radioWissen - Bayern 2   /     Wenn das blaue Band flattert - Frühling in der Literatur

Description

?Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte?? , schreibt Eduard Mörike im frühen 19. Jahrhundert. Hier umwirbt der Frühling alle Sinne des lyrischen Ich ? sehen, riechen hören - und versetzt es in ekstatische Vorfreude. Und auch Johann Wolfgang von Goethe schickt in seinem ?Osterspaziergang? den erschöpften Wissenschaftler Faust in die freie Natur. Von Astrid Mayerle

Subtitle
Duration
00:22:00
Publishing date
2024-04-18 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/wenn-das-blaue-band-flattert-fruehling-in-der-literatur/2092380
Contributors
  Astrid Mayerle
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2092380/c/feed/wenn-das-blaue-band-flattert-fruehling-in-der-literatur.mp3
audio/mpeg

Shownotes

?Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte?? , schreibt Eduard Mörike im frühen 19. Jahrhundert. Hier umwirbt der Frühling alle Sinne des lyrischen Ich ? sehen, riechen hören - und versetzt es in ekstatische Vorfreude. Und auch Johann Wolfgang von Goethe schickt in seinem ?Osterspaziergang? den erschöpften Wissenschaftler Faust in die freie Natur. Von Astrid Mayerle

Credits
Autorin dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Annette Wunsch, Hemma Michel, Friedrich Schloffer
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu

Im Interview:
Kerstin Preiwuß, Lyrikerin
Prof. Dr Ulrich Kittstein, Literaturwissenschaftler

Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Linktipps:

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Zitatorin

Frühling lässt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte;

Süße, wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land.

 1 Oton Kittstein

Aus dem blauen Himmel wird eben etwas Bewegtes, etwas Dynamisches. Der Frühling lässt sein „Blaues Band wieder flattern durch die Lüfte“ und auch die Düfte: es riechen nicht einfach irgendwelche frühen Blumen, sondern Düfte streifen das Land. Sie bewegen sich gewissermaßen durch die Landschaft.

 Sprecherin

Der Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein spürt der Dynamik und der Atmosphäre eines der bekanntesten Frühlingsgedichte nach: Der Titel „Er ist´s“ von Eduard Mörike.

 MUSIK 2 ( Juan Maria Solare – Esto también pasará 0‘26)

 Zitatorin

Frühling lässt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte;

Süße, wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land.

Veilchen träumen schon,

Wollen balde kommen.

Horch, von fern ein leiser Harfenton!

Frühling, ja du bist´s!

Dich hab ich vernommen!

 Sprecherin

Typische Frühlingsmotive tauchen auf: die Natur erwacht und sendet Zeichen einer neuen unbeschwerten Zeit: Zuversicht, Lebensfreude. Das Gedicht erzählt, wie dieser Aufbruch von allen menschlichen Sinnen wahrgenommen wird: den Frühling kann man im wahrsten Wortsinn nicht nur sehen, sondern auch riechen und hören. In den insgesamt nur neun Zeilen inszeniert Eduard Mörike einen Sinnesrausch.

 2 Oton Kittstein

Seine Meisterschaft, die dem Gedicht dann auch seinen Rang und seine Bekanntheit verleiht, liegt offenkundig darin, wie er dieses Thema mit künstlerischen Mitteln gestaltet, also wie es ihm gelingt, mit den Mitteln der poetischen Sprache den Frühling hier für die Leserschaft zu einem ästhetischen Erlebnis zu machen.

 Sprecherin

Dazu gehört, dass Eduard Mörike die Natur vermenschlicht. Blumen erscheinen wie schlafende Wesen kurz vor dem Erwachen, denn „Veilchen träumen schon“ und am Ende wird der Frühling sogar angesprochen wie ein Gegenüber: „Frühling, ja Du bists! Dich hab ich vernommen!“

 3 Oton Kittstein

Auch der Aufbau des Gedichts ist sorgfältig kalkuliert. Der Frühling wird am Anfang schon benannt, als Personifikation, als Akteur und am Ende, auf dem Höhepunkt des Ganzen wird er unmittelbar angeredet und zwar mit einem mehrfachen wiederholten, sich verstärkenden Anruf, „Frühling, ja du bists! Dich hab ich vernommen!“.

