Bodenentsiegelung macht Städte grüner und hilft, dass wertvolles Regenwasser versickern kann. Doch die Zauberlösung gegen Flächenfraß ist sie nicht. Denn ein von Beton und Zement befreiter Boden braucht Jahrhunderte, um all seine natürlichen Funktionen wieder zu erlangen. Von Brigitte Kramer
Bodenentsiegelung macht Städte grüner und hilft, dass wertvolles Regenwasser versickern kann. Doch die Zauberlösung gegen Flächenfraß ist sie nicht. Denn ein von Beton und Zement befreiter Boden braucht Jahrhunderte, um all seine natürlichen Funktionen wieder zu erlangen. Von Brigitte Kramer
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner Härtl, Gudrun Skupin
Technik: Matthieu Belohradsky
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Nadine Pannicke-Prochnow, Geo-und Agrarwissenschaftlerin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Leipzig
Juliane Albrecht, Juristin, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden
Matthias Rühl, Ingenieur und Raumplaner, Sugenheim/Mittelfranken
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ZUM PODCAST
Literatur:
Studie des Umweltbundesamtes „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“:
ZUR HOMEPAGE
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Matthias Rühl
Wir haben die Bewerbung von Ipsheim damit begründet, dass wir gesagt haben, Ipsheim ist ein Asphaltsee. Das war wirklich so, dass alle Flächen im Ort komplett asphaltiert waren, also versiegelt waren.
SPRECHER
Der Raumplaner Matthias Rühl betreut seit mehr als 25 Jahren die Gemeinde Ipsheim in Mittelfranken, sowie rund zehn andere Orte in der Region. Er berät die Gemeinderäte in Sachen nachhaltige Städtebauförderung. Matthias Rühl setzt sich für mehr Grün in Städten und Dörfern ein.
O-Ton 2 Matthias Rühl
Bei jeder Maßnahme, die wir gemacht haben, war es eine Entsiegelung. Es ist viel Pflaster gekommen. Natürlich sind wir mitten in einem Ortskern bei den öffentlichen Flächen immer in der Notwendigkeit, dass es ja Verkehrsflächen sind. Man muss drauf gehen, man muss drauf fahren. Also Pflaster mit breiten Fugen oder eben ungebundene Bauweise. Das heißt, dass es auf Splitt verlegt ist und dass Regenwasser vor Ort versickert.
ATMO 1 Baustelle in der Stadt
SPRECHER drüber
Pflastersteine statt Asphalt, das ist eine Form der Teilentsiegelung: Dichte Flächen werden aufgerissen und durch Pflaster oder Rasengitter ersetzt. Der Grund ist weiterhin befestigt, aber er nimmt Regenwasser auf – eine wichtige Bodenfunktion. Und er bietet Gräsern und Blumen Raum für Wurzeln. Vollentsiegelung bedeutet, dass Asphalt und Beton komplett weichen und das Erdreich freigelegt wird. Darauf können dann Sträucher oder Bäume wachsen, es entstehen Grünanlagen oder Parks.
ATMO Stadtpark
+ Musik 2: Und was sagen die Freunde? - 38 Sek
SPRECHER drüber
Bodenentsiegelung wurde als eine effektive Maßnahme zur Klimaanpassung erkannt, vor allem in dicht bebauten Stadtteilen oder Ortskernen. Pflanzen binden Kohlendioxid und Staub, befeuchten die Luft, sorgen im Sommer für Kühlung. Derzeit herrschen in versiegelten Innenstädten bis zu zehn Grad höhere Temperaturen als im Umland. Und: Grün schlägt zwischen Wohnblocks Frischluftschneisen, steigert die Lebensqualität in Städten die Bewohner erleben, wie die Jahreszeiten wechseln. (Musik weg)
Trotzdem müssen Menschen wie Matthias Rühl noch Überzeugungsarbeit leisten:
O-Ton 3 Matthias Rühl
Jeder Baum macht Dreck, heißt es immer. Dann sage ich: Ein Auto macht eher Dreck. Also ein Baum lebt ja, das ist ein Lebewesen wie wir auch. Er ist nur nicht so schnell wie wir. Und natürlich verliert er Blätter. Wir verlieren auch Haare und alles Mögliche. Das verstehen manche Leute nicht. Die Jüngeren glaube ich schon eher. Es gibt halt ein paar ganz Alte, die das noch ganz anders sehen. Da hat man einen Baum eher mit der Motorsäge gepflegt.
