radioWissen - Bayern 2   /     Auf in den Westen! Mittelalterliche Reiternomaden

Description

In den weiten Steppengebieten Zentralasiens lebten ĂŒber Jahrtausende Reiternomaden, die von Zeit zu Zeit auch in den Westen vorrĂŒckten. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus grĂŒndeten Hunnen, Awaren und Ungarn in Europa drei aufeinander folgende frĂŒhmittelalterliche Reiche. Autor: Thomas Grasberger

Subtitle
Duration
00:21:45
Publishing date
2024-03-01 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/auf-in-den-westen-mittelalterliche-reiternomaden/2090617
Contributors
  Thomas Grasberger
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2090617/c/feed/auf-in-den-westen-mittelalterliche-reiternomaden.mp3
audio/mpeg

Shownotes

In den weiten Steppengebieten Zentralasiens lebten ĂŒber Jahrtausende Reiternomaden, die von Zeit zu Zeit auch in den Westen vorrĂŒckten. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus grĂŒndeten Hunnen, Awaren und Ungarn in Europa drei aufeinander folgende frĂŒhmittelalterliche Reiche. Autor: Thomas Grasberger

Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Christopher Mann
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Arnold Muhl, Kurator am Landesmuseum fĂŒr Vorgeschichte in Halle an der Saale

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1 (Hosoo und Transmongolia: Sankhnu ayalguu 0’16) / MUSIK 2 (Hosoo und Transmongolia: Temuulel 0’30)

ErzÀhler

„Ex oriente lux“ – lautet ein lateinisches Schlagwort: „Aus dem Osten kommt das Licht!“ Gemeint ist das Tageslicht der aufgehenden Sonne. Manchmal aber erschienen am östlichen Horizont auch dunkle Wolken. Staubwolken, aus denen urplötzlich furchteinflĂ¶ĂŸende, schreiende Gestalten auf kleinen Pferden heraus stĂŒrmten.

Zitator

„Gedrungene“ Figuren mit „starken Gliedern“ und „muskulösen Nacken“, „entsetzlich entstellt und gekrĂŒmmt“, sodass man sie fĂŒr „zweibeinige Bestien“ halten könnte.

ErzÀhlerin

Schreibt der römische Historiker Ammianus Marcellinus im spĂ€ten vierten Jahrhundert nach Christus. Die berittenen Fremdlinge, die Ammianus in seiner Römischen Geschichte dĂ€monisiert, kommen aus den Weiten Zentralasiens. Es sind die Hunnen, die als erstes Steppenvolk bis nach Mittel- und Westeuropa vorstoßen.

ErzÀhler

FĂŒr die Römer sind sie nur wilde „Barbaren“ ohne festen Wohnsitz. Auf dem RĂŒcken ihrer Pferde lebend, ziehen sie – stets gierig nach Gold – plĂŒndernd, mordend und brandschatzend durch die Lande.

ErzÀhlerin

Was die Historiker der SpĂ€tantike ĂŒber die Hunnen berichten, ist nicht völlig falsch, aber voller Klischees und Stereotype. Und genau dieses Bild vom grausamen Steppenkrieger hat sich tief ins kollektive GedĂ€chtnis eingegraben und lange nachgewirkt.

MUSIK 3 (Hannes Treiber: Mongolian Mystery 0‘39)

ErzÀhler

Denn nach den Hunnen kamen in den folgenden Jahrhunderten weitere Reiternomaden: Awaren, Magyaren, Mongolen. Dass diese zĂ€hen und kampferprobten Steppenreiter mehr waren als nur marodierende Invasoren und blutrĂŒnstige Krieger, belegen heute viele archĂ€ologische Befunde und wertvolle KunstschĂ€tze. Als Hirten, Handwerker und HĂ€ndler brachten sie ihre eigenen Moden, BrĂ€uche und Technologien mit nach Europa.

