des Gesamtbesitzes und Treuhänderin seiner dreijährigen Tochter ein.

MUSIK 5: MR034690112 Nymphes 0‘35

ERZÄHLERIN

Mit etwa 30 Jahren herrscht Beatriz de Luna nun über eines der größten Finanz- und Handelsimperien der Renaissance. Doch weder ihr Reichtum noch ihr Ansehen lassen sie in Antwerpen heimisch werden. 

Z8026958137 Bad thoughts 0‘25

Der Magistrat und selbst Kaiser Karl V. gieren nach ihrem Vermögen und obendrein greift nach Jahren der Schonung die Inquisition jetzt auch hier mit aller Härte durch. Als in den Straßen dann Gerede über ihr angebliches Judaisieren aufspringt, ist es für Beatriz' erneute höchste Zeit, aufzubrechen.

SPRECHER

Diesmal nach Venedig. Beatriz bereitet den Umzug gewohnt umsichtig und unauffällig vor. Sie transferiert den liquiden Besitz über Umwege in die Lagunenstadt, verschafft sich Geleitbriefe des Papstes und Sicherheitszusagen des Zehnerrates der Seerepublik.

MUSIK 6: ZE005170101  3 Tänze für Blockflöte   0‘40

SPRECHER

1545 bezieht sie mit ihrer Tochter Ana, ihrer Schwester Brianda und deren Tochter einen prächtigen Palast am Canal Grande. Angstfrei leben kann sie trotz aller Privilegien keineswegs. Sie ist zwar offiziell Christin, gibt keinerlei Anstoß, anderes zu vermuten und verfügt über kostspielige Schutzgarantien. Aber ihr familiärer Hintergrund ist nicht nur den Behörden, sondern auch Neidern und Denunzianten bekannt. 

Z8026958137 Bad thoughts 0‘32

Dieses jederzeit nutzbare Wissen macht sie verletzbar. Schon der kleinste anonyme Häresieverdacht reicht für einen Zugriff der Inquisition.

ERZÄHLERIN

Ungeklärt ist außerdem nach wie vor das Schicksal großer Sach- und Geldwerte, die der Antwerpener Magistrat einbehalten hat. Um die Freigabe kümmert sich ihr Neffe João Micas. Der inzwischen Zwanzigjährige hat sich nach Diogos Tod als Beatriz' engster Mitarbeiter und Vertrauter profiliert. Es braucht zwei Jahre zäher Verhandlungen, bis er den Großteil des konfiszierten Vermögens retten und 1546 schließlich selbst nach Venedig übersiedeln kann.

SPRECHER

Hier hat inzwischen der Streit um Franciscos Vermächtnis einen offenen Krieg entfacht. Brianda prozessiert um ihr Erbe und erringt einen Teilerfolg: Beatriz soll die Hälfte des Familienbesitzes bis zur Volljährigkeit ihrer Nichte bei der Münzbehörde hinterlegen. 

ERZÄHLERIN

Dieses Urteil ist womöglich der Anlass dafür, dass Beatriz den Unternehmenssitz 1548 nach Ferrara verlegt. Dort sichert ihr Herzog Ercole d'Este die Anerkennung aller testamentarischen Verfügungen Diogos zu, und obendrein gehen in Venedig Gerüchte um, die Beatriz als Kryptojüdin diffamieren. Und nachdem die Inquisition seit 1547 nun auch die Lagune im Griff hat, entschließt sich Beatriz abermals zur Flucht.

Musik: NC053640001 Tedescha für Renaissanceensemble 0‘18

SPRECHER

Vier Jahre bleibt sie in Ferrara, lange genug, um zu begreifen, dass sie selbst hier nur eine Schutzgefangene ist, deren Sicherheit vom Wohlwollen des Herzogs abhängt und an den Grenzen seines Staates endet. Geborgen, das erkennt sie in Ferrara in letzter Konsequenz, ist sie nur dort, wo der Papst und die Inquisition machtlos sind. Nur dort, wo man ihr das Christentum nicht gewaltsam überstreift, kann sich das Grunddilemma ihres Lebens noch lösen.

ERZÄHLERIN

Die längste Zeit lebt Beatriz äußerlich als untadlige Katholikin. Innerlich aber hält sie all die Jahre am Judentum fest. Das wissen wir nicht von ihr selbst. Sie hinterlässt keine Briefe und auch sonst keine persönlichen Aufzeichnungen. Aber wir kennen ihren Einsatz für verfolgte Glaubensgeschwister. Wir wissen, dass sie erhebliche Summen für Thoraschulen und Synagogen spendet. Und wir wissen, was noch kommt: ihre späte Heimkehr zum Judentum. All diese Zeugnisse lassen nur eine Lesart zu: Christin ist Beatriz lediglich vor der Welt, im Herzen ist sie Jüdin.