SPRECHER
Auch auf privaten Grundstücken steigern freie Flächen den Wert. Das ist besonders bei Altstadtsanierungen wichtig. Matthias Rühl spricht von „Aufräumen“:
O-Ton 4 Matthias Rühl
Das spielt eine große Rolle, weil der Altstadtkern ohnehin sehr stark überbaut ist. Im Laufe der letzten Jahrhunderte, muss man schon sagen, sind halt viele Anbauten entstanden und Nebengebäude und Garagen und alles Mögliche. Und wenn man jetzt in diesen Ortskern wieder Leben reinbringen möchte, in leerstehende Gebäude zum Beispiel, den Bestand weiter zu nutzen, zu verändern, das muss natürlich modernisiert werden. Das sind teilweise Häuser, wo vielleicht seit 80 oder 100 Jahren nichts gemacht wurde. Aber die Freiflächen muss man genauso betrachten, weil sonst braucht man ja das Haus gar nicht sanieren. Es ist Lebensnotwendigkeit, denn wenn Sie irgendwo wohnen wollen, dann brauchen Sie auch Freiflächen. Wenn Sie diese grünen Freiflächen nicht haben, ist es unattraktiv.
ATMO Dorfstille
SPRECHER drüber
Auf dem Land, in Dörfern, wo die Jüngeren weggezogen sind, ist das Problem ähnlich:
O-Ton 5 Matthias Rühl
Wo früher Landwirtschaft war, da gab es Ställe, da gibt es Scheunen, da gibt es irgendwelche Maschinenhallen, die jetzt aber nicht mehr in Gebrauch sind. Und manches kann man eben nicht mehr umnutzen. Einen alten Schweinestall werde ich schwer zu einer Wohnnutzung umfunktionieren können. Da muss halt mal was abgebrochen werden. Und dann muss ich aber auch ein Konzept haben: Was mache ich mit dieser Fläche?
ATMO Baustelle
SPRECHER drüber
Neuer Wohnraum ist die erste Option. Deutschland braucht Wohnungen und eine Bebauung bringt dem Eigentümer oder der Eigentümerin Geld. Letztlich braucht es Überzeugung, um sich gegen ein Gebäude und für eine Wiese, einen Garten oder einen Park zu entscheiden. Man muss den Wert von Freiraum erkennen.
MUSIK 3: Und was sagen die Freunde? – siehe vorne – 31 Sek
SPRECHER drüber
Theoretisch wird Entsiegelung in Deutschland gefördert, und zwar in mehreren Gesetzen: Im Paragrafen 179 des Baugesetzes steht ein „Rückbau- und Entsiegelungsgebot“:
Eine Gemeinde kann einen Eigentümer dazu verpflichten, den Abriss oder Teilabriss eines Gebäudes zu dulden, wenn dieses …
MUSIK 1 weg
ZITATORIN
„… den Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht entspricht und ihnen nicht angepasst werden kann oder Missstände oder Mängel aufweist, die auch durch eine Modernisierung oder Instandsetzung nicht behoben werden können“.
SPRECHER
Leere Garagen, Kasernen, Fabrikanlagen …. Ställe, Verkaufsräume, Lagerhallen – könnten also alle weg. Und im Bundesbodenschutzgesetz aus dem Jahr 1999 besagt der Paragraf fünf, dass …
ZITATORIN
„Die Bundesregierung per Rechtsverordnung und mit Zustimmung des Bundesrates Grundstückseigentümer dazu verpflichten kann, bei dauerhaft nicht mehr genutzten Flächen, deren Versiegelung im Widerspruch zu planungsrechtlichen Festsetzungen steht, den Boden so weit wie möglich und zumutbar wiederherzustellen“.