ATMO MUSEUM GERÄUSCHE

ErzÀhler

Im Landesmuseum fĂŒr Vorgeschichte in Halle an der Saale waren 2023 zahlreiche Nomaden-SchĂ€tze zu bewundern. Prunkvolle AnhĂ€nger aus Gold und Granate, reich verzierte hunnische GĂŒrtelschnallen und Fibeln oder eine kĂŒnstlerisch gestaltete Schale mit einem gehörnten Löwen aus einem awarischen Schatz. „Reiternomaden in Europa“ hieß die Ausstellung, die ihre Besucher in eine schillernde Welt entfĂŒhrte:

MUSIK 4 (Christophe Delabre: Nomade 0’30)

ErzÀhlerin

Die Welt der Hunnen, Awaren und Ungarn. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus grĂŒndeten sie in Europa drei aufeinander folgende frĂŒhmittelalterliche Reiche. Ihre Basislager schlugen sie am westlichsten Rand der eurasischen Steppenzone auf. Diese unendlich weite Landschaft erstreckt sich ĂŒber 7000 Kilometer, von der Mongolei und dem Nordwesten Chinas bis ins heutige Ungarn und an die Ostgrenze Österreichs.

ErzÀhler

In der pannonischen Tiefebene, dem sogenannten Karpatenbecken, fanden die Nomadenvölker vertrautes Terrain, sagt Arnold Muhl, Kurator am Landesmuseum fĂŒr Vorgeschichte in Halle. Denn Klima und Vegetation waren hier ganz Ă€hnlich wie in den kargen Gegenden Innerasiens. Dort war es oft sehr heiß, aber auch sehr kalt, in jedem Fall aber trocken und fĂŒr Ackerbau ungeeignet.

ZSP 1 Muhl HalbwĂŒsten 0,17

Also verlegt man sich auf die Viehwirtschaft, und zwar anspruchslose Tiere. Und damit das ĂŒberhaupt trĂ€gt, muss das auch eine gewisse Anzahl sein. Aber dafĂŒr muss ich halt die verschiedensten WeideplĂ€tze aufsuchen und wenn irgendwas abgegrast ist, dann muss ich halt dann wirklich schon mehrere Dutzend Kilometer weiterziehen.

ErzÀhler

Die Reiterhirten waren also stĂ€ndig unterwegs mit ihren Herden – mit Kamelen, Schafen, Ziegen, Rindern, vor allem aber mit Pferden. Bevor Kleinkinder richtig laufen konnten, saßen sie schon auf dem nicht allzu hohen Ross. Gut reiten zu können, das war fĂŒr Hirten ĂŒberlebenswichtig. Denn auch inner-nomadische KonkurrenzkĂ€mpfe um gute WeideplĂ€tze waren keine Seltenheit.

ZSP 2 Muhl Pferd 0,16

Nicht umsonst ist das Pferd das verehrteste Tier bei den Reiternomaden. Wir wissen schon, dass im vierten Jahrtausend vor Christus die Leute dort Pferdewirtschaft betrieben, und das Pferd ist aus dieser Art der des Wirtschaftens nicht herauszudenken.

MUSIK 5 (A Girl’s Dream. Traditional 0’40)

ErzÀhlerin

Wer als Hirte stÀndig unterwegs ist, reist besser mit leichtem GepÀck. Auch dauerhafte Behausungen wÀren hinderlich. Deshalb haben sich bei den Reitervölkern die Jurten durchgesetzt. Jene traditionellen Nomaden-Zelte, die in Kasachstan, Kirgisien und der Mongolei bis heute weit verbreitet sind.

ErzÀhler

Die in Halle ausgestellte kirgisische Jurte hat einen Durchmesser von etwa acht und eine Höhe von vier Metern. Ihre runde Form bietet wenig AngriffsflĂ€che fĂŒr den kalten Wind der Steppe. Vor allem aber lĂ€sst sich so eine Jurte leicht auf- und abbauen.

ZSP 3 Muhl Jurte 0,15

Diese geniale Konstruktion, die hat sich ĂŒber die Jahrtausende bewĂ€hrt. Ein Scherengitter, das sie zusammenklappen können. Dann einzelne Spanten, die auch sehr leicht sind, und sofort haben sie, wenn sie noch viel Filz haben, eine wunderbare, warme Behausung.

