radioWissen - Bayern 2   /     Staatsdenker des Putinismus - Iwan Iljin

Description

Mit Putins Machtpolitik erfuhr er eine ungeahnte Renaissance: Der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954). Von Christine Hamel

Subtitle
Duration
00:24:19
Publishing date
2024-03-06 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/staatsdenker-des-putinismus-iwan-iljin/2090839
Contributors
  Christine Hamel
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2090839/c/feed/staatsdenker-des-putinismus-iwan-iljin.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Mit Putins Machtpolitik erfuhr er eine ungeahnte Renaissance: Der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954). Von Christine Hamel

Credits
Autorin dieser Folge: Christine Hamel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürckle, Christian Baumann, Oliver Stokowski, Jerzy May, Constanze Fennel, Andreas Neumann
Technik: Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Ilya Budraitskis, Historiker an der University of California in Berkeley

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Sprecherin: 

Rossija- Russland. Unermüdlich umkreist Iwan Iljins Denken Russland.

Zitator: 

Ich lebe nur für Russland. (..) Russisch sein bedeutet nicht nur, Russisch zu sprechen. Es bedeutet, Russland mit dem Herzen wahrzunehmen, mit Liebe seine kostbare Originalität und seine absolute Einzigartigkeit in der gesamten Weltgeschichte zu sehen, zu verstehen, dass diese Einzigartigkeit ein Geschenk Gottes ist, das dem russischen Volk persönlich gegeben wurde.  

Musik 2

"From My Youth" - Künstler: Andrei Vasilyevich Malutin & Akafist Male Chamber Choir - Album: Famous Russian Choral Works - Komponist: Traditional - Länge: 0'41

Sprecher: 

Die Russen, ein von Gott auserwähltes Volk - auserwählt zur Rettung und Befreiung der gesamten Menschheit. Diese Idee ist fester Bestandteil großrussischer Ideologie. 

Sprecherin:

Iwan Iljin begeistert sich für den Glauben, den er in Russland als besonders schöpferisch empfindet, hebt Russlands „geschichtliche Tragik“ hervor, ihm imponiert die „nationale Zähigkeit“ und unermüdlich geht er der russischen Seele auf den Grund. Russland, schreibt Iljin – und die Ukraine gehört für ihn selbstverständlich dazu - sei ein lebendiger Organismus. 

Musik 3

"Dekalog VIII, Pt. 4" - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 1'01 

Zitator:

Wenn man mit Ausländern über Russland spricht, muss jeder loyale russische Patriot ihnen klar machen, dass Russland kein Zufall ist, dass Russland kein zufälliger Haufen von Territorien und Stämmen und kein künstlich koordinierter "Mechanismus" von Regionen ist, sondern ein lebendiger, historisch gewachsener und kulturell begründeter ORGANISMUS. Dieser Organismus ist eine geographische Einheit, deren Teile durch wirtschaftliche gegenseitige Ernährung verbunden sind; dieser Organismus PAUSE ist eine geistige, sprachliche und kulturelle Einheit, die das russische Volk mit seinen nationalen und jüngeren Brüdern historisch verbunden hat - durch geistige gegenseitige Ernährung; er ist eine staatliche und strategische Einheit, die der Welt ihren Willen und ihre Fähigkeit zur Selbstverteidigung bewiesen hat.

Sprecherin:

Iljin ist ein großer Kritiker des Intellektualismus und hält nicht viel von Analyse und Argumentation 

Sprecher:

Er will zeigen statt beweisen. Daher sein blumiger Stil. 

Sprecherin: 

Lange war das etwa 40 Bücher umfassende Werk des Philosophen in der Mottenkiste der „Ideologeme“ des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verschwunden. Während der gesamten Sowjetzeit war Iljins Werk mit einem Bann belegt. Schließlich hatte er rechten, faschistischen Ideen das Wort geredet.

Sprecher:

Aber dann entdeckte Putin-Russland den Philosophen – als Gewährsmann für eine propagierte Einzigartigkeit der russischen Kultur, für den starken Staat, den russischen „Sonderweg“ und als Ideenstifter einer orthodoxen-neokonservativen Ideologie, der sogenannten „Traditionellen Werte“. 

