radioWissen - Bayern 2   /     Ovids Metamorphosen - Verwandlungsgeschichten als Dauerbrenner

Description

Lasziv, also frech, unanstÀndig und verspielt nennt der römische Rhetoriker Quintilian die Metamorphosen des Ovid. Vielleicht sind dessen Verwandlungsgeschichten gerade deshalb ein literarischer Dauerbrenner. Seit 2000 Jahren regen die Metamorphosen Musiker, Maler, Bildhauer und Dichter immer wieder zu neuen Werken an. Von Simon Demmelhuber

Subtitle
Duration
00:22:59
Publishing date
2024-04-14 03:10
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/ovids-metamorphosen-verwandlungsgeschichten-als-dauerbrenner/2092232
Contributors
  Simon Demmelhuber
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2092232/c/feed/ovids-metamorphosen-verwandlungsgeschichten-als-dauerbrenner.mp3
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Shownotes

Lasziv, also frech, unanstÀndig und verspielt nennt der römische Rhetoriker Quintilian die Metamorphosen des Ovid. Vielleicht sind dessen Verwandlungsgeschichten gerade deshalb ein literarischer Dauerbrenner. Seit 2000 Jahren regen die Metamorphosen Musiker, Maler, Bildhauer und Dichter immer wieder zu neuen Werken an. Von Simon Demmelhuber

Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Benedikt Schregle
Technik: Daniele Röder
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Prof. Dr. Markus Janka, Professor fĂŒr Klassische Philologie/Fachdidaktik der Alten Sprachen, Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t MĂŒnchen
Die Übersetzungen aus dem Lateinischen verfasste Markus Janka.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

Hereinspaziert, verehrte Damen und Herren! Treten Sie nÀher, treten Sie ein!

SRECHER

Willkommen in Ovids Varieté der Verwandlungen!

SPRECHERIN

Sehen Sie selbst, wie Götter, Heroen und Menschen vor Ihren Augen zu Tieren, Pflanzen, Sternen und Steinen mutieren.

SPRECHER

Beklagen Sie Daphne, die zum Lorbeerbaum wird, um der Liebestollheit Apolls zu entkommen.

SPRECHERIN

Beweinen Sie Arachne, die gekrÀnkter Götterstolz zum Leben als haarige Spinne verdammt.

SPRECHER

Lassen Sie sich rĂŒhren von Philemon und Baucis, denen gastfreie GĂŒte die Gnade erwirkt, in Baumgestalt einander fĂŒr immer zu lieben.

SPRECHERIN

Erschauern Sie mit Niobe, die der Schmerz ĂŒber den Tod ihrer Kinder in einen weinenden Felsen versteinert.

SPRECHER

Betrauern Sie Byblis, die von Amor gedrÀngt, den eigenen Bruder begehrt. Von ihm verschmÀht, zergeht sie in TrÀnen ewigen Kummers.

SPRECHERIN

Sie alle und zahllose mehr wechseln Form und Gestalt durch göttliches Wirken. Die einen zur Strafe, die andern zum Lohn, die Dritten zur Rettung.

SPRECHER

Nur eine Warnung vorweg: Hier geht es heftig zur Sache. Hier wird geliebt, gehasst, betrogen, gekÀmpft und gemordet. Hier toben Leidenschaften, hier waltet böses Geschick. Nichts bleibt, was es war, allein der Wandel besteht.

MUSIK 2  Tobi Morare: Ghetto Beat

SPRECHER

Das Licht erlischt, der Vorhang steigt. Bevor das Spiel beginnt, ehren wir den Prinzipal des Etablissements mit einem herzlichen Applaus. BegrĂŒĂŸen Sie nun den unvergleichlichen, einzigartigen Erzdichter Publius Ovidius Naso!

ATMO APPLAUS

43 vor Christus geboren, aus besten VerhĂ€ltnissen stammend, vom Vater fĂŒr die Ämterlaufbahn, von seinem Wesen aber zum Dichter bestimmt, fehlt ihm, wie er selbst gesteht, alles fĂŒr die politische Karriere:

ZITATOR

Weder war mein Körper fĂ€hig, diese Arbeit zu ertragen, noch mein Verstand dafĂŒr angemessen, stĂ€ndig war ich auf der Flucht vor Ehrgeiz und Stress.