MUSIK 6 (Michail Ignatieff: Kasachisches Lied 0’22)

ErzÀhlerin

Pferd und Jurte haben eine lange Tradition. Bereits 1000 Jahre vor dem Einzug der Hunnen berichtet der antike griechische Historiker Herodot im fĂŒnften vorchristlichen Jahrhundert von den Kimmeriern und den Skythen. Die Kimmerier – eine Föderation von einzelnen Stammesgruppen – tauchten im zehnten Jahrhundert vor Christus am östlichen Rand Europas auf.

ZSP 4 Muhl Kimmerier 0,13

Es gibt einige wenige Spuren, aber das waren eben auch Reiternomaden. Und die wollten hier gar nicht siedeln. Das wÀre auch gar nicht ihr Lebensraum gewesen, sondern man suchte schon Profit zu schlagen, vor allem durch Sklaverei, Sklavenhandel.

ErzÀhlerin

Mitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts werden die Kimmerier vertrieben, von den Skythen, die in den Steppengebieten der Ukraine und SĂŒdrusslands das erste Nomadenreich Europas errichten. Auch fĂŒr diese Reiternomaden ist der Menschenhandel ein lukratives GeschĂ€ftsmodell.

ZSP 5 Muhl Sklaven 0,16

Bei den Skythen ist es haargenau das Gleiche. Und letztendlich wissen wir das auch von den Awaren und den Magyaren, also die sogenannten Ungarn. Und spÀter auch die Mongolen. Das war ein festes Budget, das schon eingeplant ist, dass man Leute versklavt und verkauft.

MUSIK 7 (Kudabay Abyshev: Koychulardyn kongur kĂŒĂŒ 0’31)

ErzÀhlerin

Tausend Jahre, nachdem Kimmerier und Skythen aus der Weltgeschichte verschwunden waren, tauchten die Hunnen in Europa auf. Über ihre genaue Herkunft und EthnizitĂ€t streiten die Gelehrten. Eine direkte Abstammung von den chinesischen Reiternomaden der Xiongnu (sprich Schungnu) hĂ€lt die neuere Forschung fĂŒr unwahrscheinlich. Eventuell könnte der prestigetrĂ€chtige Name „Hunnen“ von anderen, ethnisch heterogenen Reiternomaden-Gruppen ĂŒbernommen worden sein.

ZSP 6 Muhl Hunnen 0,24

Wir wissen aber nur, dass diese Hunnen tatsĂ€chlich aus der Mongolei kamen und dann nach dem Prinzip einer Wanderlawine viele Völker mit sich gerissen haben. Zum Schluss tauchten die irgendwo auf und haben gesagt: Passt mal auf, entweder ihr werdet Hunnen oder ihr sterbt. Da haben die meisten gesagt: Ja, machen wir halt mit. Und es gab hier natĂŒrlich auch viel zu verdienen. Also der Khan der Hunnen der hat nur damit zu tun gehabt, alle Leute zufriedenzustellen.

ErzÀhler

Vielleicht rĂŒhrt daher jene „schreckliche Begierde“, „fremdes Gut zu rauben“, wie der Historiker Ammianus klagt. FĂŒr ihn waren die Hunnen, die seit 375 nach Christus das Abendland aufmischten und eine zweihundert Jahre dauernde Völkerwanderung auslösten, die furchtbarsten aller Krieger,

Zitator

weil sie im Fernkampf mit Pfeilen kĂ€mpfen, die mit spitzen Knochen anstelle von Pfeilspitzen (
) zusammengefĂŒgt sind.

ErzÀhler

In der Halleschen Ausstellung war ein Lendenwirbelknochen zu sehen, durchschlagen von einer hunnischen Pfeilspitze. Eine tödliche Verletzung, die nicht selten war. Denn die geschwungenen Reflexbögen der Hunnen schleuderten die Pfeile mit enormer Wucht, sagt Kurator Muhl.

ZSP 7 Muhl dreikantig 0,13

Das durchschlÀgt alles. Und das Problem ist, die Pfeile sind nicht normal wie bei uns, zweikantig, sondern dreikantig. Und das ist ein Problem, denn dreikantige Wunden, die wachsen nicht von alleine zu. Die kann ich auch ganz schlecht nÀhen. Also das ist absolut tödlich.