Wobei Mörike klugerweise nun nicht so weit geht, den Frühling als eine menschenähnliche Gestalt zu beschreiben. Er wird nur apostrophiert, er wird angesprochen oder angerufen von einem lyrischen Ich, das durch diese Frühlingsatmosphäre in den größten Enthusiasmus versetzt worden ist.

 MUSIK 3 ( Jerome Rebotier: César et Arthur 0‘55)

 Sprecherin

Das Gedicht hat eine besondere Geschichte: Eduard Mörike war gerade mal 25 Jahre alt, als er es im Jahr 1829 verfasste. In dieser Zeit arbeitete er einerseits als Angestellter einer protestantischen Pfarrei, genauer, als Vikar. Andererseits versuchte er, sich eine Existenz als Schriftsteller aufzubauen. Parallel zu seinen Gedichten entstanden auch Prosawerke und ein bis zu seinem Tod fragmentarisch gebliebener Roman mit dem Titel „Maler Nolten“. - 1832 in einer ersten Fassung veröffentlicht. Eduard Mörike erzählt hier die Lebens- und Liebesgeschichte des Malers Theobald Nolten und seiner Verlobten. Interessant ist, dass in diesem Roman das bekannte Frühlingsgedicht „Er ist´s“ auftaucht.

4 Oton Kittstein

Mörike hat sich da an eine Kunsttechnik angeschlossen, die von Goethe und den Romantikern herkommt. Die hatten schon gerne lyrische Texte in ihre Romane integriert, also Formen einer Gattungsmischung vorgenommen.

 Sprecherin

Das heißt, Romanfiguren singen Lieder oder tragen Gedichte vor. Solche Gattungsmischungen haben immer einen dramaturgischen Sinn. Die in einen Roman eingefügten Verse deuten voraus, kündigen eine Wende an oder spielen mit gegensätzlichen Handlungselementen. So auch in „Maler Nolten“. Der Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein:

 5 Oton Kittstein

Der Titelheld Theobald Nolten, von dessen Kunst- und Liebesgeschichten hier erzählt wird, ist durch Intrigen ins Gefängnis geraten und auch noch erkrankt. Aber dann wendet sich sein Schicksal, wie es scheint, zum Besseren: er wird gesund, eine Wiedervereinigung mit seiner Jugendgeliebten zeichnet sich ab und in dieser hoffnungsvollen, auch durch den Frühling gekennzeichneten Umgebung, vernimmt er dann durch ein Fenster diese Verse, wie sie im Freien von einer weiblichen Stimme gesungen werden.

 MUSIK 4 ( Juan Maria Solare – Esto tambi´n pasará 0‘12)

 Zitatorin

Frühling lässt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte…

 Sprecherin

Das Gedicht bekommt an dieser Stelle im Roman eine richtungsweisende Funktion: Es steigert Theobald Noltens hoffnungsfrohe Stimmung und er erzählt, unmittelbar nachdem er den Gesang hörte, einem Freund davon:

 MUSIK 5 ( Jerome Rebotier: Arthur 0‘35)

Zitator

Soll ich dir gestehen, Alter, dass dies der glücklichste Tag meines Lebens ist, ja dass mir vorkommt, erst heut fang ich eigentlich zu leben an? Begreife mich aber. Nicht diese erquickende Sonne ist es allein, nicht dieser junge Hauch der Welt und nicht deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, von dem ich rede, lag in der letzten Zeit beinahe reif in mir…

 MUSIK 6 ( Iva Zabkar: Frühstück / einbruch / Mord 0‘20)

 Sprecherin

Allerdings baut Mörike diese hoffnungsvolle Stimmung nur auf, um die Erwartungen, die er damit weckt, umso schlimmer enttäuschen zu können.