MUSIK 4: Aufbruch – xxx – 59 Sek
SPRECHER drüber
Die beiden Paragrafen wurden allerdings nach Recherchen von Juliane Albrecht kaum angewandt. Albrecht ist Juristin und arbeitet am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Sie nennt sie „nicht vollzugstauglich“. Sie fordert, dass das Baugesetz und das Bodenschutzgesetz überarbeitet werden. Sprich: Sie müssen an die heutigen, drastischen Umwelt-Herausforderungen angepasst werden – und hier hat Entsiegelung eine große Bedeutung.
MUSIK hoch
SPRECHER drüber
Auch auf öffentlichem Grund wird Entsiegelung gefördert, hier wird sie auch öfter umgesetzt. Die Kommunen bekommen Subventionen, wenn sie Grünflächen schaffen, das steht in den Städtebauförderungsrichtlinien. Und die „Baunutzungsverordnung“ setzt Gemeinden Obergrenzen für Bebauung und Versiegelung . Dazu kommt die sogenannte „Eingriffsregelung“ im Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren:
O-TON 6 Juliane Albrecht
Das wichtigste Instrument in der Praxis ist eigentlich die Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung. Diese ist im Bundesnaturschutzgesetz verankert und besagt letztlich, dass wenn man in Natur und Landschaft eingreift, zum Beispiel eine Straße neu baut oder eine andere bauliche Anlage errichtet und in den Naturhaushalt eingreift, dass man dann eine Kompensation erbringen muss. Und diese Kompensation, die kann eben durchaus auch in Form von Entsiegelungsmaßnahmen erbracht werden.
Musik 5: Detached –1:50 Min
SPRECHER
Juliane Albrecht hat im Jahr 2022 mit anderen Fachleuten im Auftrag des Bundesumweltamtes einen Forschungsbericht erstellt. Er heißt „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“ und soll politische Entscheidungen erleichtern – für mehr Entsiegelung. In der Praxis wird zum Ausgleich von neu verbrauchtem, also verbautem Boden, auch tatsächlich immer wieder an anderer Stelle Boden entsiegelt. Das Problem: Es gibt zu wenig Grundstücke, die zur Entsiegelung taugen. Und: Die Ausgleichsvorschrift ist nicht zwingend. Derzeit muss man lediglich „verstärkt prüfen“, ob ausgleichende Entsiegelungen möglich sind. Außerdem ist Kompensieren ein Deal, bei dem die Natur draufzahlt. Denn Bodenversiegelung heißt, fruchtbare Erde luft- und wasserdicht abzudecken. Das führt zum Verlust aller physikalischen, chemischen und biologischen Bodenfunktionen und ist erstmal irreversibel. Boden ist ein komplexes Ökosystem, das aus Bakterien, Pilzen, Tieren, Wurzeln, Steinen, Erde und organischen Resten besteht. Er spielt eine zentrale Rolle im Naturhaushalt, vor allem für die Wasser- und Nährstoffkreisläufe. Der Mensch kann diesen Naturzustand nicht einfach wiederherstellen, er muss sich über Jahrhunderte wieder von selbst bilden. Ist es also sinnvoll, hier fruchtbare Erde unter Asphalt oder Zement zu begraben, für eine Wohnsiedlung, einen Straßenausbau oder einen Gewerbepark, und dort überbauten und verdichteten, also toten Boden, freizulegen?
ATMO Wiese, Vögel, Insekten
SPRECHER
Natürlicher Boden wächst in unseren Breiten einen Millimeter pro Jahr. Das heißt: ein Meter Boden entsteht in etwa tausend Jahren.
Der fruchtbare Mutterboden und der Unterboden eines Ackers sind also mehrere tausend Jahre alt.
ATMO Baustelle
SPRECHER drüber
Jeden Tag werden in Deutschland durchschnittlich 55 Hektar neu versiegelt. Es war aber mal schlimmer: Im Jahr 2000 waren es noch 129 Hektar pro Tag. Das zeigt, dass es ein Problembewusstsein gibt. ATMO 1 weg Bis 2030 sollen weniger als 30 Hektar am Tag neu in Anspruch genommen werden, und bis 2050 strebt die Bundesregierung in ihrer Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sogar eine „Netto Null“-Versiegelung an. Die zugrunde liegende Erkenntnis lautet: Boden ist ein endliches Gut. Das heißt: Auch bei kompletter Entsiegelung, Sanierung und Wiederherstellung einiger Funktionen wird aus Boden, der von Asphalt und Beton „befreit“ ist, kein gesunder, fruchtbarer Boden.
