radioWissen - Bayern 2   /     Der Spiegel - Reflektor unserer Sehnsüchte und Irrtümer

Description

Ein Blick in den Spiegel macht sichtbar, was sonst unsichtbar bliebe. Schon immer sahen die Menschen mehr in ihm als einen einfachen Alltagsgegenstand. Sagt er uns die Wahrheit oder täuscht er uns? Ein Alltagsgegenstand voller Facetten. Von Silke Wolfrum

Subtitle
Duration
00:22:36
Publishing date
2024-04-16 10:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/der-spiegel-reflektor-unserer-sehnsuechte-und-irrtuemer/2092312
Contributors
  Silke Wolfrum
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2092312/c/feed/der-spiegel-reflektor-unserer-sehnsuechte-und-irrtuemer.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Ein Blick in den Spiegel macht sichtbar, was sonst unsichtbar bliebe. Schon immer sahen die Menschen mehr in ihm als einen einfachen Alltagsgegenstand. Sagt er uns die Wahrheit oder täuscht er uns? Ein Alltagsgegenstand voller Facetten. Von Silke Wolfrum

Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Susanne Schroeder, Andreas Dirscherl
Technik: Matthieu Bar
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Dr. Fabian Estermann, Autor des Buches „Der Spiegel als Instrument zum Nachweis von Selbstbewusstsein bei Tieren. Eine Kulturgeschichte der Spiegelherstellung und des Spiegelexperiments.
Prof. Dr. Heidrun Alzheimer, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie, Bamberg; Nina-Alisa Kollakowski, promoviert zur Selbstentwicklung im Kleinkindalter an der LMU München.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER:

Vor rund 9.000 Jahren verlassen Männer die Großsiedlung Catalhöyük im heutigen Zentralanatolien und machen sich auf den beschwerlichen Weg zu zwei Vulkanen, rund 190 Kilometer entfernt. Dort finden sie Obsidian, schwarzes vulkanisches Gesteinsglas, laden es auf und schaffen es den langen Weg zurück in ihre Siedlung. Aus dem kostbaren Gestein stellen sie Werkzeuge und Pfeilspitzen her, lebenswichtig für die Gemeinschaft. Doch auch für etwas anderes lohnt sich der große Aufwand: Spiegel.

O-TON 01 Fabian Estermann

Also bis heute ist die genaue Bedeutung und Funktion der Spiegel nicht ganz klar. Die Spiegel selbst wurden lediglich in Gräbern bei Ausgrabungen entdeckt, also das heißt nicht in den Überresten der Siedlungen selbst, im Haushalt, sondern wirklich nur als Grabbeilage. Und doch geht man davon aus, dass sie nicht nur für das Grab erschaffen worden sind, sondern tatsächlich auch schon eine Funktion zu Lebzeiten erfüllten. Durch Experimente konnte man immerhin ausschließen, dass sie sich nicht zu Lichtsignalgeber oder zum Feuermachen eigneten. Und da aber die damaligen Siedler und Siedlerinnen dort bereits über eine ausgeprägte Körperkultur verfügten, geht man davon aus, dass dann auch die Spiegel dazu dienten, dass sich die Leute selber betrachten konnten, beispielsweise beim Auftragen von Rouge, um sich so wahrzunehmen, wie es dann eben doch eine dritte Person tut.

MUSIK 3: Crystal Memories - 52 Sek

SPRECHERIN:

Uralt scheint das Bedürfnis des Menschen, sich im Spiegel zu sehen und uralt scheint auch der Respekt vor diesem facettenreichen Gegenstand. Spiegel als Grabbeigabe sind keine Seltenheit, auch in etruskischen Gräbern aus dem vorchristlichen Jahrtausend fand man welche. Zeugen sie vom Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod, in dem man erneut den Spiegel braucht, um sich schön zu machen. Oder werden dem Spiegel noch andere Fähigkeiten zugeschrieben, als bloß zu reflektieren? Übersinnliche Fähigkeiten oder magische? Wobei auch die reine Reflexion es in sich hat, denn sich selbst im Spiegel zu erkennen, ist eine Leistung, die nicht jeder Mensch vollbringen kann.