 6 Oton Kittstein

Das heißt, die Frühlingsstimmung, die Hoffnungsstimmung, die freudige Atmosphäre bietet lediglich einen wohlkalkulierten Kontrast zu der abschließenden Katastrophe und das kann man in dem Roman ganz allgemein beobachten: Mörike baut immer wieder scheinbare Idyllen auf, um diese Idyllen dann als trügerisch zu entlarven und seine Figuren umso schlimmer ins Unglück zu stürzen.

 MUSIK 7 ( Martin Todsharow: All Of This 0‘44)

 Sprecherin

Mörike setzt mit seinem in den Roman eingefügten Gedicht „Er ist´s“ auf eine Dramaturgie der Gegensätze. Daher schwingen im selben Gedicht – je nachdem, ob man es im Kontext der Romanhandlung oder nur allein, für sich genommen liest – völlig andere Zwischentöne mit: Im Roman taucht die Frühlingsstimmung nur als kurzer Schein, als Illusion auf. Dagegen: wenn man das Gedicht für sich genommen liest, erscheint es als ein ganz und gar heiteres, optimistisches und klangvolles Frühlingsgedicht.

 7 Oton Preiwuß

Das mochte ich schon als Kind nicht. Das ist ja das, was man im Unterricht auswendig gelernt hat, im Deutschunterricht.

 Sprecherin

So die Lyrikerin Kerstin Preiwuß.

 8 Oton Preiwuß weiter

Und das ganze Gedicht ist eine Anrufung und eine Anrede und eine Übertreibung und gleichzeitig ist es statisch. „Frühling lässt sein Blaues Band wieder flattern durch die Lüfte.“ Der Frühling ist da, und er ist immer da, er ist unveränderlich und er ist überhaupt nicht fragwürdig. Es geschieht ihm auch nichts, es geschieht auch in ihm nichts in diesem Gedicht, und dann kommt diese Anrede auch noch, dieses heroische oder pathetische „Frühling ja du bist´s! Dich hab ich vernommen!“ Und dann kommt auch noch ein Harfenton. So jetzt hab ich genug geschimpft über dieses Gedicht. 

 Sprecherin

Die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin Kerstin Preiwuß möchte dem Frühling in ihrer eigenen Dichtung neue Facetten hinzufügen. Ihr geht es darum, die Bedeutungsschichten dieser Jahreszeit zu erweitern. Sie experimentiert daher mit Gegenbildern und konfrontiert gängige Erwartungen mit überraschenden Eindrücken. Ihr 2016 erschienener Gedichtband „Gespür für Licht“ folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten, beginnend mit dem Frühling. Die Lyrikerin stellt ihren eigenen Gedichten in diesem Band ein altes Volkslied voran:

 MUSIK 8 (Quadro Nuevo: Guter Mond, Du stehst so stille 0‘12)

 Zitatorin

Es war eine Mutter

Die hatte vier Kinder

Den Frühling den Sommer

Den Herbst und den Winter.

 Sprecherin

Doch das Idyll, das dieses Volkslied beinhaltet, trügt.

Was bereits das erste Gedicht in dem lyrischen Jahreszeitenzyklus andeutet:

 MUSIK 9 ( Martin Todsharow: Lost In The Light 0‘32)

 Zitatorin (nüchtern, skizzenhaft lesen)

Selten so einen Frühling erlebt.

Im April immer noch null Grad.

Der Ostwind fegt vom Ural bis in die Mittelgebirge.

Krähen brechen ihren Nestbau ab.

Zugvögel treibt es zurück.

Alles ist durchsichtig weil Laub fehlt.

Das ist wie Leben unter dem Röntgengerät.

 9 Oton Kittstein

Auch dieses Gedicht rechnet sicherlich mit Lesern, die die traditionelle Bildlichkeit kennen, die an den Frühling in der Lyrik bestimmte Erwartungen knüpfen, die bestimmte Stimmungswerte, eine bestimmte Atmosphäre erwarten. Aber dieses Gedicht bricht eben ganz gezielt mit diesen Erwartungen. Es präsentiert den Frühling in einer ganz anderen, in einer unkonventionellen, in einer modernen Art und Weise.