SPRECHERIN

Mit knapp 20 Jahren legt er die Amores vor, eine Sammlung frivol-ironischer Liebesgedichte. Dem Erstling folgen die Ars amatoria, ein poetisches Lehrbuch der Liebeskunst und ein Remedia amoris betiteltes Arsenal hilfreicher Heilmittel fĂŒr unglĂŒcklich Liebende. Die gefeierten BĂŒcher festigen seinen Ruf als Experte fĂŒr literarische Liebes- und Leibesnöte. Dann, um 8 nach Christus, vollendet er sein unsterbliches Großwerk:

ZITATOR

Publii Ovidii Nasonis Metamorphoseon Libri - Ovids BĂŒcher der Verwandlungen

ATMO: APPLAUS 

SPRECHER

Die Metamorphosen - das sind rund 250 raffiniert ineinander verwobene mythologische Geschichten, in denen Menschen, Nymphen, Satyrn und Helden von Göttern teils schĂŒtzend, teils strafend in Tiere, Pflanzen und anderes verwandelt werden. Mit diesem Werk schafft Ovid eines der wirkungsmĂ€chtigsten BĂŒcher der Welt.

SPRECHERIN

Seit 2000 Jahren regen Ovids Verwandlungsgeschichten Dichter, Komponisten, Maler und Bildhauer zu eigenen Werken und Deutungen an. Kein anderer antiker Autor hat ein auch nur annĂ€hernd fruchtbares Nachleben. Kein anderes Buch, die Bibel ausgenommen, hat seine Geschichten und Gestalten tiefer in die geistige DNA des Abendlandes eingeschrieben. Die in einen Lorbeerbusch verwandelte Daphne, der vom Himmel ins Meer gestĂŒrzte Ikarus,– Ovids verwandelte Körper sind in der europĂ€ischen Kunst allgegenwĂ€rtig.

SPRECHER

Er ist der meistgelesene, meistimitierte römische Autor des Mittelalters. Schon die im 11. und 12. Jahrhundert verfassten Carmina Burana nutzen den Fundus der Verwandlungsgeschichten. SpĂ€ter lassen sich Dichter aller Epochen von ihnen inspirieren. Dass die frĂŒhesten Opern Titel wie La Dafne, oder L'Orfeo tragen und Komponisten noch immer ovidische Stoffe vertonen, bezeugt eine musikalische DauerprĂ€senz, die vom FrĂŒhbarock bis in die Gegenwart reicht.

SPRECHERIN

Am eifrigsten schöpfen Maler und Bildhauer aus den Metamorphosen. Bereits die Römer lassen Ovidmotive in Marmor meißeln, aus Bronze gießen und auf WĂ€nde malen. Seither ist die Kette kĂŒnstlerischer Anleihen ungebrochen. Wie ertragreich das Werk war und ist, beleuchtet eine Inventur des Kunsthistorischen Museums Wien: 40 der rund 2000 Bilder des Gesamtbestands zeigen ovidische Verwandlungsszenen. Das reicht locker fĂŒr Platz 2 nach der Bibel und macht Ovid zum wichtigsten KunstflĂŒsterer der westlichen Welt.

MUSIK 3  Ali N. Askin: Francis 

SPRECHER

Die Erfolgsgeschichte hĂ€lt nicht nur bis heute an, sie weitet ihren Wirkungskreis sogar kontinuierlich aus. WĂ€hrend die meisten antiken Texte allenfalls Fachwissenschaftler beschĂ€ftigen, inspirieren die Metamorphosen weiterhin Autoren, Theater- oder Ausstellungsmacher und neuerdings auch Video- und PerformancekĂŒnstler. DarĂŒber hinaus sorgen Comics, Zeichentrickfilme, Liebesratgeber und Videospiele fĂŒr eine beispiellose OmniprĂ€senz in der Popkultur.