SPRECHER

Wie sie diesen Konflikt aushält, wie sie zurechtkommt mit der Angst, als Kryptojüdin aufzufliegen, wie sie die aufgezwungene Verstellung erträgt, bleibt ihr Geheimnis. Aber wir ahnen, welchen Mut, welche Selbstdisziplin ihr diese Spaltung abnötigt. Und wir beobachten staunend, welche Kraft diese unbeirrbare Frau trotz aller Rückschläge immer wieder mobilisiert. Mithilfe dieser Stärken plant sie in Ferrara die letzte ihrer Fluchten: den Absprung nach Konstantinopel.

05 O-TON LEHMANN (ca. 19 Sekunden)

Wirklich sicher als Jüdin leben kann sie nur im Osmanischen Reich, weil den osmanischen Autoritäten vollkommen egal ist, ob ein Konvertit zum Judentum zurückkehrt oder nicht. Nur im Osmanischen Reich, wo die Inquisition keine Jurisdiktion hatte, konnten Conversos wirklich offen wieder als Juden leben.

MUSIK 7: CD123270007           Neva Ceng-i Harbi   0‘56

ERZÄHLERIN

Beatriz de Luna lässt sich im Sommer 1552 in Konstantinopel nieder. Sie residiert in einem Palast am Galataturm, führt ein glanzvolles Haus, ist der Stolz der sefardischen Gemeinde, finanziert Schulen und Synagogen, empfängt Diplomaten, verkehrt in höchsten Kreisen, hat Ohr und Vertrauen des Sultans. Alles wie gehabt. Und trotzdem ist alles anders: Denn Jüdin oder Jude zu sein ist jetzt kein todwürdiges Verbrechen mehr! Endlich kann sie sich frei und gefahrlos zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bekennen. Endlich darf sie sein und zeigen, wer sie wirklich ist: Eine fromme Jüdin, die ihren Gott und seine Gebote achtet.

SPRECHER

Dass sich im Osmanischen Reich nicht nur ein äußerer Weg, sondern eine lebenslange Hoffnung erfüllt, zeigt sich kurz nach der Ankunft: Die Christin Beatriz de Luna gibt sich in Konstantinopel den jüdischen Namen, der die Jahrhunderte überdauert und unter dem wir sie noch heute kennen. Sie nennt sich von nun an Gracia Nasi, ihre Tochter Ana heißt ab jetzt Reina.

ERZÄHLERIN

1553 trifft auch João Micas in Konstantinopel ein. Er war in Venedig geblieben, um konfiszierte Vermögenswerte auszulösen. Kurz nach der Ankunft bricht auch er mit dem aufgezwungenen Christentum. João lässt sich beschneiden, nennt sich fortan Josef Nasi, heiratet seine Cousine Reina und legt als Berater, Diplomat und Bankier eine steile Karriere am Hof des Sultans hin.

ATMO: CD968360025 Tikio drums 0‘17

SPRECHER

Dass sich Gracia und Josef Nasi zeitlebens nicht nur um ihr persönliches Wohlergehen kümmern, zeigt sich 1556 einmal mehr. Den Anlass liefern erschreckende Nachrichten aus Ancona.

ERZÄHLERIN

Um den Handel zu fördern, hatte Papst Julius III. knapp ein Jahrzehnt zuvor gezielt sefardische Conversos in der Hafenstadt angesiedelt. Als sein Nachfolger Paul IV. im Mai 1555 den Papstthron besteigt, sind alle Zusagen auf einen Schlag wertlos. Der neue Pontifex kündigt sämtliche Schutzgarantien auf, lässt alle Conversos verhaften und von der Inquisition durchleuchten.

SPRECHER

Kurz darauf stellt Sultan Süleyman die in Ancona verhafteten Juden unter seinen Schutz und fordert ihre unverzügliche Freilassung. Aber Paul IV. bleibt stur. Auf sein Geheiß hin werden 24 Conversos verbrannt, und die übrigen auf die Galeeren geschmiedet.

MUSIK 8: CD290060009  El male rachamim 0‘35

ERZÄHLERIN

Um den Papst in seine Schranken zu weisen, greift Dona Gracia zu einer ausgesprochen modern anmutenden Maßnahme: Sie ruft die jüdischen Gemeinden des Osmanischen Reichs und Italiens zum Boykott der Hafenstadt auf. Bis Paul IV. die Sicherheitszusagen seines Vorgängers erneuert, soll kein Schiff Ancona anlaufen und stattdessen Venedigs Hafen Pesaro nutzen.