MUSIK 4:  Up the stairs/ Down the hall – 52 Sek

SPRECHER:

Narziss war ein wunderschöner Jüngling, in den sich Männer wie Frauen verliebten, doch er erwiderte niemandes Liebe. Eines Tages kam er an eine Quelle, um dort zu trinken. Er erblickte sich und verliebte sich in sein Spiegelbild. Doch da seine Gefühle nicht erwidert wurden, er sich aber auch nicht von dem Bilde losreißen konnte, siechte er dahin und starb.

MUSIK kurz hoch

SPRECHERIN:

Narzissten sind für uns heute selbstsüchtige Egoisten, die sich maßlos überschätzen. In den Erzählungen des antiken römischen Dichters Ovid besteht Narziss’ Tragik jedoch gar nicht in seiner Selbstverliebtheit, vielmehr ist Narziss nicht in der Lage sich selbst auf der spiegelnden Wasseroberfläche zu erkennen. 

O-Ton 02 Fabian Estermann

Er merkt nicht, dass er es selbst ist, der dort in diesen Teich guckt, sondern erblickt für ihn eine andere Person, in die er sich dann verliebt und dann vor Ort sozusagen dann zugrunde geht, weil die Liebe naturgemäß nicht erwidert wird, der Gegenüber bleibt sozusagen stumm und lässt sich nicht auf ihn ein. Und da haben wir es mit einer frühzeitigen Thematisierung dessen zu tun, dass die Fähigkeit zur Selbsterkennung im Spiegel keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer auch ein Prozess, der auch fehl laufen kann.

SPRECHERIN:

Dr. Fabian Estermann hat sich für sein Buch „Der Spiegel als Instrument zum Nachweis von Selbstbewusstsein bei Tieren“ mit der Kulturgeschichte der Spiegelherstellung und dem so genannten Markierungstest befasst. Dieser Test wurde erstmals 1970 von dem amerikanischen Psychologen Gordon Gallup an Schimpansen durchgeführt und erbrachte für Gallup den Beweis: Schimpansen verfügen über ein Selbstkonzept, sie nehmen sich als Individuum wahr.

O-TON 03 Fabian Estermann

Im Kern besteht der darin, dass dem Tier unbemerkt eine Farbmarkierung in einem Bereich aufgetragen wird, meistens im Gesichtsbereich, die das Tier ohne Spiegel nicht sehen kann. Und anschließend wird dann dem Tier ein Spiegel vorgehalten. Und wenn das Tier die Farbmarkierung dann an sich berührt, nach Sichtung des eigenen Spiegelbildes, gilt der Spiegeltest als bestanden und wird als Indiz dafür genommen, dass das Tier in der Lage ist, sich selber im Spiegel zu erkennen.

SPRECHERIN:

Das gleiche Verfahren wurde wenig später auch von Beulah Amsterdam von der University of North Carolina an Kindern durchgeführt. Ähnlich wie bei den Affen, ist das Sich-Erkennen ein Prozess, der in verschiedene Reaktions-Phasen unterteilt werden kann, erläutert Nina-Alisa Kollakowski von der LMU München.

O-TON 04 Alisa Kollakowski

Was sich da gezeigt hat, ist, dass die Kinder, wenn sie noch jung sind, also wenn sie zwölf Monate alt sind, dann zeigen Sie eher so spielerisches Verhalten vor dem Spiegel. Also es fühlt sich für die Kinder an, als wäre da ein anderes Kind im Spiegel zu sehen. Und sie versuchen dann zum Beispiel auch mal das Kind zu küssen auf den Spiegel, so, was Kinder vielleicht manchmal so in der Interaktion machen oder fangen an zu lächeln und umso älter die Kinder dann werden, so ab 14 Monaten, sieht man das, fangen die Kindern an ein bisschen ängstlich zu sein und sich eher zurückzuziehen und sind so ein bisschen erschrocken vor dem, was sie im Spiegel sehen. Und dann so mit 20 Monaten ungefähr, also kurz vor dem zweiten Geburtstag, sieht man dann, dass die Kinder anfangen, ihr eigenes Gesicht anzufassen und eben diesen roten Punkt, den sie auf der Nase haben versuchen, wegzuwischen.