Sprecherin:

Der Historiker, Politik- und Sozialtheoretiker Ilya Budraitskis hat sich lange mit Iwan Iljin auseinandergesetzt. Zu seinem Forschungsgebiet gehören der Konservatismus und der Aufstieg des Rechtspopulismus. Er war Dozent an der Moskauer Hochschule für Sozial und Wirtschaftswissenschaften. Seit 2022, dem Einfall Russlands in die Ukraine, arbeitet er an der University of California in Berkeley. 

VOICE OVER 

Das derzeitige Regime in Russland wird nicht von einer bestimmten Philosophie geleitet, auch nicht von der Philosophie Iwan Iljins. Aber es ist nicht zu übersehen, dass Iljin ein wichtiger Autor für das Regime ist. Es gibt beispielsweise viele Reden von Wladimir Putin, die sich auf Iljin beziehen. Auch andere Staatsfiguren sprechen ständig über ihn. Man fühlt sich Iljin durchaus verbunden, sowohl seinen Moralvorstellungen als auch seinen politischen Konzeptionen. 

Sprecher:

Bei der Zeremonie der illegalen Angliederung der besetzten Gebiete in der Ukraine sagte Putin: 

(O-Ton Putin) 

VOICE OVER PUTIN

Ich möchte meine Rede mit den Worten eines wahren Patrioten - Iwan Alexandrowitsch Iljin – schließen. „Wenn ich meine Heimat als Russland betrachte, bedeutet das, dass ich auf Russisch liebe, überlege und denke, singe und spreche; dass ich an die geistigen Kräfte des russischen Volkes glaube und sein historisches Schicksal mit meinem Instinkt und Willen akzeptiere. Sein Geist ist mein Geist, sein Schicksal ist mein Schicksal, sein Leid ist mein Leid, seine Blüte ist meine Freude. 

Musik 4 

"Dekalog IX, Pt. 12" - - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'58

Sprecherin:

Iwan Iljin wird am 28. März 1883 in Moskau geboren. Seine Mutter Karolina Luisa Schweikert von Stadion ist Russlanddeutsche, deshalb wächst Iwan zweisprachig auf. Der Vater Aleksander Iljin ist ein renommierter Moskauer Rechtsanwalt aus einer aristokratischen Familie, Zar Alexander II. war sein Taufpate. Iwan hat drei Brüder. Nach einem glänzend bestandenen Abitur schreibt er sich an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Moskauer Universität ein 

Sprecher:

Sein Interesse gilt aber der Philosophie. Nur gibt es im Russischen Reich keine eigenständigen Philosophiefakultäten, denn Philosophie gilt als gefährliche Disziplin im Zarenreich. Ein Grund, warum er während seines Studiums viel Zeit in Deutschland verbringt. 

2. Zsp.: (Ilya Budraitskis) 

VOICE OVER

Den größten Einfluss auf ihn hat Hegel. Hegel ging davon aus, dass die Geschichte letztlich eine positive Wendung nimmt. Das heißt, der Mensch vereinigt sich mit Gott. Iljin glaubte, dass eine solche Wiedervereinigung unmöglich ist. Deshalb gehört es zum Schicksal des Menschen, dass Vollkommenheit oder eine perfekte Gesellschaft IHM zufolge nicht erreichbar sind, sie bleiben immer Utopie.

Musik 5

"Chase - Apartment to Subway" - Jóhann Jóhannsson - Länge: 1'05

Sprecher:

Über den Charakter Iwan Iljins ist wenig bekannt, Fotografien zeigen einen ernsten, streng blickenden Mann, tiefliegende Augen, Halbglatze und Oberlippen- sowie Kinnbart. Es gibt eine frappante Ähnlichkeit zu Lenin. Die Cousine seiner Frau, die Dichterin Ewgenija Gerzyk erinnert sich wenig schmeichelhaft an ihn. 

Zitatorin:

(…) Die Fähigkeit, ideologische Gegner zu hassen, zu verachten, zu beleidigen war bei Iljin besonders ausgeprägt, und von dieser Seite kannten ihn die Moskauer in den damaligen Jahren. 

Sprecher:

Ein aggressiv-polemischer Einzelgänger, der die russische Intelligenzija als „geistig sittenlos“ empfindet. Sie habe Russland – Zitat - „Verwesung“ und „Niedergang“ gebracht, und den Bolschewiki, also den kommunistischen Revolutionären damit den Weg geebnet.

