Freundliche Menschen gelten oft als schwach, naiv, nachgebend. Dabei braucht jeder Mensch und jede Gesellschaft Freundlichkeit ? und zu Verlierern macht diese Eigenschaft den Einzelnen auch nicht. Von Marie SchoeĂ
Freundliche Menschen gelten oft als schwach, naiv, nachgebend. Dabei braucht jeder Mensch und jede Gesellschaft Freundlichkeit ? und zu Verlierern macht diese Eigenschaft den Einzelnen auch nicht. Von Marie SchoeĂ
Credits
Autor/in dieser Folge: Marie SchoeĂ
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja BĂŒrkle, Peter WeiĂ, Katja Amberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Claudia Hammond, Journalistin, Dozentin fĂŒr Psychologie
Prof. Dr. Hans Bernhard Schmid, Professor fĂŒr Philosophie an der UniversitĂ€t Wien
Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Lösung - Der Psychologie Podcast von Puls
Was ist da manchmal los in unserem Kopf? Verhaltenstherapeutin Maren Wiechers und Host Verena âFiebiâ Fiebiger gehen dieser Frage jede Woche auf den Grund. Mit Empathie und Sachverstand sprechen sie ĂŒber die groĂen und kleinen Themen der Psychologie, die uns umtreiben: Was macht der Alltagsstress in der Rushhour des Lebens mit uns? Wie ist da mit unserer Persönlichkeit: Bleiben wir ein Leben lang gleich? Wie sehr prĂ€gen unsere Eltern uns â und wir damit wiederum unsere Kinder? âDie Lösungâ ist der Psychologiepodcast fĂŒr alle, die ein wenig Ordnung ins GefĂŒhlschaos bringen wollen. Denn gemeinsam grĂŒbeln ist immer besser als alleine. Und klar: Die eine groĂe Lösung gibt es selten â aber jeder Schritt zĂ€hlt!
Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Beginnen wir mit einer Wette: Wenn Sie heute das Haus verlassen, wenn Sie jetzt gleich einkaufen gehen, zur Arbeit fahren, den Hund spazieren fĂŒhren, ihre Kinder von der Schule abholen, dann werden Ihnen ĂŒberall kleine freundliche Taten begegnen.Â
Hier wird die TĂŒr einen Moment lang aufgehalten, damit noch zwei Fremde durchschlĂŒpfen können. Da hilft jemand der Mutter mit dem Kinderwagen. Oder dort, dort hebt einer dem Sitznachbarn in der U-Bahn den Regenschirm auf, weil der seinen Verlust gar nicht bemerkt hatte.Â
Ich wette also mit Ihnen: Sobald Sie Ihr Haus verlassen, begegnen Sie der Freundlichkeit!
01 - ZUSPIELUNG Claudia Hammond
OVERVOICE:
Wer einmal anfĂ€ngt, auf Freundlichkeit zu achten, entdeckt sie immer hĂ€ufiger. Ich empfehle, es mit Freundlichkeit zu halten, wie einige es mit Vögeln machen, also: Vogelbeobachter zu werden â nur fĂŒr Freundlichkeit. Psychologische Studien belegen, dass negative Sachen sichtbarer sind: Einen Löwen hinter dir auf der StraĂe bemerkst du. Aber das Kind, das dir allein folgt, nicht unbedingt. Der Löwe kann dir schlieĂlich gefĂ€hrlich werden, den musst du sehen. Die negativen Dinge fallen uns also auf, an sie erinnern wir uns. Und in den Nachrichten sehen wir, dass ĂŒberall auf der Welt schreckliche Dinge passieren. All das lĂ€sst uns glauben, dass es in der Welt nur grausam zugeht. Aber das stimmt nicht. Die meisten Leute sind freundlich zueinander.Â
 SPRECHERIN
Keine Sorge: Claudia Hammond ist niemand, der die Augen vor Kriegen und Krisen verschlieĂt. Sie ist Journalistin, geschult darin, kritisch auf die Welt zu blicken. Sie ist aber auch Dozentin fĂŒr Psychologie und hat als solche Studien gelesen, selbst welche durchgefĂŒhrt, die belegen, dass Freundlichkeit kein Mythos aus der Antike ist, der in pluralen demokratischen Gesellschaften ausgedient hat. Sondern etwas, das sich gut anfĂŒhlt, das â bis heute â zum Zusammenleben unbedingt dazugehört und: den Einzelnen erfolgreich macht.Â
Denn wenn es einen Mythos in Sachen Freundlichkeit gibt, ist es dieser hier: Wer freundlich ist, kann nur verlieren.