Musik 5: Bella - 51 Sek

SPRECHER:

Was passiert in dem Moment, in dem Kinder erkennen, dass das Gegenüber eben kein anderer Mensch ist? Was ängstigt sie? Wieso weichen sie vor dem Spiegel zurück? Für den Psychologen Philippe Rochat und den Philosophen Dan Zahavi ist das eigene Erkennen im Spiegel eine „zutiefst entfemdende Selbsterfahrung“. In ihrem Aufsatz „Der unheimliche Spiegel“ berufen sie sich auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty und stellen fest: Nur im Spiegel sieht sich der Mensch auf einmal so, wie auch andere ihn sehen. Ohne den Spiegel haben wir niemals unser Gesicht im Blick, niemals unseren Körper als Ganzes. Und so bringt der Spiegel uns gleichzeitig Selbsterkenntnis als auch Selbstentfremdung, denn unser Bild von uns verliert seine Subjektivität, wir blicken mit Hilfe des Spiegels scheinbar „objektiv“ auf uns selbst, als wären wir selbst ein anderer. Und das kann zunächst erschrecken.

Musik 6: 1.1_5-illusionofchoice.mp3 - 33 Sek

SPRECHERIN:

Der Spiegel als Mittel der Erkenntnis – dieses Bild zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählungen vieler Jahrhunderte. Jemandem den Spiegel vorhalten, heißt nichts anderes, als ihn zu Selbsterkenntnis zu führen. Und auch im übertragenen Sinn, wird der Spiegel häufig als Garant für Wahrheit und Weisheit genannt, so Prof. Dr. Heidrun Alzheimer vom Lehrstuhl für Europäische Ethnologie in Bamberg:

O-TON 05 Heidrun Alzheimer

Beichtspiegel ist eine Metapher für die Wahrheit, die einem im Spiegel entgegengehalten wird. Man nutzt Beichtspiegel dazu, dass man mögliche Verfehlungen sich nochmal vergegenwärtigt, also Gläubige, die zur Beichte gehen wollen, betreiben mit dem Beichtspiegel eine Gewissenserforschung. Und genauso als Metapher finden wir den Spiegel auch wieder im Begriff des Fürsten-Spiegels. Das waren also eigene Werke, Bücher, in denen künftige Könige und Fürsten an ihre Tugenden und Pflichten gemahnt wurden. Und durch diese Lektüre sollten sie lernen, wie gute Regierung funktioniert.

Musik 7: Holidays at Ravenwood - 1:12 Min

SPRECHERIN:

Sokrates soll seinen Schülern empfohlen haben, regelmäßig in den Spiegel zu blicken, um über Schönheit und Vergänglichkeit nachzudenken und den eigenen Charakter zu bilden. Auch im Märchen sagen Spiegel oft die Wahrheit, auch wenn man sie nicht hören will. 

MUSIK kurz hoch

ZITATOR:

Frau Königin, ihr seid die Schönste hier. Aber Schneewittchen über den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr!

SPRECHER:

In vielen Geschichten können Spiegel in die Zukunft blicken oder in die Vergangenheit, ganz generell können sie Dinge zeigen, die man ohne sie nicht sehen würde und Welten eröffnen, die man ohne sie nicht betreten könnte. So geht Alice durch einen Spiegel ins Wunderland und im Film von Jean Cocteau betritt Orpheus durch einen Spiegel das Totenreich. 

MUSIK kurz hoch

Spiegel können aber auch ganz konkret und praktisch, als optisches Hilfsmittel, das Blickfeld weiten, wie im Mythos der Medusa, die Perseus letztlich dank eines Spiegels besiegt.

O-TON 06 Fabian Estermann

Wie wir wissen, bewirkt der Blick der Medusa, dass die Person, die sie anschaut, versteinert. Und um genau dieser Gefahr zu entgehen, bedient sich Perseus eben einer List, nimmt die Medusa über sein Schild wahr, das heißt, das Schild fungiert hier als Spiegelfläche, die es ihm ermöglicht, seine Umgebung zu mustern, die Medusa auszumachen und sie daraufhin dann zu enthaupten, ohne Gefahr zu laufen, dass er beim Anblick versteinern würde.

