radioWissen - Bayern 2   /     Die frĂŒhe Bundesrepublik - Die 50er Jahre

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Die 1950er sind nicht nur WM-Sieg, Wirtschaftswunder und biedere Heimatfilme. Die Jahre der Besinnung aufs private FamilienglĂŒck sind gleichzeitig die Zeit, in der grĂ¶ĂŸere Demonstrationen stattgefunden haben als 1968. Die grundlegenden Fragen, wie wir zusammen leben wollen, mĂŒssen erst verhandelt werden. Und die Jugendliche werden aufmĂŒpfig. Von Johannes Berthoud

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Duration
00:23:41
Publishing date
2024-07-16 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-fruehe-bundesrepublik-die-50er-jahre/2095634
Contributors
  Johannes Berthoud
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2095634/c/feed/die-fruehe-bundesrepublik-die-50er-jahre.mp3
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Shownotes

Die 1950er sind nicht nur WM-Sieg, Wirtschaftswunder und biedere Heimatfilme. Die Jahre der Besinnung aufs private FamilienglĂŒck sind gleichzeitig die Zeit, in der grĂ¶ĂŸere Demonstrationen stattgefunden haben als 1968. Die grundlegenden Fragen, wie wir zusammen leben wollen, mĂŒssen erst verhandelt werden. Und die Jugendliche werden aufmĂŒpfig. Von Johannes Berthoud

Credits
Autor dieser Folge: Johannes Berthoud
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Jennifer GĂŒzel
Technik: Andreas Caramelle
Redaktion: Nicole Ruchlak

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Literaturtipps:

Bodo Mrozek, „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“ – beschreibt anschaulich und pointenreich den Aufstieg von Jugendkulturen Mitte des 20. Jahrhunderts, inklusive der Halbstarken in den 1950ern.

Siegfried Gohr, „Ich suche nicht, ich finde“: Pablo Picasso - Leben und Werk“ – erhellende bebilderte EinfĂŒhrung in das Werk von Pablo Picasso – allerdings klammert Gohr das berĂŒhmteste Werk „Guernica“ aus.

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

An einem Donnerstagabend im Juli 1956 verlassen einige Jugendliche im Berliner Arbeiterviertel Wedding die kleine, enge Wohnung ihrer Eltern. 

Sie ziehen ihre Lederjacke an, setzen sich aufs Moped und knattern Richtung Afrikanische Straße, zum Cafe Punkt. 

Die Jugendlichen gehören zur „Totenkopfbande“, einer Gruppe, die sich regelmĂ€ĂŸig hier trifft, um Musik zu hören, zu tanzen, sich zu unterhalten. Die Anwohner vom Cafe Punkt haben sich schon hĂ€ufiger ĂŒber den LĂ€rm der „Halbstarken“, wie sie sie nennen, und der KleinkraftrĂ€der beschwert. 

Diesmal, am 12. Juli, rĂŒckt die Polizei an und will die Straße rĂ€umen. Neugierige kommen dazu. Die Mitglieder der Totenkopfbande denken nicht daran, wegzugehen und bleiben vor dem Lokal stehen. Ein Wasserwerfer von der Polizei biegt um die Ecke. Polizisten zĂŒcken ihre KnĂŒppel. 

Atmo aufgebrachte Menschenmenge + Polizeisirene 

Musik 1 aus.

Musik 2: Capri-Fischer – 14 Sek

SPRECHERIN

Jugendkrawalle passen nicht in das Klischee der 50er: Da kommt der Familienvater mit dem VW KÀfer von der Arbeit. 

ZSP 02 Millionenste KÀfer Nordhoff 

Unseren Volkswagen, so wie er heute ist, behalten wir noch sehr lange bei.

SPRECHERIN

WĂ€hrend ihr Ehemann in der Fabrik war, hat die Hausfrau die Wohnung geputzt und das Essen vorbereitet.

Musik 3 Willy Schneider - GrĂŒn ist die Heide – 31 Sek)

SPRECHERIN

Am Samstag geht’s ins Kino: Es lĂ€uft „GrĂŒn ist die Heide“. 

ATmo Schallplatte, Musik reißt ab:

SPRECHERIN

All das gehört zwar zum ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik, aber eben nicht nur.