SPRECHERIN

Ovid und kein Ende! Ovid ĂŒberall! Die Metamorphosen ĂŒberspringen mĂŒhelos Generations- und Gattungsgrenzen. Aber wie lĂ€sst sich dieser crossmediale Dauer- und Breitenerfolg erklĂ€ren? Warum gerade Ovid?

SPRECHER

Weil ihm mit den Metamorphosen ein zeitloses Meisterwerk gelungen ist, sagt Markus Janka, Professor fĂŒr Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der LMU MĂŒnchen.

01 O-TON JANKA

Ovid schafft ein Epos ganz eigener Art, das es so noch nie gegeben hat: eine unglaubliche PlastizitĂ€t, Anschaulichkeit, Eindringlichkeit, das ist schon etwas ganz Großartiges!

SPRECHERIN

Die Karriere der Metamorphosen beginnt als literarischer Befreiungsschlag. Bereits die Zeitgenossen des Dichters rĂŒhmen das Neuartige und Kunstvolle der Dichtung. Mehr als die eigenwillige Behandlung des mythologischen Stoffs oder die Archetypik der Gestalten wecken zunĂ€chst formale und stilistische Innovationen die Neugier der literarischen Öffentlichkeit.

SPRECHER

Dass er mit den Metamorphosen ganz bewusst Neuland betritt, stellt Ovid von Anfang an klar. Gleich die erste Zeile packt den Innovationshammer aus:

ZITATOR

Ä«n nƏvă fērt ănÄ­mĆ«s mĆ«tātās dÄ«cĕrĕ fƍrmās / cƍrpƏră

Neuem strebe ich zu, vom Wandel zu dichten der Formen in neue Körper.

SPRECHERIN

Was passiert da? Das ist doch nicht mehr der alte Ovid! Bislang hat er nur elegische Distichen, das fĂŒr Liebeslyrik typische Versmaß verwendet. Jetzt schreibt er plötzlich Hexameter!

SPRECHER

In diesem Wechsel steckt ein ganzes Programm. Das Metrum, also die festgelegte Kombination langer und kurzer Silben, regelt nicht nur den rhythmischen Fluss. FĂŒr römische Ohren ist das Versmaß außerdem stark mit den literarischen Genres verknĂŒpft, erklĂ€rt Markus Janka.

02 O-TON Janka

Das Versmaß konditioniert schon das, was man erwartet, und die kontinuierliche Abfolge von Hexametern in einer Langform ist das epische Versmaß schlechthin.

SPRECHERIN

Wenn Ovid nun durchwegs Hexameter einsetzt, ist die Botschaft klar: Er schreibt ein Epos! Er wagt sich an die Meistergattung der Literatur seiner Zeit und tritt in einer Disziplin an, in der Homer und Vergil die Standards setzen. Und diese Standards will er nicht nur kopieren. Ovid braucht es grĂ¶ĂŸer. So groß, dass seine knappe Vorrede dafĂŒr den Beistand der Götter erfleht:

ZITATOR

Helft mit Inspiration und fĂŒhrt die ErzĂ€hlung vom ersten Ursprung des Kosmos fortlaufend herab bis zu meiner Zeit.

MUSIK 4  Flore Laurentienne: Point d’ancrage 

SPRECHERIN

Damit ist der Plan raus: Ein Epos soll es sein, das Verwandlungen erzÀhlt und dabei den Bogen spannt vom Anbeginn der Zeit bis in die Gegenwart. Da gibt es nur ein Problem: seinem Epos fehlt ein Held, den es besingen könnte.

SPRECHERIN

Stimmt! Aber Ovid bĂŒgelt das Manko genial aus. Sein Held ist ein universales Prinzip: der stete Wandel aller Wesen und Dinge.

SPRECHER

Damit beginnt zugleich die Verwandlung einer Gattung, die Vergil bislang mit seiner Aeneis als römischer Homer und grĂ¶ĂŸter Dichter des Imperiums dominiert.