SPRECHERIN:

Der Spiegel ermöglicht uns, Dinge zu sehen, die wir ohne ihn, nicht sehen könnten. Als technisch ausgeklügeltes Hilfsmittel erweitert er unseren Blick sogar ins Unendliche. Den Anfang machte Newtons berühmtes Spiegelteleskop aus dem Jahr 1668. Heute steht das größte Teleskop der Welt mit einem Spiegeldurchmesser von 39 Metern in der chilenischen Atacamawüste. Mit Hilfe dieses „Extremely Large Telescope“ wollen europäische Forscher herausfinden, wie Planeten entstehen und ob es außerirdisches Leben gibt. Doch auch der einfache Spiegel dient Menschen schon lang dazu mehr zu sehen als mit dem bloßen Auge möglich:

O-TON 07 Heidrun Alzheimer

Wir kennen das Volkacher Stadtbuch aus dem Jahr 1504, und da sehen wir Marktstände, an denen Spiegel feilgeboten werden. Es waren runde Gebilde, die eingefasst waren von einem wulstartigen Polster. Mit diesem Polster waren sie zum einen bruchsicher eingepackt, und zum anderen aber lagen sie damit auch gut in der Hand. Und Wallfahrer haben zur Reichskleinodien-Schau solche Spiegel mitgenommen, weil,

das muss man sich so vorstellen, dass das ein riesiger Andrang von tausenden von Leuten vor den jeweiligen Kirchen war. Die Kurfürsten haben die Reichskleinodien gezeigt und um einen Blick darauf zu erhaschen, hat man Spiegel dabeigehabt und hat dann quasi den Segen, der von diesen Objekten ausging, in dem Spiegel aufgefangen.

MUSIK 8: Nostalgia – Impressionism - 43 Sek

SPRECHER:

Zur Selbst-Betrachtung waren Spiegel im Christentum lange jedoch verpönt, denn Eitelkeit galt neben Geiz und Neid als eine der sieben Todsünden, lenkte sie doch die Aufmerksamkeit von Gott ab und verschwendete damit kostbare Lebenszeit. Memento Mori, bedenke dass du sterblich bist, war das Motto des Christentums und manche Darstellungen gerade des Barock zeigen eine schöne junge Frau sich im Spiegel betrachtend, um sie herum Symbole der Vergänglichkeit. Dennoch benutzten auch Christen Spiegel, um sich selbst zu sehen, sogar die besonders frommen.

O-TON 08 Heidrun Alzheimer

Wir kennen aus barocken Frauenklöstern sogenannte Nonnenspiegel. Das war ein Spiegel, auf die man ein Medaillon mit Heiligen aufgebracht hat und zusätzlich außenherum Verzierungen aus Leonischen Drahtwaren, das waren Gold- und Silberfäden. Damit wirken diese Spiegel auf den ersten Blick wie Heiligenbilder, die man sich legitimerweise als Nonne in seine Klosterzelle gehängt hat, für Andachtsübungen, aber in den Zwischenräumen zwischen dem Heiligenbild und diesen Ornamenten außenherum konnte man sich ja doch noch erkennen. Und so haben die Nonnen ihren Wunsch kaschiert, sich im Spiegel zu betrachten und konnten das Verbot, in den Spiegel zu schauen, durch den Vorwand der Heiligenverehrung geschickt und ungestraft umgehen.

MUSIK 9: Me so selfie – 30 Sek

SPRECHER:

Mancher blickt auch heute nur verschämt und ungern in den Spiegel, viele jedoch mit der größten Selbstverständlichkeit: Sich selbst in Szene zu setzen, sein äußeres Erscheinungsbild zu optimieren scheint eine Grundvoraussetzung für Erfolg zu sein und ist gesellschaftlich völlig anerkannt. Wohl kaum eine Generation bespiegelt sich so viel wie die aktuelle – Stichwort Selfie. (Musik aus) 

Die Umdeutung von christlichen Todsünden zu erfolgsversprechenden Charaktereigenschaften ist jedoch keineswegs ein Phänomen unserer Zeit, sie begann vielmehr schon in der Renaissance und war eine Voraussetzung für die Industrialisierung, wie Heidrun Alzheimer erläutert.