ZSP 05 Biermann Buntheit vielseitiger

im Grundsatz ist diese Demokratie in den 50er-Jahren und auch das LebensgefĂŒhl viel vielseitiger, als uns aus der RĂŒckschau das vor Augen steht.

SPRECHERIN

Der Historiker Harald Biermann - PrÀsident des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.

ZSP 06 Biermann Proteste

Nur ein Beispiel: Herr Kraushaar, ein Historiker aus Hamburg hat eine Demonstrations-Chronik der 50er-Jahre herausgegeben, wo alle großen Demonstrationen in Westdeutschland nachgezeichnet werden. Und da stellt sich heraus, dass die großen Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung , fĂŒr die Demokratisierung, sozusagen der Institutionen, gegen die AusrĂŒstung der Bundeswehr mit Atomwaffen, das, dass grĂ¶ĂŸere Demonstrationen waren als 1968.

Musik 4: Der Staat gegen Fritz Bauer (Epilog) -  1:10 Min

SPRECHERIN

Kein Wunder, die Menschen mĂŒssen erst verhandeln, wie sie zusammenleben wollen: welche Normen und Regeln sollen fĂŒr eine Gesellschaft gelten, welchen Stellenwert sollen demokratische Prinzipien haben. 

Auf die Frage, wer am meisten fĂŒr Deutschland geleistet hat, landet Hitler in der frĂŒhen Bundesrepublik auf dem zweiten Platz, nach Bismarck. 

Die Alliierten stellen in den Jahren nach dem Krieg zwar NS-Verbrecher vor Gericht. Unter Kanzler Konrad Adenauer war dann aber erst mal Schluss mit der Entnazifizierung. Viele große und kleine Nationalsozialisten konnten in der Verwaltung des neuen Staates einfach weitermachen. Ein Beispiel ist Hans Globke. 1935 wurden die „NĂŒrnberger Gesetze" erlassen. Sie begrĂŒnden die Verfolgung von JĂŒdinnen und Juden im Nationalsozialismus. An den Gesetzen war auch Globke beteiligt. Er verfasste als Jurist einen wichtigen Kommentar zu den Gesetzen. Unter Konrad Adenauer wird er trotzdem Chef des Bundeskanzleramts.

ZSP 07 Biermann Allensbach Beste Zeit 33-39

Allensbach befragt immer wieder was sind die, was war die beste Zeit bisher im 20.Jahrhundert. Und da sagen ganz ganz viele Menschen und vor allem auch MĂ€nner. Ähm, die beste Zeit im zwanzigsten Jahrhundert waren 1933 bis 39, also sozusagen das Dritte Reich im Frieden. Und das Ă€ndert sich erst so Ende der 50er-Jahre, diese EinschĂ€tzung.

SPRECHERIN

Gehorsamkeit gegenĂŒber AutoritĂ€ten ist selbstverstĂ€ndlich. Der Idealtypus eines Mannes hat eine stramme Haltung und trĂ€gt Uniform. 

Und dann knattern da plötzlich ein paar Halbstarke in Lederjacke auf ihrem Moped durch die Stadt, hören „Dschungelmusik“, wie es heißt, und hĂ€ngen auf der Straße herum – wie beim Cafe Punkt im Wedding. Der Kulturschock fĂŒr viele Ältere muss unvorstellbar gewesen sein.

ZSP 8 Mrozek Flammenwerfer

Und bei allen VerstĂ¶ĂŸen gegen diese auch Ă€sthetischen Normen, die eigentlich noch in der NS-Zeit etabliert waren. Da war der Ruf nach Haare abschneiden, Konzentrationslager oder Flammenwerfer nicht weit.

SPRECHERIN

Bodo Mrozek ist Historiker am Institut fĂŒr Zeitgeschichte MĂŒnchen-Berlin und Autor des Buches „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“. 

Die Jugendlichen, die so viel Anstoß erregen: sie kommen hĂ€ufig aus der Arbeiterklasse und fallen auf, weil sie Jeans anhaben, manchmal Lederjacken und weil sie sich in Gruppen auf öffentlichen PlĂ€tzen treffen. 