Musik 6 

"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Künstler: Alexei Aigui - Länge: 0'30

Sprecherin:

Nach seiner Rückkehr nach Russland nimmt Iljin eine Lehrtätigkeit an der Fakultät für Rechtsphilosophie auf. Seine akademische Laufbahn wird jedoch von den politischen Ereignissen überrollt. Die Oktoberrevolution, bei der die kommunistischen Bolschewiki unter Führung Wladimir Lenins gewaltsam die Macht an sich rissen, ist Iljin von Anfang an verhasst. Die Gründe schlüsselt Ilya Budraitskis auf. 

3. Zsp.: (Ilya Budraitskis) – 

Voice Over

Die Rechtfertigung des Leidens und des Todes sind für Iljin sehr wichtig. Denn nur durch den Tod, durch das Leiden, erreicht der Mensch höhere Sphären. Deshalb ist der Bolschewismus für ihn inakzeptabel. Er lehnt alle sozialen Utopien ab, weil sie seines Erachtens eine falsche Vollkommenheit anbieten. Vollkommenheit ist für Iljin nicht erreichbar. 

Sprecher: 

Iwan Iljins Denken verrät vielmehr die Sehnsucht nach Kampf und Bewährung, nach Härte und Schwere. Er bewundert den Faschismus Benito Mussolinis, der das Leben als einen einzigen Kampf darstellt. 

Zitator

Im Leiden wird die Menschheit weise

Sprecher: 

ist Iljin überzeugt. 

4. Zsp.  (Ilya Budraitskis)

Voice Over

Der Weg des Menschen, der Weg der politischen Bewegung ist bei Iljin ein ständiger Kampf um höhere, geistige Werte. Das heißt, der Mensch offenbart sich nur in extremen Situationen, im Leiden und im Angesicht des Todes. 

Sprecherin: 

Selbst die bolschewistische Revolution versteht Iljin letztlich als schicksalhaften Leidensweg, aus dem die Russen, das gotterwählte Volk abermals geläutert hervorgehen werden. 1925 schreibt er: 

Musik 7

"Chase - Apartmen to Subway" - Jóhann Jóhannsson - 

Komponist und Ausführender: McCanick (Josh C. Waller's Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 1'05

Zitator

Schreckliche und schicksalsbestimmende Ereignisse, die unsere wunderbare Heimat heimgesucht haben, jagen mit versengendem und reinigendem Feuer durch unsere Seelen. In diesem Feuer brennen alle falschen Grundlagen, Verirrungen und Vorurteile, auf denen die Ideologie der ehemaligen russischen Intelligenz errichtet wurde. 

Sprecherin: 

Iljin meint hier die Orientierung vieler russischer Intellektueller am Westen, ihren Pazifismus, ihren – wie er es nennt - „sentimentalen Moralismus“. Ihn stört vor allem der Atheismus der Liberalen, ihre angebliche „Willenlosigkeit“, ihr Kampf um Freiheit und Demokratie, ihre Freizügigkeit.

Zitator: 

Auf diesen Grundlagen durfte man Russland nicht erbauen, die Verirrungen und Vorurteile führten es zu Verwesung und zum Niedergang. 

Sprecher: 

Aber, so fährt er fort: 

Musik 8 

"Girl Theme (From “Girl” Original Motion Picture Soundtrack)" - Künstler und Komponist: Valentin Hadjadj - Album: Girl (Themes & Variations / Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'30

Zitator: 

In diesem Feuer (der Revolution) wird unser religiöser und staatlicher Dienst erneuert, werden unsere geistigen Augen geöffnet, werden unsere Liebe und unser Wille geläutert. Und das erste, was dadurch in uns wiedergeboren wird, wird die religiöse und staatliche Weisheit (…) der russischen Orthodoxie sein. 

Sprecher: 

Auch wenn Iljin die Revolution als stählendes Schicksal für das russische Volk und die Orthodoxie begreift, engagiert er sich doch aktiv, ihr so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten. Er sammelt Geld für die Kampfverbände der konterrevolutionären „Weißen Bewegung“, gerät aber auch mit seinen aufrührerischen Artikeln ins Visier der sowjetrussischen Obrigkeit. 

Sprecherin:

Wegen antibolschewistischer Tätigkeit wird er zwischen 1918 und 1922 sechs Mal verhaftet, sogar zum Tode verurteilt. 

Sprecher:

Da Lenin aber Iljins Dissertation über Hegel schätzt, wird das Urteil nicht vollstreckt. 