02 - ZUSPIELUNG Claudia Hammond
OVERVOICE:
Es gibt diese Idee, dass man gerade als Chef eher gemein, streng sein muss, weil die Leute sonst nicht richtig arbeiten. Aber Belege gibt es keine dafĂŒr: In einer groĂ-angelegten Studie nahm sich Joe Folkman, ein Psychometriker aus den USA, Feedback-Bögen von ĂŒber 50.000 FĂŒhrungskrĂ€ften vor und fand heraus, dass unsympathische Chefs selten erfolgreich sind. Diejenigen, die gemocht werden, sind dagegen zugleich die effektivsten. Erfolgreich und unsympathisch zu sein: DafĂŒr stehen die Chancen bei 1 zu 2.000.Â
Musik 1
"00:26" - KĂŒnstler und Komponisten: Ălafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - LĂ€nge: 1'39
SPRECHERIN:Â
Dass Freundlichkeit ein so ausschlaggebender Faktor fĂŒr Erfolg ist â davon gehen sicher die wenigstens aus. Aber die Studie zeigt genau das: Unsympathische Chefs oder Chefs, die sich nicht um ein freundliches Klima in ihrem Unternehmen sorgen, haben bloĂ eine winzige Chance auf Erfolg. Was nur beweist: Freundlichkeit ist nicht so schlicht, wie sie zu sein scheint, eigentlich ist sie sogar ein ziemlich komplizierter Fall und unser VerhĂ€ltnis zu ihr ebenfalls. Freundlichkeit prĂ€gt unser Leben jeden Tag, entscheidet ĂŒbers Vorankommen, ĂŒber Gesundheit und Geborgenheit. Und trotzdem ist umstritten, was genau sie ist, wann sie wem guttut und welche Form freundliches Verhalten konkret annimmt.Â
Hans Bernhard Schmid ist Professor fĂŒr Philosophie â ihn interessiert die groĂe Frage, was das eigentlich ist, Freundlichkeit? Ihn interessiert, warum einige Philosophen der SpĂ€tmoderne den Menschen als unfreundliches Wesen beschreiben, als konkurrenzgetrieben, egoistisch von Natur aus, und warum gerade ihre Texte so ĂŒberzeugend waren, dass Freundlichkeit bis heute vielen als etwas RandstĂ€ndiges, fast schon Kurioses gilt. Ihn interessiert, ob es â dieser Vorstellung zum Trotz â gerade die Freundlichkeit ist, die menschliches Leben ausmacht. Und zwar mehr noch als Sprache, Denken, FĂŒhlen. Hans Bernhard Schmid kennt auch die alltĂ€glichen Fallstricke von Freundlichkeit. Schauplatz: Flugzeug, kurz vorm Abheben.
03 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Meine Eltern empfinden es als sehr unfreundlich, wenn man in dem Flugzeug einfach mit dem Finger auf den eigenen Platz weist â da beim Fenster. Und die Leute, die beim Gang schon sitzen, durch den Fingerzeig dazu auffordert, einem Platz zu machen. Meine Eltern beginnen dann ein GesprĂ€ch mit den Personen. Ich als hĂ€ufiger Flieger bin sehr froh, dass nicht viele Menschen auf diese Weise freundlich sind. Denn Freundlichkeit wird sehr schnell zur Aufdringlichkeit.