Mitte der 1950er kommt es in vielen deutschen GroßstĂ€dten zu Krawallen. 

ZSP 9 Mrozek Hannover

Und es reichte da wenig aus, um zu provozieren. In Hannover gab es einen Fall, wo auf der Straße, Ă€h, Jugendliche ĂŒberhaupt nur getanzt haben. Ein Vater entdeckt seine Tochter bei diesen obszönen TĂ€nzen und zerrt sie davon, teilte aber vorher auch noch Boxhiebe an die jungen TĂ€nzer aus. Und die reagieren natĂŒrlich darauf. Daraus entwickelt sich so ein groß Krawall. Und da sieht man exemplarisch, dass jetzt eigentlich die Gewalt nicht immer von den Jugendlichen ausging, sondern oftmals von der erwachsenen Kommunalgesellschaft, die sich durch ungewohnte Kultur provozieren ließ.

Musik 5: Der Postraub -  39 Sek

SPRECHERIN

Die „Halbstarken“ sind Thema in vielen Tageszeitungen - und im Radio. 

ZSP 10 Diskussion mit Halbstarken 1 (frei ab 0:10  bis 0:23min; Archivnummer / Take: DK101130 Z00; Diskussion mit Halbstarken)

Seit Monaten hĂ€ufen sich in der der Tagespresse fast aller großen StĂ€dte der Bundesrepublik die fetten Schlagzeilen ĂŒber Verbrechen und Ausschreitungen Jugendlicher. Das heißt – Pfui! – Sei stad jetzt, was schreist denn jetzt scho, da hast ja danach nichts mehr drin in der Kehle.

SPRECHERIN

Der MĂŒnchner Stadtrat MĂŒhlbauer spricht aber nicht nur ĂŒber Halbstarke. Auch Jugendliche selbst kommen auf der Veranstaltung zu Wort, die der Bayerische Rundfunk am 21.09.1956 sendet.

ZSP 11 Diskussion mit Halbstarken 2 (ab 0:08min; Archivnummer / Take: DK101130 Z00; Diskussion mit Halbstarken)

Man kann die VorfÀlle, die heute ab und zu vorkommen, einfach nicht der gesamten Jugend in die Schuhe schieben!

SPRECHERIN

Die Hysterie, die um die JugendkriminalitĂ€t entsteht, sagt vielleicht weniger ĂŒber die Jugend aus als ĂŒber die sich empörenden BĂŒrger.

ZSP 12 Mrozek JugendkriminalitÀt

Man ging also auch in wissenschaftlichen Untersuchungen damals davon aus, wenn jetzt minderschwere Abweichung von der Norm geschehen, dass da eine ganze Generation von Kriminellen heranwÀchst, die dann auch als Erwachsene das Land dominieren. 

SPRECHERIN

Dabei ist die Abweichung von der Norm, zumindest auf der popkulturellen Ebene, genau das, was auch in der großen Politik passiert. 

Kanzler Konrad Adenauers Regierung aus Union und FDP setzt die Westbindung durch. 1955 grĂŒndet die Bundesrepublik die Bundeswehr und tritt der NATO bei.

ZSP 13 Adenauer NATO (Archivnummer: H0000850020)

Ich sehe in dem Eintritt der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt, einen Ausdruck der Notwendigkeit, den engen Nationalismus zu ĂŒberwinden, der in den Vergangenen Jahrhunderten vielen UnglĂŒcks war.

SPRECHERIN

Die Jugendlichen orientieren sich auch nach Westen und hören amerikanische Rock’n’Roller wie Bill Haley oder Elvis Presley und schauen Filme mit Marlon Brando. 

Musik 6:  Elvis Presley - Don't be cruel (to a heart that's true) – 37 Sek

SPRECHERIN

Ganz nebenbei entsorgen sie schon mal ein preußisches MĂ€nnerideal, das viele Deutsche noch lĂ€nger hochhalten. 

Die Stars aus Amerika – und deren deutsche Nachahmer wie der SĂ€nger Peter Kraus – begeistern durch LĂ€ssigkeit, nicht durch stramme Haltung. In der ganz frisch gegrĂŒndeten Jugendzeitschrift Bravo steht neben einem Poster von Marlon Brando.