03 O-TON Janka

Ohne Vergil ist Ovid nicht denkbar als Dichter. In fast jeder Zeile ein versteckter und öfter auch ein direkter Bezug auf dieses gigantische Vorbild, an dem er sich abarbeitet und der ihn inspiriert zu einer Art von Dichtung, die dann am Ende ganz anders ist.

SPRECHERIN

Was diese Dichtung derart neu und anders macht, dass sie nicht allein das Epos, sondern auch den Mythos verÀndert, zeigt die Geschichte von Pygmalion und Galatea.

MUSIK 5  Flore Laurentienne: La nuit bleue 

SPRECHER

Pygmalion schnitzt eine Frauenfigur aus Elfenbein. Er verliebt sich in die Skulptur und nennt sie Galatea. Weil aber Galatea keine wirkliche Partnerin, sondern ein totes Bildwerk ist, bitter er Venus um eine Gattin, die der Statue gleicht. Die Göttin zeigt sich gnÀdig und verwandelt Galatea in eine lebendige Frau.

SPRECHERIN

Was Venus mit der Statue macht, macht Ovid mit dem Mythos: Er verwandelt mythologische Gestalten in Wesen, die von GefĂŒhl und Leidenschaft gelenkt, ganz wie Menschen empfinden und handeln.

SPRECHER

Ovid reicht die alten Geschichten nicht einfach weiter. Er aktualisiert sie, spĂŒrt den Motiven, Auslösern und Folgen des Geschehens nach und gibt den erzĂ€hlten Figuren eine Tiefe, die sie bislang nicht hatten.

04 O-TON JANKA

Er ist eben nicht jemand, der Mythos konserviert, sondern der vom Mythos geprÀgt immer die eigene Zeit bedenkt. Das mag jetzt als Anachronismus erscheinen, aber genau das ist es: dass Ovid der erste Dichter ist, der tatsÀchlich psychologisch nachfragt, was sich aus mythologischen Konstellationen ergibt.

SPRECHER

Das ist der entscheidende Punkt. Genau darum ist Ovid noch immer aktuell. Genau deshalb funktionieren die Metamorphosen nicht nur als literarisches Kunstwerk, und genau darum spielt es fĂŒr viele Ovidfans auch absolut keine Rolle, in welcher Sprache sie die Geschichten lesen oder welches Medium sie ihnen erzĂ€hlt.

SPRECHERIN

Ovid fasziniert uns noch immer, weil er das Verwandlungsmotiv nutzt, um menschliche Erfahrungen und Leidenschaften zu erkunden. Er lĂ€sst sein mythologisches Personal archetypische GefĂŒhle und Situationen durchleben, die wir alle kennen und nachfĂŒhlen können. Und er stellt Fragen, die jeden Menschen angehen: Was machen Liebe und Hass mit uns? Was stellen WillkĂŒr, KrĂ€nkung und Missbrauch mit uns an? Wie verĂ€ndern uns SchicksalsschlĂ€ge und starke Emotionen? Und wie gehen wir damit um, dass nichts bleibt, wie es ist?

SPRECHER

Im Zentrum der mythologisch eingekleideten Menschenforschung steht dabei stets ĂŒbergroß das Wesen und Wirken der Liebe, sagt Markus Janka.

O5 O-TON Janka

Immer und immer wieder Eros, immer und immer wieder Amor. Und zwar immer und immer wieder in den unterschiedlichsten Konstellationen, so dass auch schon der große Kommentator Franz Bömer gesagt hat, dass man die Metamorphosen als ein einziges Carmen amatorium, als ein episches Gedicht mit dem Thema Eros, mit dem Thema Amor bezeichnen kann.

MUSIK 6  Billie Eilish: Everything I Wanted 

SPRECHER

Die Liebe in allen Facetten! Das ist Ovid! Liebeslieder und Liebeslehren grĂŒnden seinen Ruhm, tenerorum lusor amorum, einen Spielmann und Gaukler zĂ€rtlicher Launen der Liebe, nennt er sich selbst. Die Metamorphosen bleiben dieser Berufung treu, das Love-Lab der Verwandlungen wimmelt nur so von Paaren, die das Verwirrspiel menschlicher und göttlicher Liebesverstricktheit spiegeln.