SPRECHER

Die Blockade misslingt. Das Gros der italienischen und osmanischen Juden unterläuft den Boykott aus Furcht vor Gewinneinbußen. Schon 1558 ist Ancona wieder voll im Geschäft, Dona Gracia muss sich geschlagen geben. Aber nur wenige Jahre später nimmt sie ein kaum weniger ambitioniertes Projekt in Angriff.

MUSIK 9: C1142990002 Elci pesrev   0‘32

ERZÄHLERIN

1516 hatten die Osmanen Palästina erobert. Sie finden ein dünn besiedeltes Land ohne Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen vor. Viele Häfen und ehemals blühende Städte sind zerfallen, nomadisierende Beduinen gefährden die Sicherheit. So bringt die Eroberung keinen Profit. Dazu müssen die Osmanen erst die marode Infrastruktur sanieren, vor allem aber Handwerk, Handel und Gewerbe fördern.

SPRECHER

Damit beginnt das letzte große Kapitel im Leben im Gracia Nasis.

ERZÄHLERIN

1566 kauft sie die Steuerpacht für Tiberias am See Genezareth und sieben umliegende Dörfer. Gegen eine jährliche Zahlung von 1000 Golddukaten erwirbt Gracia das Recht, Abgaben einzuziehen, Kolonisten anzusiedeln, Synagogen und Schulen zu errichten. Die formelle Herrschaft über das Gebiet der Steuerpacht überträgt der Sultan ihrem Neffen und Schwiegersohn Josef Nasi.

MUSIK 10:   W0181792000 Grazia Nasi  0‘38

SPRECHER

Auf den ersten Blick ist das Projekt nicht mehr als eine clevere Investition in die Wiederherstellung der einst hochprofitablen regionalen Textilproduktion. Andere Deutungen rücken das Geschehen in die Nähe messianischer Konzepte.

ERZÄHLERIN

Die Erwartung eines gottgesandten Königs, der die in alle Welt zerstreuten Juden wieder in Israel vereint, ist eine zentrale Hoffnung des Judentums. Im frühen 16. Jahrhundert häufen sich messianische Prophezeiungen, die das Geschehen in Spanien und Portugal als Beginn der Rückkehr nach Zion deuten. Dass der Plan einer Siedlung in Tiberias im Kontext solcher Vorstellungen reift, ist nicht ausgeschlossen. Von einer Staatsgründung kann indes keine Rede sein, betont Matthias Lehmann:

06 O-TON LEHMANN (ca. 28 Sekunden)

Mit Sicherheit ist dieses Tiberias Projekt kein proto-zionistisches Projekt. Es gibt nicht die Vorstellung, einen jüdischen Staat oder ein jüdisches Gemeinwesen dort im osmanischen Palästina aufzubauen. Es gibt mit Sicherheit auch religiöse, vielleicht auch messianische Vorstellungen. Aber sie speisen sich eben aus einer religiösen, messianischen Vorstellungswelt und nicht einer innerjüdischen Staatsbildung im Heiligen Land.

SPRECHER

Das Vorhaben läuft zügig an. Josef Nasi schickt anfangs der 1560er Jahre einen Stellvertreter voraus, der die Arbeiten vor Ort anleiten soll. Um die Textilproduktion aufzubauen, lässt er Maulbeerbäume als Nahrung für Seidenraupen pflanzen und Wolle aus Spanien importieren.

ERZÄHLERIN

Die anfängliche Euphorie verpufft rasch. Bis auf wenige Familien kapitulieren die Kolonisten vor den Härten der Aufbauarbeit. Die Strapazen der Anreise, die Angst vor Piraten und Berichte über feindselige Nachbarn schrecken Nachzügler ab. Zehn Jahre nach dem Start ist das Projekt gescheitert.

SPRECHER

Gracia erlebt den Niedergang nicht mehr. Sie stirbt vermutlich im Spätsommer 1569 in Konstantinopel.

MUSIK 11: SC016630108 Priere Hebräische Volksweise   0‘47

ERZÄHLERIN

Wir kennen weder ihr Todesdatum noch ihr Grab. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine außergewöhnliche Frau. Eine Frau, die weit mehr war, als nur die Chefin eines großen Bank- und Handelsimperiums der Renaissance.

07 O-TON LEHMANN (ca. 23 Sekunden)

Man könnte sie vielleicht gut als eine der großen jüdischen Philanthropinnen bezeichnen. Sie geht in die Geschichte ein als eine Wohltäterin, die etwas für ihre Gemeinschaft, für die Conversos oder für das jüdische Kollektiv getan hat. Eben wie eine neue Miriam, eine neue Debora, wirklich so eine heroische Figur in der jüdischen Geschichte.