Sprecherin:

Vielmehr wird der Philosoph 1922 zusammen mit seiner Frau und vielen anderen Schriftstellern, religiösen Denkern und Wissenschaftlern auf einem der beiden berühmten Philosophenschiffe zwangsabgeschoben. Iljin bleibt in Weimardeutschland, arbeitet am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin und versucht vom Ausland aus, die Konterrevolution zu unterstützen.

Sprecher:

Iwan Iljin wird zu dem wichtigsten Propagandisten der Weißen Bewegung, eines Sammelbeckens von Bolschewismusgegnern aller Couleur. 

Sprecherin:

1925 erscheint sein Schlüsselwerk „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“. 

5. Zsp.: (Ilya Budraitskis) 

Voice Over

Das heißt, dem Bösen muss aktiv widerstanden werden. Hier ist es wichtig zu sagen, dass Iljin nicht die Gewalt verteidigt, es geht ihm vielmehr um die Kraft. Aus seiner Sicht ist die Gewalt schlecht, denn sie ist willkürlich und ja nicht mit den höheren göttlichen Werten verbunden. Aber um dem Bösen entgegenzuwirken, muss Kraft aufgeboten werden. 

Sprecher: 

Diese Kraft kann dann allerdings sehr gewalttätig werden – nur dass Iljin das „kämpfende Liebe“ nennt. 

Musik 9

"Dekalog VIII, Pt. 4" - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'55 

Zitator: 

Folglich bleibt eine einzige, universelle Regel: dem Bösen aus Liebe zu widerstehen –(…) aus Liebe zu nötigen und zu unterdrücken, wo es nötig ist, aus Liebe zu überreden, aus Liebe hinzurichten (…) Ja, der Weg der Kraft und des Schwertes ist kein gerechter Weg. Doch gibt es einen anderen, gerechten Weg? Doch nicht etwa der sentimentale Weg der Widerstandslosigkeit, der Weg des Verrats der Schwachen. (…) Natürlich hat dieser Weg etwas weitaus „Ruhigeres“, etwas weitaus „Anständigeres“ und dem äußeren Anschein nach ein Aussehen, das weniger Blutvergießen fordert, jedoch nur Leichtsinnigkeit und böse Torheit können nicht wahrnehmen, um welchen Preis diese „Ruhe“ und „Anständigkeit“ erkauft wurden.

Sprecherin:   

Den moralischen Folgen seiner Handlung, seiner Schuld muss sich der Kämpfer bei Iljin wiederum stellen. Etwa durch religiöse Askese. Darin besteht - so Iljin – recht eigentlich dann sein Heldentum.  

Sprecher:

Die religiös unterfütterte Kampfansage sorgt natürlich für viel Diskussionsstoff und Häme. Maxim Gorkij spricht von einem 

Zitator 2

„Evangelium der Rache, in dem er beweist, dass man Menschen nicht töten darf, außer sie sind Kommunisten.“  

Sprecher:

Iljins Kollege Nikolaj Berdjajew, der nach Paris weitergezogen war, nennt Iljin einen „Tschekisten im Namen Gottes“, wiederum andere erkennen in dem Buch die „Predigten des Faschismus.“ 

Sprecherin: 

Dem Faschismus steht er tatsächlich nahe, auch er plädiert für einen straff einheitlich hierarchisch gegliederten Staatsaufbau. Diese „Nationale Diktatur“ solle im Verbund mit der Orthodoxie Russland für die Rückkehr des Zarentums vorbereiten.

6. Zsp.: (Ilya Budraitskis)

Voice Over

Das heißt, im Prinzip ist sein Ideal eine autokratische Monarchie. Wie viele andere Emigranten und Monarchisten hat er erkannt, dass es keine Rückkehr zur vorrevolutionären Ordnung geben wird, dass ein neues System notwendig geworden ist. Ein System einer aktiven Erziehung des Volkes. Denn das Problem der alten Monarchie war es, so Iljin, dass es das Volk nicht erziehen, die Gesellschaft nicht aktiv beeinflussen konnte. Und das hat zur Revolution geführt. Deshalb ist es notwendig, die Aufgaben einer russischen konservativen Bewegung neu zu überdenken. Iljin redet vor diesem Hintergrund manchmal einem „russischen Faschismus“ das Wort. 

