radioWissen - Bayern 2   /     Hokusais große Welle: Wirbel um ein Bild vom Meer

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"Die große Welle vor Kanagawa" ist eines der bekanntesten Kunstwerke der Welt. Der Farbholzschnitt des Japaners Katsushika Hokusai inspirierte schon die Künstler der klassischen Moderne, heute findet man sie auf Tassen, T-Shirts und Tapeten. Aber was ist so Besonderes an einem Bild von einer Welle? Von Julie Metzdorf

Subtitle
Duration
00:23:24
Publishing date
2024-07-21 12:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/hokusais-grosse-welle-wirbel-um-ein-bild-vom-meer/2095838
Contributors
  Julie Metzdorf
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https://media.neuland.br.de/file/2095838/c/feed/hokusais-grosse-welle-wirbel-um-ein-bild-vom-meer.mp3
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Shownotes

"Die große Welle vor Kanagawa" ist eines der bekanntesten Kunstwerke der Welt. Der Farbholzschnitt des Japaners Katsushika Hokusai inspirierte schon die Künstler der klassischen Moderne, heute findet man sie auf Tassen, T-Shirts und Tapeten. Aber was ist so Besonderes an einem Bild von einer Welle? Von Julie Metzdorf

Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Xenia Tiling
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Karin Becker

Im Interview:
Dr. Thomas Tabery, Leiter der Orient  und Asienabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLERIN

Im Vordergrund: Eine riesige Welle. Vom linken Rand aus rollt sie in das Bild hinein, nimmt die gesamt linke Bildhälfte ein, oben reicht sie bis knapp unter den Rand des Bildes. Wir sehen genau den Moment, in dem die Welle zu brechen beginnt, am Wellenkamm hat sich weißer Schaum gebildet, Gischt spritzt und gleich wird dieser Wasserberg in sich zusammenstürzen: „Die große Welle vor Kanagawa“ ist ein Farbholzschnitt aus dem Jahr 1830, geschaffen vom japanischen Künstler Katsushika Hokusai. Thomas Tabery, Leiter der Orient  und Asienabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek:

1 OT Welle

Ob sie tatsächlich realistisch ist, das ist die Frage. Sie wurde immer wieder auch als ein Tsunami dann später interpretiert. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen Tsunami handelt, ich glaube nicht, dass Hokusai das darstellen wollte. Durch verschiedene gegenläufige Wellenbewegungen in einem Meer können wohl in der Bucht von Tokio solche Wellen entstehen.

MUSIK 2 ( Ryuichi Sakamoto: Rain (I Want A Divorce) 0‘34)

ERZÄHLERIN

Das tiefe Wellental gibt den Blick auf den Hintergrund frei. Dort erhebt sich, in aller Ruhe, ein schneebedeckter Berg. Die Ruhe, die er ausstrahlt, hat etwas mit seiner Form zu tun: die Hänge bilden ein gleichschenkliges, absolut symmetrisches Dreieck. Der Berg liegt in der rechten Bildhälfte, mit viel Himmel über sich, als große cremefarbene Fläche. Im Vergleich zur Welle ist er winzig klein, in Wahrheit handelt es sich um den höchsten Berg Japans: den Fuji.

2 OT Fuji

Ein Vulkanberg, mit knapp 3800 Metern Höhe, und dieser Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen diesem dramatischen Geschehen und diesem fern entrückten Heiligenberg im Hintergrund, gibt dem Bild eine gewisse Spannung.

ERZÄHLERIN

Im Rahmen der japanischen Shinto-Religion wird der Fuji als heiliger Berg verehrt, mehr als 1300 Schreine am Fuß und am Hang des Bergs sollen die in ihm wohnende Gottheit besänftigen. Auch im japanischen Buddhismus gilt eine Besteigung des Bergs als Ausdruck des Glaubens. Und selbst Nichtgläubige können dem Fuji einiges abgewinnen: wegen seiner symmetrischen Kegelform gilt er als schönster Berg der Welt.

Erst bei genauerer Betrachtung von Hokusais Farbholzschnitt, entdeckt man die Boote im Wasser:

3 OT Boote

Boote, die von Wind und Wellen hin und her geworfen, unter dieser Welle sich befinden. Der Wellenkamm scheint förmlich nach den Booten und den winzigen Menschen darin zu greifen. Bei den Booten handelt es sich übrigens wohl um Boote, die die Märkte in Edo, der Hauptstadt, mit Fischen und anderen Gütern versorgen.