MUSIK 6: Fragile life – 1:17 Min
SPRECHER drüber
Der Naturzustand ist also kurz- und mittelfristig unerreichbar. Trotzdem ist Bodenentsiegelung sinnvoll und notwendig, denn eine der Bodenfunktionen, die physikalische, ist relativ schnell wieder hergestellt: Die Wasserbindung. Schwieriger wird es bei den chemischen Funktionen, der Speicherung von Nährstoffen zum Beispiel für gesundes Pflanzenwachstum. Die findet im Mutterboden statt, der nach der Entsiegelung schichtweise neu aufgetragen werden muss.
MUSIK 2 hoch
SPRECHER drüber
Bodenlebewesen schließlich, wie Regenwürmer, Tausendfüßler, Asseln oder Milben erfüllen enorm wichtige biologische Funktionen. Sie zersetzen Biomasse, also abgestorbenes organisches Material wie Laub oder tote Tiere. Dabei entstehen Nährstoffe für Pflanzen, die mit ihren mehr oder weniger tiefen Wurzeln den Boden durchlüften und auflockern. Viele Pflanzen dienen uns als Nahrung. Ohne lebendige Böden gäbe es also auch uns nicht. Sie sind wortwörtlich unsere Lebensgrundlage.
Was muss sich ändern, damit mehr Boden freigelegt wird?
O-TON 7 Juliane Albrecht
Man braucht Entsiegelungskataster, dass man überhaupt erst einmal die Information auch hat, wo Flächen sind, die in Betracht kommen. Man braucht aber auch für die Behörden, von oben sage ich mal, eine Rückendeckung. Man braucht Vollzugshinweise. Ist natürlich, wenn man so diese Regelung anwendet und auch gar keine Rechtsprechung hat, keine Rechtssicherheit, dann fürchten Sie ja teilweise dann natürlich auch die Auseinandersetzung mit den Bürgern. Es kann zu Gerichtsverhandlungen kommen. Also da ist meines Erachtens wirklich so eine strategische Herangehensweise erforderlich.
SPRECHER
Es fehlen eine Strategie und eine klare Rechtslage, das ist Juliane Albrechts Erkenntnis. Das Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren wird immer wieder überarbeitet, mit Handlungsempfehlungen und neuen Berechnungsschlüsseln zum Flächenausgleich. In Berlin beispielsweise soll der Abriss von mehrstöckigen Gebäuden als Ausgleichsmaßnahme besonders berücksichtigt werden, weil dabei große Lücken im Stadtbild entstehen, die die Luftzirkulation verbessern und also der Klimaanpassung dienen.
MUSIK 7: Und was sagen die Freunde? – siehe vorn – 31 Sek
SPRECHER drüber
Im Koalitionspapier der Bundesregierung ist zumindest eine Handlungsabsicht verankert: Darin steht, dass das Bodenschutzrecht von 1999 angepasst werden soll, an die Artenvielfaltskrise und die Klimakrise. Und dass Entsiegelung einen neuen Stellenwert bekommen soll. Und im neuen Klimaanpassungsgesetz von November 2023 ist Entsiegelung Teil der Lösung:
ZITATORIN
„Träger öffentlicher Aufgaben sollen darauf hinwirken, dass versiegelte Böden, deren Versiegelung dauerhaft nicht mehr für deren Nutzung notwendig ist, in den natürlichen Bodenfunktionen, soweit dies erforderlich und zumutbar ist, wiederhergestellt und entsiegelt werden.“ Beides kann man als Ergebnis des Forschungsberichts zum Entsiegelungspotenzial deutscher Böden werten.