Zitator:

Politik 

Sprecherin:

definiert er 1948

Zitator: 

ist die Kunst, den Feind zu erkennen und auszuschalten.

Sprecherin:

Iljin glaubt, dass andere Staaten an einem schwachen Russland interessiert seien und an seinem Zerfall arbeiten. 

Zitator

Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass die Zersplitterer Russlands auch im postbolschewistischen Chaos versuchen werden, ihr absurdes Experiment durchzusetzen, sie werden es betrügerisch als den Triumph der Freiheit, Demokratie und Föderalismus darstellen.

((Sprecherin:

Für ein paar Jahre ist Iljin Herausgeber der Zeitschrift „Russkij Kolokol“ – „Russische Glocke“. Die Publikation hat sich dem Ziel verschrieben, „dem urwüchsigem und großen Russland zu dienen

Sprecher: 

Neun Nummern können erscheinen, eine davon widmet sich dem „Russischen Faschismus“, dann muss die Zeitschrift wegen ausbleibender Finanzierung eingestellt werden.))

Sprecherin: 

1933 begrüßt Iwan Iljin erwartungsgemäß die Machtergreifung Hitlers. Nicht nur aus Gründen des Antibolschewismus. 

Sprecher:

Das moderne Leben mit seinem Pluralismus, aller Liberalität und die bürgerliche Gesellschaft sind ihm verhasst. Herzlichkeit? Eine Sache der Kleinbürger für einen, der, wie er sagt, „das Schwert der Liebe“ in Händen hält. In jedem aufrichtigen Nationalsozialisten, schreibt er in glühender Verehrung, brenne

Zitator:

Patriotismus, Glaube an die Identität des deutschen Volkes und die Kraft des deutschen Genies, Ehrgefühl, Opferbereitschaft, Disziplin, soziale Gerechtigkeit und klassenübergreifend brüderlich-volkstümliche Einheit. Solange Mussolini Italien und Hitler Deutschland führt, wird der europäischen Kultur eine Gnadenfrist gewährt.

Sprecher:

Er bedauert allerdings die Gottlosigkeit der Nationalsozialisten, das Nichtreligiöse des Nationalsozialismus. 

Sprecherin:

Im Frühjahr 1934 wird Iljin trotz seiner offenen Sympathie für die Nationalsozialisten die Leitung am Russischen Wissenschaftlichen Institut entzogen. 

7. Zsp.: (Ilya Budraitskis)

Voice Over

Ich denke, das Hauptproblem mit Hitler war, dass Iljin ein russischer Nationalist war, ein russischer Monarchist, kein deutscher Nazi. Hitler sympathisierte ja nicht sonderlich mit der Idee der Wiederherstellung eines starken monarchischen Russlands. Zudem war Iljin kein aktiver Antisemit, es gibt nur sehr selten Bemerkungen gegen Juden in seinem Werk. Antisemitismus ist bei weitem kein Eckpfeiler seiner Weltanschauung.

Sprecherin: 

1938 beschlagnahmt die Gestapo Iljins Werke und verbietet alle öffentlichen Auftritte. Einen Urlaub im Tessin nutzen Iwan Iljin und seine Frau im selben Jahr dazu, erfolgreich ein Aufenthaltsgesuch für die Schweiz zu stellen. Jede politische Tätigkeit ist fortan verboten, doch Iljin gründet voller zähem Eifer noch 1938 im Tessin die Geheimgesellschaft „Weißer Kongress“. Vor ihren Mitgliedern stellt der Monarchist im Untergrund seine Grundlagen zu einer neuen Verfassung für ein russisches Imperium vor. 

Sprecher:

Gewissermaßen sein Vermächtnis für Russlands Zukunft. So wünscht er sich das.  

8. Zsp.: (Ilya Budraitskis) 

Voice Over

Den Staat begreift Iljin als die Kraft, die dem göttlichen Anfang im Menschen trotz seiner bösen, unbewussten Natur zur Entfaltung verhilft. Der Staat zielt nicht darauf ab, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen. Aber er wirkt aktiv auf den Menschen ein, um in ihm, auch mit Gewalt, mit Zwang, mit Unterdrückung diesen echten göttlichen Anfang zu wecken.