SPRECHERINÂ
Hier zeigt sich, was Freundlichkeit in ihrer einfachsten Form ist: Etikette, vergleichbar mit der Höflichkeit. Aber hat es historisch in puncto Höflichkeit klare Normen gegeben, nicht selten aufgeschrieben in Ratgebern, herrscht bei Freundlichkeit Unsicherheit:Â
MUSIK 3
"Seven Fizzles: III" - Komponist: Barry Guy - Album: Symmetries - LĂ€nge: 1'22
SPRECHERINÂ
Wie viel Freundlichkeit ist angemessen, wann wirke ich aufdringlich, wann abweisend? Das ist immer kontextabhĂ€ngig und selten selbsterklĂ€rend. Claudia Hammond kennt das Problem und die Konsequenz:Â
04 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
In der groĂen Recherche, die ich mit Kollegen an der University of Sussex gemacht habe, dem Freundlichkeits-Test, bei dem 60.000 Menschen teilgenommen haben, war eine Frage: âWas hindert Sie daran, freundlicher zu sein?â Und 2/3 der Teilnehmer sagten, sie hĂ€tten Angst, fehlinterpretiert zu werden. Das war die gröĂte Angst von Menschen in UK und Europa. Die Leute wollten also freundlich sein, wussten aber nicht, ob es falsch rĂŒberkommt. Die Angst, sich peinlich zu machen, hindert uns daran, freundlicher zu sein.
SPRECHERIN
Kennen Sie, oder? Da mĂŒht sich ein Fremder ab, Kisten ins Haus zu schleppen, kann Hilfe gut gebrauchen, aber bis Sie sich durchgerungen haben, die Initiative zu ergreifen, bis Sie ĂŒberzeugt sind, dass das schon nicht aufdringlich wirkt, ist die Situation vorbei. Eine verpasste Chance, sagt Claudia Hammond. Denn eigentlich ist das Risiko, dass spontane Freundlichkeit Grund fĂŒr Unbehagen ist, gering:
05 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
Belegt ist, dass wir es lieben, wenn Menschen freundlich sind. In unserem Freundlichkeits-Test haben wir die Teilnehmer gefragt, wie sie sich fĂŒhlten, wenn man ihnen freundlich begegnete. Und sie fĂŒhlten sich verbundener mit anderen, sie fĂŒhlten sich gesehen, haben es genossen. Wir mögen es also, wenn man freundlich zu uns ist, und wir mögen freundliche Menschen. Insofern sollte uns das keine Angst machen.
SPRECHERIN
Alle psychologischen Studien, die Claudia Hammond kennt, belegen: Das Risiko von Freundlichkeit ist minimal. Der Nutzen dagegen enorm â psychische und physische Gesundheit werden von Freundlichkeit derart gestĂ€rkt, dass Hammond sie als âSchutzschirm gegen Burnout und Stressâ beschreibt. Die positiven Effekte greifen dabei gerade bei denen, die freundlich handeln. Selbst freundlich zu sein trĂ€gt nĂ€mlich noch mehr zum Wohlbefinden bei, als Freundlichkeit zu empfangen.Â
Musik 4
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - LĂ€nge: 0'15
SPRECHERIN
Nur fangen mit dem Nutzen der eigenen Freundlichkeit die philosophischen Fallstricke an â und die spĂŒren nicht bloĂ spitzfindige Philosophie-Nerds, sondern jede und jeder von uns.Â
Musik 5
"Friends Theme" LĂ€nge: 0'40
SPRECHERIN
Selbst âFriendsâ, die Kultserie aus den USA, hat dieses philosophische Problem einmal durchgespielt: Phoebe Buffay, diejenige unter den New Yorker Freunden, die sehr freundlich und zugleich eine Spur verrĂŒckt ist, Phoebe also will den Beweis antreten, dass sie auf ganz und gar selbstlose Art freundlich sein kann. Und scheitert. Es gelingt ihr einfach nicht, gegen ihren Willen zu helfen, egal, was sie tut, um andere zu unterstĂŒtzen, egal auf welche Art sie also ihre Freundlichkeit zeigt: Immer genieĂt sie selbst das Miteinander. Eine Pattsituation, die nicht erst die Popkultur, sondern schon Friedrich Schiller umtrieb:
Musik 6
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - LĂ€nge: 0'15
ZITATOR
Gerne dien ich den Freunden, / doch thu ich es leider mit Neigung, /Â
Und so wurmt es mir oft, daĂ ich nicht tugendhaft bin.