 10 Oton Preiwuß

Ich benenne nur „im April immer noch null Grad“ und dann „fegt der Ostwind vom Ural bis zu den Mittelgebirgen“ und dann „brechen die Krähen ihren Nestbau ab“. Das sind einfach nur Beobachtungen // ohne in die dichterische Überhöhung zu kippen. Die Zugvögel treibt es zurück – das ist dem Vers nach zwar auch wieder nur eine Beschreibungsebene, aber in dieser Beschreibungsebene ist ein Widerspruch eingebaut. Warum treibt es Zugvögel zurück? Was geht dem voraus, sind die schon wieder da und müssen zurück? Welche Umkehrung der Tatsachen ist das eigentlich?

 Sprecherin

Diese Fragen werden im Laufe des Lyrikbands „Gespür für Licht“ beantwortet. Denn alle Gedichte sind über die Abfolge der Jahreszeiten chronologisch und darüber hinaus auch erzählerisch miteinander verbunden. Der Nestbau steht anfangs für ein ungeborenes Kind, welches das lyrische Ich erwartet. Der Zyklus der Jahreszeiten und der kühle, unberechenbare Frühling deuten eine schwierige Schwangerschaft an. Ihr Ausgang erscheint ungewiss. In einem der späteren Frühlingsgedichte heißt es dann doch wieder hoffnungsvoll:

 MUSIK 10 ( Martin Todsharow: Little Voices 0‘23)

 Zitatorin 37

Die Windsbraut schläft in mir.

Ein schaukelndes Embryo in jeder Ohrmuschel.

Wie beruhigt mich dass sie sich bewegt.

Ich bin gut aufgehoben egal was in mir tobt.

Die Windsbraut hat sich in mein Ohr gelegt…

 11 Oton Preiwuß 61 018-056

Für den Gedichtband war mir sehr früh klar, dass ich ein Kalendarium wollte. Ich wollte nicht nur, dass der Gedichtband aussieht wie ein Kalender, sondern ich wollte auch, dass er den Jahreszeiten folgt. Das hängt mit dem Thema zusammen: Da es um das Kinderbekommen oder auch Nichtbekommen geht und die Frage, wie das Leben in die Welt kommt und wie es vielleicht auch doch nicht in die Welt kommt und das hat sich für mich am besten gemäß einer zyklischen Ordnung entlang des Jahresverlaufs ergeben.

 Sprecherin

Kerstin Preiwuß sieht im Frühling eine ganz besondere große Spannweite an Elementen, die für eine Übergangszeit stehen. Auch wagt sie einen Blick in künftige sprachliche Anverwandlungen und literarische Themen dieser Zeit:

 12 Oton Preiwuß 63 505-633

Der Frühling geht meteorologisch vom ersten März bis Ende Mai, bis zur Zeit der Apfelblüte. // - Von den Frühblühern bis zur Zeit der Apfelblüte, wenn alles schon grün ist und das ganze Laub auch schon da ist. // Sie haben einen sehr langen Zeitraum und auch eine gewisse Unabwägbarkeit und verschiedene Schritte der Verwandlung und etwas Prozessuales. Ein Zustand, der sich erst ergibt.

Wenn man an den Mai denkt, hat man den satten Frühling voller Blütenduft und warmer Luft im Kopf, aber auch hier denke ich mittlerweile: Vorsicht so, wie wir es gewohnt sind, die Jahreszeiten wahrzunehmen, muss es nicht bleiben, auch aufgrund der klimatischen Veränderungen. Es kann sein, dass der Frühling zukünftig, auch mit zu früh zu heiß bedichtet werden kann oder assoziiert werden kann. – Also als Wahrnehmung, die dann in den Sprachgebrauch übergeht oder so empfunden wird.

 MUSIK 11 ( Maxi Menot: Breeze Over Grasslands 0‘38)

 Sprecherin

…dann könnte man Goethes „Osterspaziergang“ als ein historisches Dokument lesen aus einer Zeit, in welcher ein eher kühles Frühjahr auf einen sehr kalten Winter folgte:

  Zitator

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;

Im Tale grünet Hoffnungsglück;

Der alte Winter in seiner Schwäche,

Zog sich in raue Berge zurück.