Musik 10

"Chase - Apartmen to Subway" - Jóhann Jóhannsson - 

Komponist und Ausführender: McCanick (Josh C. Waller's Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'42

Sprecher:

Der Staat stellt die höchste Vollendung menschlichen Strebens dar und hat uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die Beherrschten. In „Unsere Aufgaben“ schreibt er für ein Russland nach dem Sozialismus:

Zitator:

Und da der Staat eine Institution ist, regieren sich die Menschen in ihm nicht selbst und verfügen nicht über sich selbst, sondern werden erzogen, unterrichtet und gehorchen. (…) Der Staat ist seinem Wesen nach verbindlich, imperativ und zwingend. 

Sprecherin:

Putin ließ das Buch im Januar 2014 an Staatsbeamte verteilen. 

Sprecher: 

Die russische Kultur, argumentiert Iljin, erzeuge automatisch „brüderliche Einheit“ überall dort, wo sich die Macht ausbreitet. Ein Satz, den Wladimir Putin als Erfolgsrezept für die russische Okkupationspolitik in der Ukraine versteht – und so tauchen in den besetzten Städten immer wieder Plakate mit Puschkin auf, dem russischen Nationaldichter. Russische Kultur, zitiert Putin Iwan Iljin, sei 

Zitator

die kontemplative Betrachtung des Ganzen.

Sprecherin: 

In der Schweiz arbeitet Iwan Iljin unermüdlich weiter. 

Musik 11

"Dekalog IX, Pt. 12" - - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'51

Sprecherin:

Iljins Denken richtet sich jetzt vor allem auf eine strahlende Wiedergeburt Russlands, auf eine Zukunft nach dem Sozialismus. 

Zitator

Wer seinen nationalen Führer nicht von ganzem Herzen liebt und ihm nicht vertraut, nicht an ihn glaubt, sendet ihm nicht seinen von Herzen gewollten Strahl der Loyalität, der Kraft und Inspiration, der sammelt keine Energien für ihn und in ihm und verliert ihn deshalb mit seiner vitalen und schöpferischen Kraft. Deshalb versuchen die Feinde des Führers und Souveräns immer, ihn durch Verdächtigungen, Spott und Verleumdungen zu erschöpfen und seine Macht zu untergraben.   

Sprecherin:

1954 stirbt Iwan Iljin in Zollikon. Bis 1991 geraten er und seine Werke in Vergessenheit. Erst nach dem Kollaps der Sowjetunion werden seine Schriften in einigen engen Interessenkreisen wiederentdeckt. 

Sprecher:

Philosophen und ewige Monarchisten interessieren sich für Iljins detaillierten Aufbauplan eines religiös-totalitären Einheitsstaates. 

Sprecherin:

Doch nach Putins Machtantritt im Jahr 2000 nimmt die Iljin-Rezeption richtig Fahrt auf. Im Oktober 2005 wird Iwan Iljins Urne aus seinem Grab in der Schweiz ausgegraben und nach Moskau gebracht. Russlands amtierender Präsident Waldimir Putin nimmt persönlich zusammen mit dem Patriarchen an der feierlichen Beisetzung auf dem Friedhof des Moskauer Donskoj Klosters teil. Iljins Nachlass wird aufgekauft und der Moskauer Universität übergeben. Seither gehört der rechtsorthodoxe Denker zu den kanonisierten Autoren russischer Geistesgeschichte, sein Staatsverständnis wird im russischen Abitur abgefragt. 

Zitator: 

Macht kommt von ganz allein zum starken Mann

Sprecherin: 

erklärt er und begründet damit seine Ablehnung des 

Zitator 

blinden Glaubens an die Zahl von Wählerstimmen und ihre politische Bedeutung. 

Musik 12

"Dekalog VIII, Pt. 4" - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'53 

Sprecherin: 

Iljins Schriften sind wenig konzis, sie sind verwirrend und widersprüchlich, sie verbinden patriotische Leidenschaft mit spirituellen Dimensionen und autoritären Zügen. Dieses Amalgam verbindet Iljins Denken mit dem Putin-Regime, das sich der Begrifflichkeit Iljins bedient: Russland, Liebe, Geist, Recht, äußere Feinde, Einheit sind die Schlagwörter. Aus ihnen konstruiert der Putinismus eine Erzählung, die dem ebenso klaren wie brutalen Vorgehen der Machthabenden einen leuchtenden, unschuldigen Rahmen verpasst. Und in diesem Rahmen kann die Propaganda der russischen Patrioten den Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Krieg der Liebe“ darstellen.