SPRECHERIN
Wirklich tugendhaft ist nĂ€mlich nur, das weiĂ Phoebe, das parodiert Schiller, wirklich tugendhaft ist nur, wem die eigene Freundlichkeit ein bisschen Kraft kostet. Oder immerhin Ăberwindung. Ein reiner Akt muss Freundlichkeit sein und âreinâ heiĂt: ein Akt, der ausschlieĂlich dem anderen dient, nicht der eigenen Lust folgt.
Diesen Floh hat uns Immanuel Kant ins Ohr gesetzt â der sich wiederum auf Aristoteles stĂŒtzen konnte: Der antike Philosoph hatte sich Gedanken ĂŒber etwas gemacht, das er âeunoiaâ nannte: Mit âkindnessâ wird das ins Englische und mit âWohlwollenâ wurde es lange ins Deutsche ĂŒbersetzt. Heute wĂŒrden wir wohl eher von âFreundlichkeitâ sprechen: âEunoiaâ jedenfalls definiert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik als eine GefĂ€lligkeit âŠ
Musik 7
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - LĂ€nge: 0'15
ZITATOR
Ohne Gegenleistung und nicht zu dem Zwecke, daĂ der WohltĂ€ter selbst einen Vorteil daraus hat, sondern der BedĂŒrftige.
SPRECHERIN
Lesen wir das heute, haben wir bewusst oder unbewusst eine reine Tat im Sinne Kants im Kopf. Psychologisch unrealistisch, das wird sich gleich noch zeigen. Aber die Zuspitzung ist auch nicht in Aristotelesâ Sinne:Â
06 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Aristoteles liegt es fern, etwas Reines im Ethischen zu suchen. Er ist interessiert an den empirischen Bedingungen, die gutes Handeln und zwar dauerhaftes, verlĂ€ssliches gutes Handeln und den damit verbundenen guten Willen unterstĂŒtzen.
SPRECHERIN
HeiĂt: FĂŒr Aristoteles wĂ€re Phoebes Pattsituation keine Pattsituation. Aristoteles sah den Menschen als ein geselliges Wesen und â wer in einer Gemeinschaft leben, gut leben will, der hilft eben. Dass der Gebende sich dabei gut fĂŒhlt, hĂ€tte Aristoteles nicht zusammenzucken lassen. ((Der Gedanke, wie sich der Gebende fĂŒhlt, ist bei ihm ĂŒberhaupt nicht zentral â auch weil die Idee, die eigene Lust stehe dem tugendhaften Handeln permanent im Weg, Aristoteles fremd ist.))Â
Aber es ist Kants strenge Vorstellung, die sich in unsere Zeit ĂŒbersetzt hat: Phoebes Selbstversuch ist ein Beweis dafĂŒr, die latente Skepsis gegenĂŒber Freundlichkeit ein anderer.Â
07 - ZUSPIELER Claudia Hammond
Wir sollten uns darĂŒber nicht so viele Gedanken machen, finde ich. Wenn es sich so entwickelt hat, dass Freundlichkeit belohnt wird: Warum sollten wir das bekĂ€mpfen? Sex zum Beispiel ist ja auch nĂŒtzlich im Sinne der Fortpflanzung. Und trotzdem dĂŒrfen wir ihn genieĂen. Warum ist es bei Freundlichkeit anders, was ist falsch daran, von Freundlichkeit zu profitieren?
SPRECHERIN
Das sagt die Psychologin Claudia Hammond und weiĂ, dass wir kulturell anders geprĂ€gt sind:Â
Musik 8
"Runaway" - Komponist: Ălafur Arnalds - Album: Gimme Shelter - LĂ€nge: 0'41
SPRECHERIN
Dass hĂ€ufig gerade den Menschen mit Misstrauen begegnet wird, die besonders freundlich sind und daraus ganz offensichtlich selbst Genuss ziehen.Â
Hat der Prominente nicht bloĂ deshalb eine enorme Summe gespendet, weil es sein Image aufpoliert? Wollte sich dieser junge Mann nicht als WohltĂ€ter aufspielen, als er einem Fremden seine Niere spendete, einfach so, ohne Ă€uĂeren Anlass? Keine fiktive Reaktion auf Freundlichkeit ĂŒbrigens, sondern eine aus Claudia Hammonds Erfahrungsschatz, die viel von Kants Vorbehalten erzĂ€hlt.