Von dorther sendet er, fliehend, nur

Ohnmächtige Schauer körnigen Eises

In Streifen über die grünende Flur;…

 13 Oton Preiwuß

Er geht nicht ins Pathos der Anrede, er übertreibt nicht, sondern es ist eher chronologisch beschreibend. Der Frühling taucht relativ früh auf und zwar in der zweiten Zeile schon als Wort. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden belebenden Blick“. Das heißt, er wird benannt und ab dann kann er beschrieben werden, ohne dass ihm gleich etwas zugeschrieben werden muss, das entwickelt sich erst in der Chronologie dieses Gedichtes. Und die zweite Sache ist, - und das ist auch klassisch – er lässt den Frühling mit Ostern zusammenfallen. Das ist dann die religiöse Komponente und die Engführung an den Auferstehungsgedanken.

 Sprecherin

So Kerstin Preiwuß. In vielen Bänden mit Naturlyrik taucht Goethes „Osterspaziergang“ als eigenständiges Gedicht auf. Ursprünglich stammt die fast vierzig Zeilen lange Passage aus Goethes Drama Faust I. und spiegelt die Gedanken der Hauptfigur während eines Spaziergangs am Ostersonntag wider. Der Wissenschaftler Dr. Faust hatte eben noch in seinem Studierzimmer über seinen Büchern gebrütet und mit der Fülle des ihm unermesslich scheinenden Wissens gerungen, hatte finstere Gedanken voller Selbst- und Weltzweifel. Doch auf seinem Spaziergang vertreibt der Wandel der Natur seinen Trübsinn. Die neue Jahreszeit, der Frühling entmachtet gleichsam den Winter und damit auch Fausts Trübsinn. Er wird hoffnungsvoll, beginnt die Welt und damit auch die Menschen neu zu sehen:

 MUSIK 12 ( Maxi Menot: Elektroniske drommer 0‘37)

 Zitator

Jeder sonnt sich heute so gern.

Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind selber auferstanden,

Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

Aus der Straßen quetschender Enge,

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

Sind sie alle ans Licht gebracht.  

 14 Oton Kittstein

Faust spricht ja über die Befreiung, die die Menschen erfahren, wenn sie am Ostertag in die freie Natur hinausgehen. Er spricht nicht direkt über sich selbst, aber in dem Kontext des Dramas kann man entnehmen, dass diese Erfahrungen für ihn gelten.

 Sprecherin

Faust verlässt durch ein Tor die Stadt, blickt um sich. Einerseits von einem Hügel auf das Stadttor zurück und gleichzeitig in die ferne Landschaft. Dabei bemerkt er, dass die Natur zwar noch nicht blüht. Aber die Menschen mit ihren Kleidern für farbige Akzente in der Landschaft sorgen.

 MUSIK 13 ( Maxi Menot: Elektroniske drommer 0‘14)

 Zitator

Selbst von des Berges fernen Pfaden

Blinken uns farbige Kleider an. 

 15 Oton Kittstein

Es ist in der Tat ein Vergnügen von Stadtmenschen, was wir hier vor uns haben. Das sind keine Bauern, keine Jäger, keine Fischer, sondern das sind Menschen, die aus der Stadt hinausgehen ins Freie, in die Landschaft. Was Goethe hier zugrunde legt, ist auch wiederum ein ganz traditionelles literarisches Motiv – der Gegensatz von Stadt und Land.

 Sprecherin

So der Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein. Er deutet im Osterspaziergang die Stadt als den Ort der Kultur, der Zivilisation. Gleichzeitig erscheint sie auch als Sphäre vielfältiger Zwänge und Einschränkungen, denen sich die Menschen unterwerfen müssen. Daraus rührt die Sehnsucht nach Natur, die Sehnsucht danach, die engen Häuser und Gassen zu verlassen und sich frei in der Landschaft zu bewegen.