O-TON 09 Heidrun Alzheimer

Also die Selbstoptimierung und der gewisse Stolz auf das, was man geleistet hat, das hätte man früher als eine Untugend oder vielleicht sogar sündhaft bezeichnet. Und seit der Renaissance und vor allem dann in der Neuzeit ist es zu einer positiven Eigenschaft umgemünzt worden.

Geiz wird zum Beispiel als Sparsamkeit uminterpretiert, Habgier als die Triebfeder für das Anhäufen von Kapital. Und durch dieses Kapital ist dann später erst die Industrialisierung überhaupt möglich geworden. Und der Neid fördert den Konsum, ist also auch positiv umgemünzt worden. Gefährliche Leidenschaften wurden zu Tugenden umgemünzt, und seit der Neuzeit versucht man, diese unvermeidlichen Neigungen so zu kanalisieren, dass sie den Wohlstand und das Glück der Allgemeinheit stärken oder vergrößern. 

SPRECHERIN: 

In der Aufklärung verliert der Spiegel dann auch all seine magischen Komponenten, wird aber zu einem hochgeschätzten und äußerst wichtigen Alltagsgegenstand. Letztlich geht es auch hier um Selbstoptimierung.

O-TON 10 Heidrun Alzheimer

Ein berühmtes Beispiel dafür ist Johann Krünitz’ ökonomisch technologische Enzyklopädie. Darin heißt es, ohne den Spiegel würden die Menschen doch nur sehr unvollständig und mit vielen Schwierigkeiten ihre Toilette machen können. Und weiter: Er ist hierbei ein zwar stummer, aber doch sehr sicherer Ratgeber. Er ist ein Wahrsager, der nicht Schmeichler der Matronen und Greise. Er gilt als Mittel, den Körper reinlich zu erblicken, die Haare zu machen und seinen Anzug gehörig zu ordnen, überhaupt alle Teile zu betrachten, wohin das Auge allein nicht reichen kann, um ihre Mängel zu entdecken. Er ist das notwendigste Möbel vom Palast bis zur Hütte geworden.

MUSIK 10: 1.1_5-illusionofchoice.mp3 – siehe vorn – 25 Sek

SPRECHERIN:

Je bedeutender und wichtiger es wurde, sich zu spiegeln, desto besser wurden auch die Spiegel selbst. Zunächst betrachtete man sich in polierten Kupferplatten, später wurde Kupfer durch Bronze ersetzt. 

Im ersten Jahrhundert nach Christi stellte man dann die ersten Glasspiegel her. Diese wurden von Hand geblasen, wie Fabian Estermann erklärt:

O-TON 11 Fabian Estermann

Bereits zu dieser Zeit gab es dann schon die Glasbläserei und in diesen Glasballon wurde dann flüssiges Blei gegeben, was sich dann auf der Innenseite der Glaskugel dann sozusagen absetzte und damit diese benötigte Spiegelschicht bildete. Der Glasballon wurde dann anschließend zerteilt und diese Kleinteile wurden dann gerahmt, sodass sie besser handhabbar waren. Der Rahmen bestand geradezu Anfangszeiten, auch meistens aus Blei. Bedingt durch das Herstellungsverfahren waren diese Spiegel allerdings vergleichsweise klein, also sie hatten einen Durchmesser vielleicht von vier Zentimetern, und immer konvex, das heißt nach außen hin gewölbt, womit auch das Spiegelbild selber verzerrt war und sicherlich eben auch ein kleiner Nachteil gegenüber den Metallspiegeln, die doch eine ebene Fläche aufwiesen.