SPRECHER 2 

„Marlon ist ein so salopper Zivilist, daß er sich grundsĂ€tzlich in keiner Uniform wohlfĂŒhlt.“

Musik 7: Conny – Lippenstift am Jacket – 34 Sek

SPRECHERIN

Die Bravo schreibt natĂŒrlich auch ĂŒber Schlagerstars, die die deutsche Hitparade dominieren. Fred Bertelmann, Peter Alexander, Margot Eskens, Freddy Quinn und Conny


Musik hoch


SPRECHERIN

Die neue LĂ€ssigkeit und die Abkehr vom Soldatenideal passt auch zu den Protesten gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Viele lehnen Anfang des Jahrzehnts eine neue deutsche Armee ab – aus Kriegsangst, die auch durch die Geschehnisse im Fernen Osten bestĂ€rkt wird

1950 greift Nordkorea SĂŒdkorea an. Ähnlich wie DDR und BRD sind die beiden LĂ€nder aus einer sowjetischen und einer US-amerikanischen Besatzungszone hervorgegangen. Der Historiker Harald Biermann: 

ZSP 16 Biermann Kriegsangst

Kriegsangst war eben real, weil sechs Jahre zuvor der grĂ¶ĂŸte Waffengang der Weltgeschichte zu Ende gegangen war. Also jeder konnte sich damals vorstellen, was es heißt, in Mitteleuropa einen Krieg zu haben. Und dieses koreanische Muster sozusagen drohte eben auch in Europa umgesetzt zu werden.

SPRECHERIN

Der ĂŒberstandene Krieg prĂ€gt die Zeit – das heißt aber nicht, dass nun in der Bundesrepublik die deutsche Schuld zum öffentlichen Thema wird. Die meisten sehen sich selbst als Opfer des Krieges und als von Hitler und seiner Verbrecherclique VerfĂŒhrte.

ZSP 17 Biermann BeschÀftigung NS

Es ist keine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, aber durchaus eine BeschĂ€ftigung mit der Vergangenheit, obwohl natĂŒrlich gesagt werden muss, dass zum Beispiel die Vernichtung der europĂ€ischen Juden im Großen und Ganzen kein gesellschaftliches Thema ist.

Musik 8: Der Staat gegen Fritz Bauer – siehe oben – 53 Sek

SPRECHERIN

Über den Holocaust wird nicht gesprochen.

Die Wehrmacht gilt im Gegensatz zur SS als saubere Armee und wird gerade nach der Wiederbewaffnung 1955 in Kriegsromanreihen gefeiert. „Der Landser“ verkauft sich hunderttausendfach. 

Die Kriegsangst tritt da schon in den Hintergrund. 1953 ist der Koreakrieg zu Ende gegangen.

1955 erlangt die Bundesrepublik dann auch die SouverĂ€nitĂ€tsrechte von den Alliierten zurĂŒck. Und eine andere Nachricht rĂŒhrt das ganze Land: Adenauer reist nach Moskau. In Sachen Wiedervereinigung erreicht er nichts, aber er bringt die Nachricht mit nach Hause, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen von den Sowjets entlassen werden. Die „Heimkehr der Zehntausend“. 

TON 18 Biermann Aufbruch

Das war natĂŒrlich ein Aufbruch in eine neue Zeit, auch ein nachholen, also einerseits davongekommen, andererseits Aufbruch. Und dann, wenn die 50er-Jahre sich etwas weiterentwickeln, auch zunehmender Wohlstand der aber, und das muss man hier, glaube ich, noch einmal unterstreichen, hart erarbeitet werden musste.

Musik 9: Wirtschaftswunder  Archivnummer: ZZ223375220 – 19 Sek

„Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder“


SPRECHERIN

Das Wirtschaftswachstum liegt im Durchschnitt bei 8 Prozent. Heute unvorstellbar. 

ZSP 20 Ludwig Erhard - Wirtschaftskommentar Zukunft

Was hinter uns liegt, die Wiedererstarkung deutschen Lebens aus TrĂŒmmern und Verzweiflung mag uns wohl Trost und Hoffnung geben, dass in solchem Sinne Vergangenheit fruchtbar und lebendig bleibt,

SPRECHERIN

Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seiner Zigarre ist die Ikone dieser Zeit.