ErzÀhlerin

Vor allem, wenn hunderte solcher Geschosse auf die Gegner niedergehen. Wie man sich so einen Pfeilhagel vorstellen muss, zeigte ein Videofilm in der Ausstellung. Der ungarische Bogenbauer Lajos Kassai, Jahrgang 1960, ist ein Meister des traditionellen Pferdebogenschießens. Ohne Sattel reitet er im vollen Galopp und schießt seine Pfeile im Sekundentakt ab – nach vorne, nach hinten, zur Seite. Selbst im Sprung trifft Kassai noch ein ums andere mal ins Ziel.

ZSP 8 Muhl Video 0,15

Mit einer Frequenz schießt er da und trifft jedes Mal. Also das ist irre. Und die konnten das alle. So was gabÂŽs in Europa gar nicht. Und wenn davon 300 Leute auf einen zukommen, dann machen sie gar nichts mehr. Dann nĂŒtzt ihr kleiner Schild und ihr kleines Kettenhemdchen gar nix.

ErzÀhler

Kein Wunder, dass die Steppenkrieger gefĂŒrchtet waren. Zumal sie auch recht exotisch aussahen. Allerdings waren nur 20 Prozent der hunnischen Krieger vom PhĂ€notyp erkennbar asiatisch, sagen Wissenschaftler. Viele hunnische VerbĂŒndete waren nĂ€mlich Germanen, Alanen oder Sarmaten. Ein buntes Völkergemisch also, allerdings nur an der Basis.

ZSP 9 Muhl hunnischer Kern 0,20

Die Hunnen haben immer die Oberschicht gestellt. Die Familie um Attila beispielsweise und seine Söhne und seine BrĂŒder, die stellten den Kern. In dieses beratende Gremium, in diesen Generalstab konnten natĂŒrlich dann auch germanische HĂ€uptlinge und sarmatische HĂ€uptlinge mit aufsteigen. Das ist kein Problem. Aber die ZĂŒgel in der Hand hatte immer dann tatsĂ€chlich die asiatische Familie.

MUSIK 8 (B. Ashra: Dark Nature 0’53)

ErzÀhlerin

Der legendenumrankte, charismatische Hunnenkönig Attila ging als „Geißel Gottes“ ins kollektive GedĂ€chtnis ein. Seit 444 Alleinherrscher der Hunnen, fĂŒhrte er sein Heer bei KriegszĂŒgen gegen Ost- und Westrom bis nach Mittel- und Westeuropa. Zum militĂ€rischen Showdown mit Westrom kam es dann im Nordosten Frankreichs.

ErzÀhler

Dort traf Attilas Heer im Juni 451 auf den einstigen VerbĂŒndeten Flavius AĂ«tius. Der war zwischenzeitlich der mĂ€chtigste Mann Westroms. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern verlief fĂŒr beide Seiten sehr verlustreich und endete ohne klaren Sieger. Attilas Nimbus aber war danach zerstört, sagt Arnold Muhl.

ZSP 10 Muhl Attila 0,31

Die Hunnen sind nur so lange erfolgreich, wie Attila es schafft, andere zu besiegen, sich genĂŒgend Gold oder BesitztĂŒmer anzueignen, die er verteilen kann. Jetzt kommt er dann aber auf die Katalaunischen Felder, trifft auf AĂ«tius, der selber auch bei den Hunnen eine Zeit lang gelebt hat. Der kennt die Taktik. Und dann passiert eines: Attila gewinnt nicht. Es wird zwar immer gesagt, er hĂ€tte verloren. Stimmt nicht. Es ging unentschieden aus, aber Attila zog sich zurĂŒck, weil er gemerkt hat: Da kommt er nicht weiter. Und da hieß es: Oh, der ist ja doch nicht unschlagbar.

ErzÀhlerin

Im Jahr nach der unentschiedenen Schlacht stirbt Attila. Seine Söhne können nicht an die Erfolge des Vaters anknĂŒpfen. Es folgen militĂ€rische Niederlagen und bald auch inner-hunnische Konflikte. Das Konstrukt ihrer Herrschaft zerfĂ€llt. Und die Clans ziehen mit ihren Herden zurĂŒck in die Steppe.