SPRECHERIN

Philemon und Baucis, Orpheus und Eurydike, Ceyx und Alkyone, Pyramus und Thisbe – der Musterkatalog ist reich bestĂŒckt. Nahezu jede gelungene oder gescheiterte Paarung, derer die Liebe fĂ€hig ist, findet ihre Gestalt und Geschichte. Ehelust und Ehefrust, Begehren und Abscheu, Hetero- und HomosexualitĂ€t, Inzest und Gewalt, GlĂŒckseligkeit und Schmerz, Geilheit und Missbrauch – was immer Venus, Eros und Amor im Guten oder Schlechten anrichten – Ovid hat alles auf dem Schirm.

MUSIK 7 Ensemble Modern: A Pig With Wings 

SPRECHER

Die radikale Neufassung der mythologischen Tradition verĂ€ndert auch die TrĂ€ger des klassischen Epos. Allem Heldengetöse, allem, was allzu waffenstolz prahlt und scheppert, lĂ€sst Ovid genĂŒsslich die Luft aus. Die beste Gelegenheit bietet dazu die sehr eigenwillige, bisweilen burleske Schilderung des trojanischen Kriegs.

06 O-TON JANKA

Da wird dann alles gespiegelt, was in der Ilias dargestellt ist, aber immer subjektiv verdreht. Was eben frĂŒher als Makel angehĂ€ngt wurde, ist ein unglaublich modernes Element, das uns heute anspricht, nĂ€mlich die subjektive Brechung dieser GegenstĂ€nde, die nicht unvermittelte Darstellung von Kampf und Krieg und Heldentod.

MUSIK 8  John Debney: Dying Hero 

SPRECHERIN

Besonders arg erwischt es Achill. den zornigen Erzheroen des homerischen Trojaspektakels. Bei Ovid ist er eine dumpfe Kampfmaschine, ein Aufschneider und blutrĂŒnstiger WĂŒterich. Einer, der nach getanem Gemetzel gern mit seinen Kriegstaten prahlt. "Man kennt das", wirft Ovids ErzĂ€hler ein. "WorĂŒber wĂŒsste ein Achill sonst zu sprechen, und was gĂ€be es sonst schon groß ĂŒber Achill zu sagen?"

MUSIK 9 Billie Eilish: No Time To Die 

SPRECHER

Den finalen Schlag erhÀlt der Superkrieger, nachdem er im Kampf gefallen ist und sein Leib verbrannt wird. Statt feierlicher Worte wirft ihm Ovid nur einen spöttischen Kommentar hinterher:

07 O-TON JANKA

Verheizt hatte ihn der Gott, der ihn vorher bewaffnete. Er war in Flammen aufgegangen durch genau den Gott, nÀmlich Vulkan, den Gott des Feuers und den Schmiedegott, der ihm zuvor die Waffen gegeben hatte.

SPRECHER

Aber einfach nur verheizen reicht nicht, Ovids Heroenkehraus setzt noch eins drauf:

ZITATOR

Schon ist er Asche. Was vom ĂŒbergroßen Helden ĂŒbrigbleibt, reicht kaum, um eine Urne zu fĂŒllen.

08 O-TON JANKA

Also das ist Ovid. Er kann das Große sehr klein machen, und das Kleine, RandstĂ€ndige kann er großartig entfalten, auch mit einem ganz tiefen psychologischen Einblick und Scharfblick.

SPRECHER

VerblĂŒffend modern ist nicht nur die subjektive Umgestaltung der Tradition, verblĂŒffend modern ist auch Ovids souverĂ€nes Spiel mit den Instanzen und Mitteln des ErzĂ€hlens.

SPRECHER

Der Trick besteht zunÀchst darin, eine Vielzahl unterschiedlich langer Klein- und Kleinstgeschichten so kunstvoll miteinander zu verweben, dass sie wie aus einem Guss wirken.