ZSP 20 Erhard weiter

aber alles was den Menschen und ein ganzes Volk bewegt, gilt der Zukunft, hofft auf das morgen.

SPRECHERIN 

Sechs Tage die Woche, 48 Stunden arbeiten viele Deutsche zu der Zeit. 

ZSP 21 Werbung fĂŒr Coca Cola aus den 50ern: Archivnummer / Take: WR030570 Z00 – 4 Sek – Sendereichte frei

Mach mal Pause, Coca-Cola!

SPRECHERIN 

Die deutschen MĂ€nner vor allem sind erwerbstĂ€tig. Nachdem die Frauen in der Kriegszeit den Laden geschmissen haben, sollen sie sich wieder um den Haushalt und die Familie kĂŒmmern. Oder wenn, dann in Bereichen arbeiten, die den Frauen vorbehalten sind. 

ZSP 22 Werbung Uhu (WR031670113, Senderechte frei)

Gisela, eine SekretÀrin wie tausend andere

-Ich nehme Uhu gegen Laufmaschen. Einfach toll!

-Aah.

Musik 10 – Ein guter Informant – 1:05 Min

SPRECHERIN 

„MĂ€nner und Frauen sind gleichberechtigt.“ – so steht es im Grundgesetz von 1949. Und das nur, weil Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Wessel und Helene Weber dafĂŒr gekĂ€mpft haben. Neben 61 MĂ€nnern waren sie die einzigen vier Frauen im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz erarbeitet hat. 

Die Adenauer-Regierung tut dann aber wenig dafĂŒr, diesen Satz aus der Verfassung mit Leben zu fĂŒllen. 

ZSP 23 Adenauer Frauen [Archivnummer: DK30105]

Wir MĂ€nner merken eigentlich immer erst, was unsere Frauen bedeuten, wenn sie fehlen. Dann fehlt es ĂŒberall im Haus. 

SPRECHERIN

Noch bis 1957 gilt folgender Paragraph im BĂŒrgerlichen Gesetzbuch: 

SPRECHERIN 2 

"Dem Mann steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung."

SPRECHERIN

Erst Ende der 50er erhalten Frauen bekommen mehr Rechte und die Arbeiter mehr Freizeit. Erste Branchen fĂŒhren den freien Samstag ein. Die meisten Vatis werden am langen Wochenende trotzdem nicht die Kinder hĂŒten – oder beim Zubereiten des Sonntagsessens helfen:

ZSP  26 Biermann Schmorrbraten

Lang gebraten, Schmorrbraten mit Leipziger Allerlei und frischen Kartoffeln. 

SPRECHERIN

Der PrĂ€sident des Hauses der Geschichte Deutschlands Harald Biermann nennt ein typisches Essen fĂŒr die Zeit. 

ZSP 27 Biermann Fresswelle

NatĂŒrlich gab es diese Fresswelle, dass man eben nachholte, was in den Vierzigerjahren sagen wir jetzt mal nicht möglich war. Aber wenn man jetzt ökologisch korrekt ernĂ€hrungstechnisch auf dem neuesten Stand wĂ€re, muss man sagen, dass die ErnĂ€hrung wahrscheinlich in den 50er Jahren besser war, weil man eben Braten nur sonntags aß also. Sonst gab es in den ganz vielen FĂ€llen kein Fleisch.

SPRECHERIN

Die ersten Urlauber beginnen in den 50ern schon die lange beschwerliche Reise auf der alten Brenner-Passstraße nach Italien. Mitte des Jahrzehnts fĂ€hrt aber erst ein Viertel aller Deutschen ĂŒberhaupt auf Urlaubsreise. Das Ziel liegt fast immer in Deutschland. Und viele können von Reisen nur trĂ€umen. Gerade weil die Welt fĂŒr viele noch so weit weg ist, gedeiht das Fernweh.