 16 Oton Kittstein

Etwas zugespitzt gesagt: der erholsame Spaziergang in freier Natur ist eine Erfindung von Stadtmenschen. Von Menschen, die prinzipiell in ihrer Lebenswirklichkeit schon von der Natur getrennt sind und deswegen die Natur als Gegenwelt, als eine Welt der Freiheit und der freien Entfaltung erfahren. Deswegen auch die Analogie zur Auferstehung: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden aus niedriger Häuser dunklen Gemächern…aus der Straßen quetschender Enge…“

 MUSIK 14 ( Ralf Wienrich: Nacht 0‘42)

 Sprecherin

Eine besondere motivische Verbindung steckt in der Engführung von Frühling und Nacht. In verschiedenen Epochen spürten Autorinnen und Autoren ihr immer wieder nach: unter anderem der Romantiker Josef Eichendorff, aber auch die Expressionistin Else Lasker-Schüler. Im Jahr 1900 schickte sie in einem Brief ein Gedicht mit dem schlichten Titel „Frühling“ an einen Freund. Ein Jahr später veröffentlichte sie dieselben Verse in ihrem ersten Gedichtband. Die Verbindung von Frühling und Nacht taucht bereits in der ersten Strophe auf und deutet an, dass es sich um ein Liebesgedicht handelt.

 MUSIK 15 ( Maria Böhme: February Tale 0‘49)

Zitatorin

Wir wollen wie der Mondenschein

Die stille Frühlingsnacht durchwachen,

Wir wollen wie zwei Kinder sein.

Du hüllst mich in dein Leben ein

Und lehrst mich so wie du zu lachen.

 Sprecherin

In dieser Frühlingsnacht begegnen sich zwei erwachsene Menschen, die sich wie Kinder fühlen:

 17 Oton Kittstein

Und die Frühlingsnacht gibt ihnen den Anlass dazu. Das heißt, das Naturerlebnis inspiriert gewissermaßen das Gefühl, sich in die eigene Kindheit zurückversetzt zu fühlen, in die Geborgenheit des Kindes, das noch von „Mutterlieb“ und „Vaterwort“ und „Frühlingsspielen“ umgeben gewesen ist.

 MUSIK 16 ( Maria Böhme: Tell Me Now (What You See) 0‘39)

 Zitatorin

Ich sehnte mich nach Mutterlieb

Und Vaterwort und Frühlingsspielen,

Den Fluch, der mich durchs Leben trieb,

Begann ich, da er bei mir blieb

wie einen treuen Freund zu lieben…

Sprecherin

So der zweite Vers. Hier spricht das lyrische Ich von einem Fluch, der nicht weiter benannt oder beschrieben wird. Vermutlich steht er in Zusammenhang mit dem Verlassen der Kindheit. Gleichzeitig motiviert der Fluch die inneren Bilder und die hoffnungsvollen Wünsche des lyrischen Ichs. Ulrich Kittstein:

 18 Oton Kittstein

Die Nacht ist ja seit der Empfindsamkeit und der Romantik, die Zeit der Fantasie, der Einbildungskraft, der Vorstellungskraft, des Traums und das passt ja durchaus dazu, dass die Figuren, die da erscheinen, nicht mehr wirklich Kinder sind, sondern sich nur in ihrer Fantasie, in ihrer Einbildung noch einmal in die Kindheit zurückversetzen wollen.

 Sprecherin

Jedenfalls so lange bis der Tag anbricht.

 MUSIK 17 ( Juan Maria Solare – Esto tambi´n pasará 0‘41)

 Sprecherin

Autorinnen und Autoren haben über alle Epochen hinweg sehr unterschiedliche Aspekte des Frühlings bedichtet: die Verwandlung der Natur, die Hoffnung auf eine neue Zeit und neues Leben, das Gefühl des Aufbruchs und der Freiheit und nicht zuletzt eine gewisse Unberechenbarkeit dieser Jahreszeit. Durch alle Zeiten hinweg scheint aber auch etwas Verbindendes auf: dass dem Frühling eine eigene Kraft zugesprochen wird, die nach Vorn gerichtet ist und eine Verwandlung in Gang zu setzen vermag.