MUSIK 9 (Christophe Delabre: Nomade 0’31)

ErzÀhler

Die Geschichte der Hunnen in Europa dauert nur 80 Jahre. Entsprechend gering sind die Siedlungsspuren, die sie hinterlassen haben. Aber das Bild vom blutrĂŒnstigen Steppenkrieger prĂ€gen sie höchst nachhaltig. Jahrhundertelang wird es in den Köpfen der EuropĂ€er herumspuken.

ErzÀhlerin

Teils zu Unrecht, wie Wissenschaftler der englischen UniversitÀt Cambridge zeigen konnten. Viele der ehemaligen Reiternomaden waren nÀmlich sesshaft geworden und trieben Viehzucht. Die angeblich so wilden Hunnen lebten mit den lokalen Bauern friedlich zusammen, sie waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden.

MUSIK 10 (Kudabay Abyshev: Koychulardyn kongur kĂŒĂŒ 0’41)

ErzÀhler

Ein Jahrhundert nach den Hunnen tauchen wieder Reiternomaden in Europa auf – das Turkvolk der Awaren. Ihre ethnischen Wurzeln sind unklar, fest steht nur: Auch sie kamen aus der Mongolei. In den Steppen Asiens war der Name „Awaren“ damals weit verbreitet. Gleich mehrere nomadische Gruppen nannten sich so.

ErzÀhlerin

Als Mitte des sechsten Jahrhunderts in der Mongolei das Steppenreich der Róurån zerfiel, machte sich einer dieser StammesverbÀnde auf den Weg nach Westen. An die 20.000 Awaren-Krieger mit ihren Familien zogen in kleineren Gruppen nach Europa und siedelten zunÀchst an der unteren Donau. Im Jahr 568 nahmen sie das Karpatenbecken in Besitz.

ErzÀhler

Ihr Reich sollte 250 Jahre bestehen. Zum Zeitpunkt der grĂ¶ĂŸten Ausdehnung erstreckte es sich vom heutigen Niederösterreich bis weit nach RumĂ€nien hinein. Dort hatten die Awaren ihre Verwaltungs- und Machtzentren. Aber sie blieben weiterhin mobil, sagt Arnold Muhl.

ZSP 11 Muhl mobil 0,16

Man weiß zum Beispiel von den Awaren, dass sie auch ihre Kontakte bis weit bis 3000 oder 4000 Kilometer in die Steppe zurĂŒckhalten. Also da gibt es Heiratsverbindungen, das heißt, die bleiben nicht hier, sondern das ist wie die Seidenstraße auf und ab. Man kommuniziert miteinander. Und das wissen wir ĂŒbrigens durch die genetischen Untersuchungen.

MUSIK 11 (Slagr: Lyngdalen0’47)

ErzÀhler

Die Krieger der awarischen Oberschicht zeigten sich traditionsbewusst. Selbst wenn sie schon sesshafter geworden waren, verstanden sie sich weiter als Nomaden, die ihre Tracht und Umgangsformen bewahrten. In der Ausstellung von Halle stand gleich am Eingang die Rekonstruktion eines höchst eindrucksvollen Awarenreiters auf seinem Pferd.

ErzÀhlerin

Stolz und wild entschlossen dreinblickend, mit langen, geflochtenen Haaren und zotteligem Vollbart, in seiner Rechten eine Lanze, so als wolle er den kostbaren Goldschatz in der Vorhalle des Museums verteidigen. Dieser awarische Panzerreiter, sagt Kurator Muhl, verkörpert auf perfekte Weise den Steppenkrieger des FrĂŒhmittelalters.

ZSP 12 Muhl awarischer Reiter 0,13

Man sieht an ihm alles, was ein Reiternomade braucht. Seinen Bogen, sein Schwert, seine Lanze, ein sehr fittes Pferd, einen Sattel. Und als Aware natĂŒrlich SteigbĂŒgel. Damit hat er alles, was er braucht.

ErzÀhlerin

Und was dem Gegner Angst einjagt. Kein Heer, nicht einmal das byzantinische, war damals in der Lage, sich diesen Panzerreitern erfolgreich zu widersetzen. Was auch an der RĂŒstung der Awaren lag.