Musik 11:  Komm ein bisschen mit nach Italien  – 15 Sek

Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer. Und wir tun als ob das Leben eine schöne Reise wĂ€r


Musik 12: Tipitipitipso LÀnge: 30 Sek - 

SPRECHERIN

Noch weiter weg als Italien – vollkommen unvorstellbar. Aber im Kino oder im Schlager: Da ist alles möglich

Musik 13: SchwarzwaldmÀdel - 13 Sek

SPRECHERIN

Nicht nur im Schlager ist die Welt in Ordnung – auch im Heimatfilm.

ZSP 32 Biermann Kino

Der Heimatfilm hatte eine Entlastungsstrategie also gerade in den frĂŒhen 50er-Jahren. Wenn man, wenn man sagt, rund um mich herum war viel Vernichtung, war auch viel Ärger, war viel Anstrengung, dann entfloh man eben fĂŒr anderthalb Stunden in ein Kino.

ZSP 33 34 Biermann GrĂŒn ist die Heide

also wenn sie an „GrĂŒn ist die Heide“ denken dann das war, glaube ich, der erfolgreichste Heimatfilm. 

Musik 14: „Geheimnis“ – 50 Sek 

SPRECHERIN

In „GrĂŒn ist die Heide“ wird ein verbitterter Vertriebener zum Wilderer. FrĂŒher hatte LĂŒder LĂŒdersen ein herrschaftliches Anwesen und viel Wald. Nach der Flucht aus dem Osten mit seiner Tochter in die LĂŒneburger Heide muss er als Verwalter arbeiten – und wildert. Als ein Gendarm erschossen wird, fĂ€llt der Verdacht auf ihn. Dabei steckt ein wirklich gewissenloser Wilderer und Schurke hinter dem Mord. Auf ihn trifft er in der Heide. Es kommt zum Kampf, LĂŒdersen wird verwundet. Aber der Förster rettet ihm das Leben - und kommt endgĂŒltig mit dessen Tochter zusammen.

ZSP 33 34 Biermann GrĂŒn ist die Heide weiter

Da wird schon sehr genau darauf geachtet, das die Vertriebenen, die eben dort auch eine Rolle spielen, sozusagen dann in die Heimat integriert werden. Und das sind schon - also bei aller sage ich mal oberflĂ€chlichen Ästhetik, ganz interessante gesellschaftliche Entwicklungen, die dort abgebildet werden. 

Musik 15: Das Verhör der Gang – 20 Sek

SPRECHERIN

Aber auch um die jugendlichen Mopedfahrer drehen sich Filme. Einer heißt sogar „Die Halbstarken“. Die Hauptfigur Freddy stiftet seine Bande zum Überfall auf ein Postauto an. Am Ende geht alles furchtbar schief und er wird verhaftet.

1957 zĂ€hlen die Kinos ĂŒber 800 Millionen Besucher. Zum Vergleich: 2023 sind es unter 100 Millionen. Die Menschen suchen in den 50ern im Kino nicht nur Ablenkung. Es laufen auch Nachrichten: Die Wochenschauen. Da die Fernseher erst langsam in den Wohnzimmern ankommen, informieren die Menschen sich in den Kinos. Mit der Zeit haben sie immer mehr Geld fĂŒr Musiktruhen, Schallplatten, Mopeds und Schmorbraten. Der Konsum zeigt vielleicht am besten, dass die 50er wie jedes Jahrzehnt einer willkĂŒrlichen Einordnung folgen. Denn die Unterschiede zwischen 1950 und 1959 sind gewaltig. Das Geld, das zum Ausgeben ĂŒbrigbleibt, verdoppelt sich in dem Zeitraum. Vom Wirtschaftswunder-Chanson kennt jeder den Refrain, aber so fĂ€ngt er an:

Musik 16  Jetzt kommt das Wirtschaftswunder – 18 Sek

Die Straßen haben EinsamkeitsgefĂŒhle und fĂ€hrt ein Auto ist es sehr antik.

SPRECHERIN

Aber dann kommt das Wirtschaftswunder und 1955 lÀuft der Millionste KÀfer vom Band.

ZSP 36 Biermann Staus

Anfang der 50er Jahre hatte fast niemand ein Auto, und Ende der 50er-Jahre gibt es in allen grĂ¶ĂŸeren StĂ€dten Staus.