Musik 9
"00:26" - KĂŒnstler und Komponisten: Ălafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - LĂ€nge: 1'19
SPRECHERIN
Nur ist dieses Ideal der reinen Tat papiern, wie die psychologische Forschung mittlerweile weiĂ. Fakt ist, dass sich Freundlichkeit fĂŒr beide gut anfĂŒhlt, auch fĂŒr den Gebenden:
08 - ZUSPIELER Claudia Hammond
Gehirnuntersuchungen zeigen, dass das Belohnungszentrum, das aktiviert wird, wenn man zum Beispiel Schokolade oder Geld bekommt, auch aktiviert wird, wenn Leute unter dem Gehirnscanner Geld verschenken. Also: Man kann die Leute befragen, welcher wohltĂ€tigen Organisation sie Geld geben wĂŒrden, oder ob sie ihr Geld lieber behalten wĂŒrden. Und wenn sie das Geld geben, werden andere Gehirnregionen aktiviert, als wenn sie das Geld behalten. In diesem Sinne belohnt uns das Gehirn also, wenn wir freundlich sind. Und das ergibt Sinn: Menschen hatten Erfolg, weil sie kooperierten. Und insofern ergibt es nur Sinn, dass das Gehirn uns fĂŒr Freundlichkeit belohnt â weil Freundlichkeit Basis fĂŒr Beziehungen ist. Was ist eine Beziehung schon anderes als das EinverstĂ€ndnis, freundlich zueinander zu sein?
SPRECHERIN
Claudia Hammond spricht etwas aus, das in der Antike immerhin viele Philosophen unterschrieben hĂ€tten. Ein wenig runtergebrochen galt Freundlichkeit lange Zeit als etwas SelbstverstĂ€ndliches, fast schon NatĂŒrliches. Oder immerhin als etwas, das man sich aus pragmatischen GrĂŒnden antrainieren sollte. Jeder dĂŒrfte schlieĂlich selbst mal auf Freundlichkeit angewiesen sein.Â
Aristoteles hat die âeunoiaâ, die Freundlichkeit also, oder: den guten Willen, das Wohlwollen, in seiner Nikomachischen Ethik nicht klar definiert. Sie steht bei ihm in der NĂ€he zu Freundschaft und Liebe. Man könnte die Passage so verstehen, dass âeunoiaâ die Tugend ist, die uns im rechten MaĂ lieben lĂ€sst, nicht zu viel, nicht zu wenig. Aber ausdrĂŒcklich formuliert Aristoteles das â anders als bei anderen Emotionen â nicht.Â
Hans Bernhard Schmid glaubt: Sein Schweigen zum VerhĂ€ltnis zwischen âeunoiaâ und der Freundschaft, Liebe hat einen Grund.
09 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Vielleicht ist der Grund der, dass die âeunoiaâ eine Stufe tiefer liegt, dass es da um etwas geht, das nicht eigentlich eine Emotion ist, sondern unserem ganzen emotionalen System zugrunde liegt.Â
SPRECHERIN
Das hieĂe: âEunoiaâ â die Haltung, die Liebe und Freundschaft beigestellt ist â wĂ€re eine Art Grunddisposition des Menschen, die Beziehung ĂŒberhaupt erst möglich macht, Grundlage von Sprechen, Denken, FĂŒhlen, von Ethik und letztlich: von Gesellschaft ĂŒberhaupt.Â
Bis heute ist das eine Sicht auf die Dinge: Dass Freundlichkeit Voraussetzung ist fĂŒr jede Form des kooperativen Zusammenlebens. Hans Bernhard Schmid denkt dabei etwa an den US-amerikanischen Verhaltensforscher Michael Tomasello:
10 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Tomasello sagt, um miteinander reden zu können, um ĂŒberhaupt einen Grund zu haben, sprachliche Zeichen zu verbinden in der Kommunikation, brauchen wir so etwas wie ein wechselseitiges, partnerschaftliches VerhĂ€ltnis, ein Offensein fĂŒreinander und genau das ist die Freundlichkeit.