ZSP 13 Muhl Lamellen 0,12

Das sind Lamellen aus Eisen, kleine Lamellen, die man zu einem ganz beweglichen Panzer zusammengeschnĂŒrt hat und die viel besser gegen Pfeile helfen als Kettenhemden. Damit war man doch relativ gut geschĂŒtzt.

ErzÀhler

Als Angriffswaffe diente den Awaren der sogenannte Kompositbogen. Zusammengesetzt aus einem Holzteil, das auf der Innenseite mit Sehnen zusammengeleimt und auf der RĂŒckseite mit einem dĂŒnnen Horn verstĂ€rkt ist, entwickelt er eine hohe Durchschlagskraft. Der untere Bogenteil ist kĂŒrzer als der obere. Dadurch werden die awarischen KĂ€mpfer zu Pferd beweglicher.

ErzÀhlerin

Sie ĂŒberraschen den Feind mit blitzschnellen Attacken, schießen reitend ihre Pfeile ab und fechten mit gekrĂŒmmten SĂ€beln. Entscheidend fĂŒr diese Art des KĂ€mpfens ist ein kleines Utensil, das dem Reiter Halt gibt: der eiserne SteigbĂŒgel. Erst die Awaren haben diese revolutionĂ€re Erfindung nach Europa gebracht, sagt Arnold Muhl.

ZSP 14 Muhl SteigbĂŒgel 0,20

Das ist eine tatsĂ€chlich entscheidende Änderung, weil das verĂ€ndert das Reiten völlig. Vorher gab es diesen SteigbĂŒgel nicht. Heute erscheint uns das völlig selbstverstĂ€ndlich. Aber wenn man bedenkt: Römer, Griechen, die hatten keinen. Und erst mit dem SteigbĂŒgel ist ein Reiten, wie man es dann spĂ€ter bei der Kavallerie oder beim Rittertum sieht, erst möglich.

ErzÀhler

PanzerrĂŒstung, SteigbĂŒgel, SĂ€bel – das Erbe der Steppe besteht vor allem aus militĂ€rischen Neuerungen, die die Armeen des Westens spĂ€ter ĂŒbernommen haben. Ohne die Awaren wĂ€re also das europĂ€ische Rittertum des Mittelalters gar nicht denkbar.

MUSIK 12 (Hosoo und Transmongolia: Temuulel 0’36)

ErzÀhler

Die SchĂ€tze der Awaren sind fast sprichwörtlich. Das meiste Gold aber haben sie nicht durch Kampf und Raub eingeheimst, sondern durch Schutzzahlungen und diplomatische Geschenke. Denn die Awaren waren in Europa schnell zum politischen Player aufgestiegen, zu einem Faktor im MachtgefĂŒge.

ErzÀhlerin

566 hatten sie die Franken besiegt und im Jahr darauf die ostgermanischen Gepiden in Pannonien unterworfen. Um ihren Machtbereich auch auf dem Balkan zu erweitern, wandten sich die Awaren schließlich gegen Byzanz und belagerten im Jahr 626 die schwer befestigte Hauptstadt Konstantinopel. An deren Mauern aber bissen sich die awarischen Panzerreiter und BogenschĂŒtzen letztlich die ZĂ€hne aus, sagt Arnold Muhl.

ZSP 15 Muhl Verlust 0,23

Also die holen sich da eine ziemlich blutige Nase, sind dann ziemlich geschwĂ€cht. Auch Teile ihrer unterworfenen Slawen lösen sich dann auf, ein Teil ihrer Macht geht flöten. Und die Franken nutzen die Situation und greifen die ein paar Mal an. Das fĂŒhrt zu einem gewissen Substanzverlust letztendlich. Aber erst tatsĂ€chlich, als sie untereinander zerstritten sind, sind die dann so schwach, dass sie dann einzeln aufgerieben werden.

ErzÀhler

Ende des 8. Jahrhunderts erobert und plĂŒndert Frankenkönig Karl, der spĂ€tere Kaiser Karl der Große, das wohlhabende Awarenreich im Donau-Theiß-Zwischenstromland. Nur zwei Jahrzehnte spĂ€ter sind die Awaren aus den Annalen verschwunden. Ihr 250 Jahre wĂ€hrendes Reich ist Geschichte. Und die Reste der awarischen Bevölkerung gehen in anderen Volksgruppen auf.