SPRECHERIN

Zum Toolset des raffinierten VerknĂŒpfungsmanagements gehört aber vor allem die Vielstimmigkeit der Metamorphosen. Statt eines HaupterzĂ€hlers schaltet Ovid etwa 40 Binnen-, Neben- und UntererzĂ€hler ein, die sich unentwegt gegenseitig kommentieren, ergĂ€nzen und widersprechen. 

09 O-TON JANKA

Das ist etwas ganz Wesentliches fĂŒr Ovid: Dass es immer auch die Gegenstimme, immer auch die andere Stimme gibt. Das fĂŒhrt er weiter und modernisiert es, radikalisiert es. Dass wir also teilweise UntererzĂ€hlungen bis zum vierten und fĂŒnften Grad haben, dass jeweils immer die eine Person die Geschichte der anderen erzĂ€hlt.

SPRECHER

Das postmodern anmutende Spiel verschachtelter ErzĂ€hlebenen und subjektiver Sichtweisen setzt sich auf der Figurenebene fort. Die Akteure schwingen Reden, streiten und diskutieren; Götter kommentieren von oben herab, Filous und Philosophen rĂ€sonieren ĂŒber den Lauf der Dinge. Niemand hat den ganzen Überblick, niemand das alleinige Wort, alle weben gemeinsam am epischen Teppich der Metamorphosen.

SPRECHERIN

Deshalb hĂ€lt Ovid nicht nur Philologen bei Laune. Und deshalb haben wir Ovid nicht lĂ€ngst ausgemustert und können seine Geschichten selbst in der Übersetzung und episodisch genießen.

SPRECHER

Ovid klingt seltsam vertraut. Seine Art zu schreiben nimmt vieles vorweg, was unsere Erwartungen an ein reflektiertes, vielstimmiges, perspektivenreiches und psychologisch grundiertes ErzĂ€hlen erfĂŒllt. Das ĂŒberbrĂŒckt den zeitlichen Graben und macht die Metamorphosen auch fĂŒr moderne Lese- oder Mediengewohnheiten zugĂ€nglich. 

SPRECHERIN

Das alleine erklĂ€rt aber noch immer nicht, warum sich gerade die visuellen KĂŒnste so anhaltend und intensiv durch die Metamorphosen anregen lassen. Und es erklĂ€rt schon gar nicht, weshalb Video- und PerformancekĂŒnstler diese Tradition fortsetzen. FĂŒr Markus Janka hat neben der psychologischen Vertiefung noch eine weitere Besonderheit den Metamorphosen zu ihrer beispiellos langen Wirkungsgeschichte verholfen:

010 O-TON JANKA

FĂŒr den gewaltigen Erfolg, den das Epos bis heute hat, ist seine Bildkraft das Mitentscheidende. Das was ein neuer Forscher Kino im Kopf genannt hat. Es gibt wohl kaum einen Dichter in der Antike, der so plastisch seriell erzĂ€hlen kann.

SPRECHER

Was Ovid auszeichnet, ist eine stark visuelle, ausgesprochen szenische ErzĂ€hlweise, die das Geschehen wie eine Textkamera abtastet und aus wechselnden Winkeln erfasst. Ein Musterbeispiel fĂŒr diese Strategie, die wie eine erstaunliche Vorwegnahme filmischen ErzĂ€hlens wirkt, ist die Geschichte von Daphne und Apoll.

MUSIK 10  Flore Laurentienne: Île-aux-Oies 

SPRECHERIN

Die Kurzfassung geht so: Apoll krĂ€nkt Amor, der aus Rache zwei Pfeile abschießt. Ein goldener Pfeil trifft Apoll, der sich sofort unsterblich in die Nymphe Daphne verliebt. Ein zweiter, bleierner Pfeil trifft Daphne, löst aber keine Liebe, sondern unbezwingliche Abscheu vor Apoll aus. Es kommt, wie es kommen muss. Apoll jagt Daphne, die vor seiner Liebesbrunst flieht. Als sie erschöpft aufgibt, fleht sie ihren Vater, den Flussgott Peneios, an, sie vor der drohenden Vergewaltigung durch die Verwandlung ihres Körpers zu retten.