SPRECHERIN
Freundlichkeit â so verstanden â ist ganz weit weg von Freundlichkeit als Etikette. Stichwort: GesprĂ€che im Flugzeug.Â
Freundlichkeit wĂ€re â in diesem Sinne â eine grundlegende Offenheit fĂŒr andere, die es braucht, um Gemeinschaft ĂŒberhaupt zu wagen.Â
11 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Tomasello vertritt die Ansicht, dass Freundlichkeit im Grunde das ist, was uns Menschen als Tiere von unseren Verwandten im Tierreich unterscheidet. Es ist das Humanum. Das, was uns zum Menschen macht. Und Freundlichkeit ist in diesem Zusammenhang unsere FÀhigkeit, partnerschaftlich, kollegial, freundschaftlich gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das sei die Eigenschaft, die FÀhigkeit, die es uns erlaubt, Kultur, Sprache, MoralitÀt etc. zu entwickeln.
SPRECHERIN
Nicht wenige Philosophen gehen ĂŒbrigens die Wette ein, von der am Anfang die Rede war: Sie sehen Freundlichkeit und setzen auf sie, um den Menschen zu beschreiben, verstehen den Menschen als ein im Kern freundliches, kooperatives Wesen.Â
Musik 10
"Massage" - Album: The Haunted Airman (Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: 0'35
Jean-Jacques Rousseau ist der wirkmĂ€chtigste unter den Optimisten: Er stellt sich den Menschen als einen freundlichen vor â bei seiner Geburt immerhin, bevor er also Gefahr lĂ€uft, von einer Gesellschaft verdorben zu werden, die sich gegen Freundlichkeit entschieden hat. Den Naturzustand des Menschen prĂ€gt â folgt man Rousseau â gegenseitige Sympathie, eine Neigung zum Mitleiden, zu Anteilnahme, Hilfe, UnterstĂŒtzung.Â
Musik 11
"Double-bass Improvised Commentary" - Komponist: Barry Guy - Album: Folio - LĂ€nge: 0'41
12 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Auf der anderen Seite gibt es ein anderes und in den vergangenen 100 Jahren wahrscheinlich dominant-gewordenes Konkurrenzmodell von Thomas Hobbes, das den Naturzustand des Menschen sehr, sehr unfreundlich schildert. Nach diesem Modell sind Menschen bewegt von Eigeninteressen, die zu verfolgen sie in Konflikte bringt mit anderen Menschen. Diesen anderen Menschen gegenĂŒber dominiert dann ein GefĂŒhl â und das ist nicht die Sympathie, nicht die Zuneigung, es ist die Furcht.Â
Musik 12
"Kingston" - Komponist und AusfĂŒhrender: Dickon Hinchliffe - Album: Yardie (The Original Score) - LĂ€nge: 1'26
SPRECHERIN
Als Hobbes seinen Leviathan schreibt â SchlĂŒsseltext des unfreundlichen Menschenbildes â, steht er unmittelbar unter dem Eindruck des englischen BĂŒrgerkrieges. Egoismus, Konkurrenz, Hedonismus sind zentral fĂŒr den Menschen, so die Hobbesâsche Sicht der Dinge, wobei er das entsprechende Verhalten nicht als Fehler des Einzelnen begreift oder als verunglĂŒckte Erziehung, sondern: als menschliche Natur.Â
Der RadikalitĂ€t seines Ansatzes wurde oft widersprochen, und doch ĂŒbersetzten sich verschiedenste Spielarten seiner Gedanken in unsere Zeit: Die Idee vom individuellen Genuss, der nicht Hand in Hand geht mit dem Genuss anderer und sicher nicht die GroĂzĂŒgigkeit, die Sorge fĂŒr den anderen als Quelle hat. Der persönliche Ehrgeiz, zu dem ein gewisses Konkurrenzdenken eben dazugehört. Die Notwendigkeit, sich abzugrenzen vom anderen, um sich selbst nicht zu verlieren.Â
13 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Die Entwicklung, die mit Hobbes eingesetzt hat, hat in mancher Hinsicht schon sehr recht gegen Aristoteles. Denn Hobbes hat begonnen, ĂŒber Soziales nachzudenken aus der Perspektive des Einzelnen. Die GrundprĂ€misse seiner Staatskonstruktion ist, dass der Staat legitimiert sein muss aus der Perspektive des Einzelnen. Und Hobbes hat gesehen, dass die Ziele der Einzelnen nicht notwendigerweise immer harmonieren in Hinblick auf ein konzertiertes oberstes höchstes Gut. Diese Hinwendung zur Perspektive des Einzelnen ist sicher etwas, was wir nicht verlieren wollen, da scheint mir Hobbes völlig recht zu haben, aber ich glaube, dass er einen Fehler macht, wenn er die Freundlichkeit einfach ĂŒber Bord wirft.