MUSIK 13 (Hosoo und Transmongolia: Sankhnu ayalguu 0’28) 

ErzÀhler

Aber es dauert keine hundert Jahre, da tauchen aus den Steppen Asiens erneut Reitervölker auf. Die Ungarn oder Magyaren, wie sie sich selbst nennen. Ihre Urheimat lag östlich des Urals, und ihr Idiom, das zur finno-ugrischen Sprachenfamilie gehört, klang in europĂ€ischen Ohren reichlich fremd. Auch sie lassen sich in der pannonischen Tiefebene nieder. Und starten von hier aus ihre RaubzĂŒge.

ErzÀhlerin

Wie ein Wirbelsturm fegen die Ungarn Ende des 9. Jahrhunderts ĂŒber Mitteleuropa hinweg. Leicht gerĂŒstet und Ă€ußerst wendig, fĂŒhren sie blitzschnelle Reiterattacken aus. Die schwerfĂ€lligen gepanzerten Fußsoldaten des bayerischen Heeres erleiden im Jahr 907 vor Pressburg eine vernichtende Niederlage gegen diese pfeilschnellen Madjaren. Die werden zur permanenten Bedrohung. Sie zerstören Dörfer und plĂŒndern Klöster. In ihre Pfeilspitzen bohren sie Löcher. Dadurch entsteht im Flug ein heulendes, pfeifendes GerĂ€usch, das die Gegner in Angst und Schrecken versetzt.

ErzÀhlerin

Die ostfrÀnkische Landbevölkerung verschanzt sich hinter hohen ErdwÀllen und tiefen GrÀben. Oft genug vergeblich. Wie schon die Hunnen ein halbes Jahrtausend zuvor werden auch die magyarischen Reiternomaden zum Alptraum Europas. Als blutsaufende Bestien verschrien, galten sie als Vorboten einer drohenden Apokalypse. Die schriftkundigen Mönche sahen in den schamanistischen Heiden den personifizierten Satan. Aber waren diese Ungarn wirklich so grausam wie sie beschrieben werden?

ZSP 16 Muhl erfolgreich 0,22

Nicht grausamer als die anderen. Das hat sich damals nicht viel gegeben. Ein Menschenleben zĂ€hlte nicht so besonders viel. Aber sie waren halt erfolgreich wieder durch ihre Reiterei, auch mit ihren SĂ€beln waren sie ein bisschen besser ausgerĂŒstet. Also das war fĂŒr die Leute kein Spiel, wenn die hier anrĂŒckten. Weil auch die wieder militĂ€risch so erfolgreich waren, dass man dem wenig entgegenzusetzen hatte.

ErzÀhlerin

Mitte des 10. Jahrhunderts enden die UngarneinfĂ€lle. König Otto I. kann 955 auf dem Lechfeld vor den Toren Augsburgs das militĂ€risch weit ĂŒberlegene ungarische Heer vernichtend schlagen. In den Jahrzehnten danach wird das Nomadenvolk langsam sesshaft. Und gut katholisch. FĂŒrst Stephan christianisiert seine heidnischen Magyaren und grĂŒndet im Jahr 1000 das Königreich Ungarn. Als einziges der bedeutenden Steppenvölker können sich diese Ungarn in Mitteleuropa bis heute behaupten.

MUSIK 14 (Hosoo und Transmongolia: Sankhnu ayalguu 0’49) 

ErzÀhler

Aber schon Mitte des 13. Jahrhunderts tauchten erneut Reiternomaden auf. Die mongolischen StÀmme der Goldenen Horde unter Batu Khan dringen bis Niederschlesien, Ungarn, MÀhren und Niederösterreich vor.

ErzÀhlerin

Hunnen, Awaren, Ungarn, Mongolen. Die Geschichte der Reiternomaden auf dem europÀischen Kontinent ist lang, auch wenn manche ihrer Reiche nur kurz bestanden. Als Krieger, aber auch als Hirten und HÀndler haben die eurasischen Steppenvölker Spuren hinterlassen. Sie sind Teil unserer europÀischen Geschichte.

MUSIKENDE