MUSIK 8: „Und was sagen die Freunde?“ – s.o. – 7 Sek
O-TON 8 Nadine Pannicke-Prochnow
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass seit der Veröffentlichung der Studie das Thema Entsiegelung schon mehr ins gesellschaftliche und auch ins politische Bewusstsein gerückt ist. Wir brauchen hier auch ein Umdenken. Es ist tatsächlich auch zu beobachten, dass sich zunehmend mehr Kommunen mit dem Thema beschäftigen und geeignete Flächen und Maßnahmen identifizieren, vor allem auch im Hinblick auf eine wassersensible Stadtentwicklung und zur Umsetzung des Schwammstadtprinzips, was ja auch viel wieder in Richtung Klimaanpassung leisten und beitragen kann.
SPRECHER
Nadine Pannicke-Prochnow (sprich: Pánnicke-Prochnoff) hat das Expertenteam geleitet, das im Auftrag des Bundesumweltamtes 2022 die Studie erstellt hat. Die Geo- und Agrarwissenschaftlerin arbeitet heute am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Die Arbeit war für sie ernüchternd und lehrreich, auch, weil das Thema erstmals so umfassend behandelt wurde:
O-TON 9 Nadine Pannicke-Prochnow
Es war definitiv Neuland für mich. Ich habe festgestellt, dass die Flächen für Entsiegelungsmaßnahmen eben sehr knapp sind, also nur circa ein halbes bis ein Prozent der Flächen in unseren deutschen Städten können für Vollentsiegelungsmaßnahmen genutzt werden. Gerade weil diese Möglichkeiten eben wirklich sehr knapp sind, ist es umso wichtiger, diese wenigen Gelegenheiten dann eben auch zu nutzen.
SPRECHER
Doch wie nutzt man die wenigen Flächen am besten? Zum Beispiel auch durch unspektakuläre Teilentsiegelung kleiner Flächen, auch auf dem eigenen Grundstück:
O-TON 10 Nadine Pannicke-Prochnow
Im Endeffekt sollten wir uns einfach bei jeder versiegelten Fläche fragen, ob die Versiegelung, so wie sie vorhanden ist, wirklich notwendig ist oder ob sie so umgestaltet werden kann, dass die Auswirkungen der Versiegelung reduziert werden. Wenn kleinere Teilflächen zum Beispiel in den Innenhöfen entsiegelt und bepflanzt werden oder der Belag ausgetauscht wird. Und teilweise sind eben Teilentsiegelungsmaßnahmen auch wirklich kostengünstiger, was das Ganze dann eben auch für private Flächen Eigentümerinnen und Eigentümer auch attraktiver macht. Also das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Musik 9: Indetectable - 1:28 Min
SPRECHER drüber
Boden im großen Stil freizulegen ist dagegen enorm aufwändig: Die Stadt Berlin empfiehlt beispielsweise Folgendes: Neue Erde muss entsprechend der natürlichen Bodenschichten aufgetragen werden. Das Bodenmaterial sollte nicht durcheinandergeraten und der Hauptbodenart vor Ort entsprechen. Das Ganze sollte bei trockener Witterung und in möglichst wenigen Schritten passieren, und vor allem nicht unter Einsatz schwerer Maschinen, die den Boden verdichten. Empfohlen werden Kettenfahrzeuge mit großer Lauffläche. Dann müssen Nährstoffe zugefügt und Pflanzen eingesetzt werden, die mit ihren Wurzeln den Boden festigen und durchlüften und organisches Material zum Humusaufbau liefern. Bei unterkellerten Gebäuden ist der Aufwand noch viel größer: Da überhaupt kein Boden mehr da ist, muss auf Kies und Stein meterhoch Erde aufgetragen werden, wenn dort wieder etwas leben und wachsen soll. Dazu kommt: Die Entsorgung der Baumaterialien – Beton, Ziegel, Mörtel, Fliesen, Glas, Holz, Metall, Gips und Dämmmaterialien – ist teurer, als ein Gebäude einfach stehen zu lassen. Und wer weiß schon, was unter der abgetragenen Fläche ist? Bauschutt, Unrat, Kies … im schlimmsten Fall: Altlasten.