SPRECHERIN
Womit er unser VerhĂ€ltnis zur Freundlichkeit allerdings nachhaltig geprĂ€gt hat â könnte man hinzufĂŒgen. Ăberhaupt haben verschiedene philosophische Traditionen der westlichen Welt Freundlichkeit einen BĂ€rendienst erwiesen. Sie sind es, die â entgegen den psychologischen Studien â dafĂŒr sorgen, dass freundliche Menschen heute so oft als eine Spur naiv oder fast schon heilig angesehen werden, jedenfalls nicht als einfach normal-menschlich.Â
Kant und seine Strenge ist eine Etappe, Hobbes und sein Pessimismus eine andere. Und ebenfalls nicht unbeteiligt ist die Philosophie des Christentums. NĂ€chstenliebe, Barmherzigkeit, GĂŒte â eigentlich sind alle SchlĂŒsselbegriffe des Christentums ohne Freundlichkeit nicht zu denken. Aber die groĂen Autoren der christlichen Kirche entwarfen eben auch das Bild eines Menschen, der nur durch Gott zur Liebe findet. Der Mensch ist also â wieder â kein von sich aus freundlicher, sondern einer, der durch Selbstzucht, Selbstopfer dazu diszipliniert wird.Â
((Jean-Jacques Rousseau spĂŒrte dieses Paradox ganz konkret â in den Predigten, mit denen er selbst aufwuchs.
ZITATOR
Das AuĂerordentlichste ⊠ist âŠ, dass dieser selbe Prediger uns auffordert, unsere NĂ€chsten, das heiĂt diese ganze Schurkenbande zu lieben, gegen die er uns zuvor mit solchem Grauen erfĂŒllte.))
SPRECHERIN
Claudia Hammond erfĂ€hrt dieses zwiespĂ€ltige philosophische Erbe in jeder Studie, die sie durchfĂŒhrt. Und wĂŒnscht sich: ein neues Image der Freundlichkeit.
14 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
Freundlichkeit braucht ein Rebranding. Ich wĂ€re fĂŒr eine Freundlichkeits-Revolution, ich hĂ€tte es gern, dass Freundlichkeit als erstrebenswert und nicht als schwach gilt, dass du stark und freundlich, erfolgreich und freundlich sein kannst. Dass Freundlichkeit StĂ€rke bedeutet.
Musik 13
"00:26" - KĂŒnstler und Komponisten: Ălafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - LĂ€nge: 0'43Â
SPRECHERIN
Vielleicht brĂ€uchte es dabei gar keinen neuen Namen fĂŒr Freundlichkeit. Denn eigentlich steckt in den Begriffen, die wir heute verwenden, das ganze Wissen der Psychologie. Im Englischen hat âkindnessâ Karriere gemacht, lĂ€uft âfriendliness, den Rang ab. kindnessâ. bindet die Haltung, an âkindâ, an die Art oder Gattung Mensch. WĂ€hrend die deutsche "Freundlichkeit" den Freund ganz ins Zentrum rĂŒckt.Â
Es ist dem Menschen gemĂ€Ă, anderen Menschen ein Freund zu sein â das verraten diese beiden Sprachen im Zusammenspiel.Â