SPRECHERIN:

Deshalb existierten Metall- und Glasspiegel auch bis ins 17. Jahrhundert nebeneinander. Erst das so genannte Schmelz-Gussverfahren aus Frankreich erlaubte es dann richtig große Glasflächen herzustellen, die dann mit Zinn verspiegelt wurden. Diese großen Spiegelflächen machten sich die Mächtigen der Zeit schnell zu Nutze: 

Musik 11: Entrée pour la Maison de France – 19 Sek

Prunkvolle Spiegelsäle wie in Versailles, auf Herrenchiemsee oder in der Würzburger Residenz sollten Besucher beeindrucken und Macht demonstrieren. Neben der Repräsentation dienten Spiegel jetzt aber auch der bloßen Unterhaltung.

O-TON 12 Heidrun Alzheimer

Beim Adel waren außerdem verspiegelte Irrgärten noch sehr beliebt, so zur Unterhaltung, wenn man eine Gesellschaft gegeben hat, und dafür wurden extra sogenannte Spiegellabyrinthe angelegt und in ihnen täuschen großflächige Spiegel unendliche Korridore vor. Oder sie stellen auch Barrieren dar. Also man ist dann auf ein Spiegelbild zugelaufen in der Meinung, da geht es jetzt gleich weiter, da kommt man rechts oder links um die Ecke, und in Wirklichkeit war es eine Barriere, und man musste wieder umkehren. Für die einfachen Leute hat es ähnliche Einrichtungen gegeben, nämlich sogenannte Zerr-Spiegel. Gegen Eintritt konnte man in kleine Lachkabinette gehen und darin hat man sich dann in seinem Spiegelbild grotesk verzerrt gesehen, also extrem dick oder spindeldürr oder ganz stark verbogen.

Musik 12: Bella –   30 Sek

SPRECHER:

So wie der Spiegel also einerseits als Garant der Wahrheit und weiser Ratgeber wahrgenommen wird, so kann er auch genau das Gegenteil verkörpern: Spiegel können die Wahrheit verzerren, Durchgänge vortäuschen, die es sie gar nicht gibt, Größe und Weite vorgeben, wo in Wirklichkeit Enge herrscht. Und genauso können sie auch statt Wahrheit Unglück bringen oder auch zutiefst verunsichern. 

O-TON 13 Heidrun Alzheimer

Auch ner abergläubischen Vorstellungen entspricht, dass man keinesfalls in einen zerbrochenen Spiegel reinschauen soll, also in einen Spiegelscherbe. Angeblich soll das Unglück bringen, der Mensch zerbricht selber an einer Krankheit oder an einem Unfall. Und früher gab es auch die pädagogische Vorschrift, dass man kleine Kinder bis zu einem Jahr niemals in einen Spiegel schauen lassen sollte, weil sonst bekämen sie Albträume, oder sie würden besonders eitle Menschen werden. 

MUSIK 13: Nr. 1: The brides (orig.) – 1:06 Min

SPRECHER:

Ist es nicht auch merkwürdig, dass wir im Spiegel etwas sehen, das einerseits existiert, sich bewegt, da ist und andererseits nicht da ist, nicht zu greifen ist? Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb man dem Spiegelbild lange eine eigene Existenz zusprach, es als etwas Geisterhaftes, aber irgendwie doch Wirkliches ansah. Häufig wird das Spiegelbild auch als ‚Seele des Menschen‘ bezeichnet, ist also gerade nicht bloßer Schein, sondern etwas Höheres, vielleicht auch Reineres als der Mensch als Ganzes. Vampire haben dementsprechend kein Spiegelbild und verliert ein Mensch sein Spiegelbild wie z.B. in Erzählungen des Romantikers E.T.A. Hoffmann, dann hat er sich selbst verloren.

MUSIK 14: Bella – siehe vorn – 31 Sek

SPRECHERIN:

Je länger man sich mit dem Spiegel befasst, desto facettenreicher und widersprüchlicher erscheint er.

Doch, ob Wahrsager, Wegbereiter, Lügner oder Unglücks-Bringer – letztlich ist das, was wir im Spiegel sehen, doch immer wieder nur ein Abbild unserer selbst, unserer eigenen Sehnsüchte, Vorstellungen und Irrtümer.