ZITATOR

Kaum ist die Bitte beendet, lÀhmt lastende Taubheit die Glieder,

Zarte BrĂŒste umgĂŒrtet ein feiner Streifen von Rinde,

Laubwerk sind ihre Haare und Äste die Arme geworden,

und ihr Fuß, so geschwind, bleibt in starrem Wurzelwerk stecken,

ihr Gesicht hat ein Wipfel ersetzt ...

SPRECHER

Den Moment der Verwandlung, das Erstarren im Lauf, das Verholzen der Glieder, das Austreiben der BlĂ€tter und Einwurzeln der FĂŒĂŸe, Apolls hilfloses Entsetzen haben Maler und vor allem Bildhauer immer wieder auffallend Ă€hnlich gestaltet. Kein Wunder, meint Markus Janka:

011 O-TON JANKA

Dieses visuelle ErzĂ€hlen spricht Maler, BildkĂŒnstler unmittelbar an. Der Weg zum Baum wird durch die verschiedenen Körperteile, als wenn eine Kamera das aufnimmt, verfolgt. Aber diese Form der poetischen Verdeutlichung dieser KlĂ€rung, diese VerklĂ€rung im Wortsinn, dass etwas ganz klar und deutlich vor Augen gefĂŒhrt wird, das ist eine Eigenheit seiner ErzĂ€hlkraft.

MUSIK 11  Flore Laurentienne: La nuit bleue 

SPRECHER

Letztlich ist gerade dieser eine Moment der Verwandlung das Gravitationszentrum des gesamten Werks. Am Ende, im letzten der 15 BĂŒcher, legt Ovid dem Philosophen Pythagoras eine Rede in den Mund, die den gedanklichen Kern prĂ€gnant verdichtet:

ZITATOR

Omnia mutantur nihil interit – Alles wird verwandelt, nichts vergeht!

SPRECHERIN

Das Gesetz des Wandels kennt keine Ausnahme. Es gilt universal, nichts und niemand entkommt. Nicht einmal Kaiser Augustus, der StabilitĂ€t, ewigen Frieden und ein Imperium sine fine, ein Reich ohne Ende und Grenzen verkĂŒndet.

SPRECHER

"Von wegen", werfen die Metamorphosen unĂŒberhörbar ein. Wo der Wandel regiert, ist Dauer ein leeres Versprechen. Was aber bleibt? Was hat Bestand, wenn sich fortwĂ€hrend alles verĂ€ndert und sogar Kaiser Augustus seine irdische Herrschaft einbĂŒĂŸt? Ovid bleibt die Antwort nicht schuldig.

ZITATOR

Nun ist mein Werk vollendet, das kein Jupiterzorn und kein Feuer, keine Waffengewalt, kein Zahn der Zeit jemals auslöscht. Mein Name wird unaustilgbar, ich werde durch ewigen Nachruhm (..) leben.

SPRECHERIN

VIVAM! Ich werde leben! Das ist der selbstbewusste, ĂŒber alle Daseinsschrecken und MachtwillkĂŒr hinausweisende Trost der Metamorphosen. Es ist die Antwort des KĂŒnstlers auf die Frage, was bleibt. Und es ist zugleich die triumphalste, die wichtigste aller Metamorphosen: Ovid hat sich in seine Dichtung verwandelt und ist in dieser Gestalt unsterblich geworden.

ATMO Applaus

MUSIK  Tobi Morare: Ghetto Beat 

SPRECHER

Hochverehrtes Publikum! Unser StĂŒck ist zu Ende. Ovid aber lebt. Ovid fĂ€ngt immer erst an. Daher gebĂŒhrt ihm, bevor der Vorhang fĂ€llt, ein allerletztes Wort in eigener Sache. Es ist die Inschrift, die er sich als Grabspruch schrieb fĂŒr ein Grab, das wir nicht kennen:

ZITATOR

Hier liege ich, Naso, der Dichter, ein Spielmann der zÀrtlichen Liebe. Ich bin durch meine Kunst umgekommen. Falls aber du, der du vorbeigehst, jemals geliebt hast, sag einfach leichthin: Mögen Nasos Gebeine sanft ruhen.