Musik 17: Goofin‘ around – siehe vorn – 17 Sek

SPRECHERIN

So langsam konnten sich die BĂŒrger wieder was leisten. Nach Jahren des Darbens, haben alle freudig mitkonsumiert. Auch die aufmĂŒpfigen Jugendlichen mit ihren Mopeds hĂ€tten gewollt. Die „Halbstarken.“ Die amerikanischen Stars machen ihnen ja vor, wie man lĂ€ssig aussieht. 

SPRECHERIN

Der Historiker Bodo Mrozek hat zu Jugendkulturen in der Mitte des 20. Jahrhunderts geforscht. 

Der Markt hat im Gegensatz zu den Eltern kein Problem mit den aufmĂŒpfigen Jugendlichen- und bald gibt es alles, was deren Herz begehrt. 

ZSP 38 Mrozek Bravo Mode

Diese Wirtschaftsgeschichte ist ja kaum zu verstehen, wenn man nicht die Attraktion popkultureller Images versteht, von der Schallplatte ĂŒbers AbspielgerĂ€t zum ĂŒbers Kleinkraftrad hin bis zum T-Shirt. Das sind ja eigentlich die AnsĂ€tze, die auf kultureller Ebene gesetzt werden und dann in Angebot und Nachfrage zu harter Wirtschaftsgeschichte umgemĂŒnzt worden sind.

SPRECHERIN

Am Ende der 50er stellen Meinungsforscher dann fest: Die ganze Aufregung, um eine kriminelle Generation, die da angeblich heranwÀchst, war umsonst. Die Jugendlichen teilen die Werte der Elterngeneration.

ZSP 39 Mrozek Werte der Elterngeneration

Sie wollten ein Eigenheim, einen sicheren Job und eine Familie grĂŒnden. 

SPRECHERIN

Und doch haben die so genannten Halbstarken einen Anteil daran, wie wir heute leben. Sie haben damit begonnen, die Kultur in Deutschland umzukrempeln.

ZSP 40 Mrozek Avantgarde

Das war ja eigentlich genau die Westbindung, die die Bundesrepublik auch durch die Kulturpolitik, die starke Orientierung an Amerika allmÀhlich vollzogen hat, um eben auch aus diesem deutschen Nationalismus. Und man muss ja auch sagen, aus dem Nationalsozialismus allmÀhlich heraus zu kommen. Und so gesehen waren die Jugendlichen schon eine Avantgarde, die kulturelle Entwicklung vorweggenommen hat, die die Bundesrepublik spÀter ganz offiziell vollzogen hat, auch wenn es zu keine expliziten politischen Forderungen gehabt, die von dieser Jugend jetzt lautstark erhoben worden wÀren.

SPRECHERIN

Die 50er Jahre in der Bundesrepublik waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs. Viel lebendiger und aufregender als unser kollektives GedĂ€chtnis hĂ€ufig erinnert. Optimismus und steigender Wohlstand prĂ€gen das LebensgefĂŒhl. Demokratische Werte finden immer mehr Resonanz, aber es wird noch dauern, bis es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der deutschen Schuld gibt. Die Vernichtung der europĂ€ischen Juden ist eine dröhnende Leerstelle, ĂŒber die so gut wie keiner spricht.

Musik 18: Der Staat gegen Fritz Bauer (Epilog) – siehe vorn – 41 Sek

Trotz des Aufbruchs, die biedere und ordnungsliebende Anmutung der Zeit, von der sich die Halbstarken abgewendet haben, ist nicht im Nachhinein erfunden. Das zeigt auch ein letztes Klischee, das hier entlarvt werden soll. 

Musik 19 – Immer elegant – 36 Sek

50er Jahre Möbel aus dem 20. Jahrhundert sind im 21. Jahrhundert wieder gefragt. Der Nierentisch mit leicht schrĂ€g nach außen stehenden Beinen ist hip.  

ZSP 41 Biermann Nierentisch

So sah aber keine Wohnung aus. Die RealitĂ€t war immer allgemeiner gesprochen. Die RealitĂ€t war Gelsenkirchener Barock. Also die Menschen vertrauten auf die Möbel, die sie haben retten können, aus den 20er oder 30er Jahren. Also Eiche rustikal Schrankwand und der röhrende Hirsch ĂŒber dem ĂŒber dem Sofa.