O-TON 11 Nadine Pannicke-Prochnow
Gerade bei alten Gewerbe- und Industriestandorten haben wir teilweise Kontaminationen im Boden, die da teilweise noch schlummern. Also seien es eben Schwermetallrückstände oder Rückstände von Mineralölen, die irgendwo ausgelaufen sind und dort eben im Boden lagern. Dass das Ganze, dass diese Schadstoffe im Endeffekt ausgespült werden, im Grundwasser landen und sich dann dort eben auch großflächiger verteilen, das wollen wir natürlich verhindern. Also sprich, wenn wir die diese Sperrschicht für den Niederschlag entfernen, dann müssen wir eben auch mögliche Schadstoffe, die sich da im Boden befinden, mit entfernen.
SPRECHER
Sind die Flächen freigelegt, können sie mehrfach genutzt werden. Nadine Pannicke-Prochnow bietet kreative Lösungen an:
O-TON 12 Nadine Pannicke-Prochnow
Da gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, dass man Sportflächen oder Freizeitflächen schafft, die dann aber im Fall von Starkregenereignissen auch als Flächen genutzt werden können, um eben diese Wassermassen erst einmal zwischenzuspeichern und aufzufangen. Oder inwiefern gibt es die Möglichkeit, dass wir diese Grünflächen in den Wohngebieten, die wir dort schaffen wollen, auch für eine regionale Produktion und Wertschöpfung nutzen können? Also sprich, inwiefern kann man hier die essbare Stadt zum Beispiel schaffen? Oder inwiefern können wir hier kleine Streuobstwiesen schaffen? Und für diese multifunktionalen Flächennutzungsansätze, denke ich, haben wir definitiv Luft nach oben.
SPRECHER
Entsiegelung bringt Mehrwert. Aber sie ist keine Zauberlösung. Deswegen rät Nadine Pannicke-Prochnow zu einem ganz neuen Umgang mit dem „endlichen Gut“ Boden:
O-TON 13 Nadine Pannicke-Prochnow
Also langfristig ist es hier schlauer, eine Flächenkreislaufwirtschaft zu etablieren, also das heißt vorhandene Flächen und Gebäude so lange und so oft wieder zu nutzen, wie es geht. In vielen Fällen bedeutet das ein Umbauen oder Umgestalten von Gebäuden und Flächen, um sie den neuen Anforderungen anzupassen. Unterm Strich ist es also ökologisch und volkswirtschaftlich nachhaltiger, den vorhandenen Bestand an gebauter Umwelt so gut wie möglich weiter und wieder zu nutzen. Das spart nicht nur Ressourcen und Kosten für die Gesellschaft, sondern reduziert eben auch die Notwendigkeit für neue Flächeninanspruchnahmen und neue Versiegelungen.
Musik 10: Fragile life – siehe oben – 22 Sek
SPRECHER
Boden ist Lebensgrundlage. Er leistet zentrale Dienste im Naturhaushalt. Er ist ein komplexes Gefüge, das leicht zerstört werden kann. Und Boden ist erschöpflich und definitiv kein Konsumgut.
O-TON 14 Nadine Pannicke-Prochnow
Wir sollten besser mit dem auskommen und haushalten, was wir bereits haben, anstatt immer wieder neu zu beanspruchen, und auf der anderen Seite gleichzeitig gebrauchte Gebäude ungenutzt verfallen zu lassen und dann am Ende zu entsorgen.
MUSIK 11: Indetectable – siehe oben – 52 Sek
SPRECHER drüber
Die ideale Zukunftsstadt ist also einerseits grüner und offener, zugleich werden bestehende Gebäude intensiver genutzt, um den Verbrauch von fruchtbarem Boden im Umland zu vermeiden. Was fehlt, sind eine Strategie und eine klare Rechtslage, die den Weg dahin weisen und erleichtern. Und ein Umdenken, das die Erkenntnis bringt, dass Boden ein endliches Gut ist, dessen Naturzustand durch Verbauung verloren geht. Entsiegelung ist wichtig, aber sie löst nicht alle Probleme. Den Schaden, den Versiegelung anrichtet, kann sie nur zum Teil und unter großem Aufwand beheben.