MUSIK 3 ( Damian Scholl: Japan 1‘05)

ERZÄHLERIN

Offiziell heißt das Kunstwerk übrigens nicht „Die große Welle“, sondern „Unter der Welle im Meer vor Kanagawa“. Die originale Bezeichnung lenkt den Blick stärker auf die Boote und die Situation der Menschen. Die große Welle ist direkt über ihnen. Trotzdem ist an Bord keine Panik zu spüren. Die Menschen sind nur schwer zu erkennen, in jedem Boot befinden sich vier, vielleicht auch acht Personen in einheitlich dunkelblauer Kleidung, sie liegen oder kauern dicht und wohlgeordnet nebeneinander jeweils am Ende des Boots, als wollten sie es stabilisieren. Vielleicht kennen sie solche großen Wellen schon. Das Rudern haben die Menschen an Bord längst aufgegeben, sie überlassen die Boote der Naturgewalt und schlingern damit wie Treibholz durch die Wellen. 

4 OT keine Panik

Also vielleicht ist die Situation nicht so dramatisch, wie sie sich für uns jetzt darstellt. Und vielleicht ist auch der Berg Fuji im Hintergrund ja das Element in diesem Bild, das Hoffnung gibt und sozusagen die Aussicht auf das Happy End bei dieser Geschichte oder bei dieser Unternehmung nahelegt.

MUSIK 4 (SINE: Ocean Dreams 0‘34)

ERZÄHLERIN

Wellen, Berg, Boote: aus nur drei Elementen hat der Japaner Katsushika Hokusai eines der berühmtesten Kunstwerke der Welt geschaffen. Nachahmungen der Welle zieren nicht nur die üblichen Tassen und T-Shirts, sondern auch Turnschuhe, Golfbälle, Unterhosen und ganze Tapeten. Ja es gibt sogar ein Emoji, das eindeutig von Hokusais Welle inspiriert ist und das man am Smartphone in eine Textnachricht einfügen kann, wenn man irgendwas mit Wasser ausdrücken möchte.

Aber Warum ist ausgerechnet dieses Bild so berühmt geworden? Was fasziniert die Menschen verschiedener Epochen und Kulturkreise so sehr an der Darstellung einer Welle?

Laut Thomas Tabery liegt das unter anderem an der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten:

5 OT mehrere Deutungen (zusammenschneiden)

Also wir sehen zum einen die Natur in ihrer Schönheit, zum anderen aber auch in ihrer Zerstörungskraft. Und das gilt nicht nur für die Welle, sondern natürlich auch für den Fuji als Vulkanberg. Zum anderen ist hier auch der Gegensatz zwischen Flüchtigkeit, Vergänglichkeit einerseits und Ewigkeit andererseits sichtbar, das bedrohte menschliche Leben im Vordergrund, der als heilig verehrte Berg Fuji im Hintergrund.

MUSIK 5 ( Kevin Shields: Goodbye 1‘07)

ERZÄHLERIN

„Unter der Welle im Meer vor Kanagawa“ ist ein Bild voller Kontraste: Mensch und Natur, nah und fern, flüssig und fest, bewegt und statisch. Zugleich ist alles miteinander verwoben und verzahnt. Die Boote zum Beispiel schmiegen sich in ihrer Sichelform perfekt ins Wellental. Eine kleinere Welle ganz vorn im Bild entspricht mit ihrer Dreiecksform fast eins zu eins dem Berg Fuji. Der Schnee auf seiner Kuppe sieht genauso aus wie die weißen Schaumkronen der Wellen. Und die sprühende Gischt gleicht Schneeflocken, ja es sieht aus, als würde es am Gipfel des Fuji gerade schneien. Alles ist miteinander verbunden. Auch der vermeintlich so ruhige Fuji ist immer noch ein Vulkan: Im Zentrum der Ruhe ballt sich das Magma. 

Katsushika Hokusai ist der berühmteste Künstler Japans. Geboren wurde er 1760 in der Hauptstadt Edo, dem heutigen Tokio. In seinem langen Leben – Hokusai wurde 90 Jahre alt – soll er an die 5.000 Werke geschaffen haben, darunter Gemälde, Zeichnungen, Buchillustrationen und unzählige Vorlagen für Farbholzdrucke.

6 OT Charakter

Hokusai war einfach ein herausragender Künstler, war zu Lebzeiten schon bekannt. Er war ungeheuer produktiv und hat ein unstetes Leben geführt, unzählige Male den Wohnsitz gewechselt, verschiedene Künstlernamen angenommen … er muss auch eine exzentrische Seite besessen haben.

ERZÄHLERIN

Diese exzentrische Seite zeigt sich etwa in einer Anekdote über einen Malwettbewerb am Hof des Shoguns, des Herrschers im vormodernen Japan:

7 OT Malwettbewerb

Der Kontrahent von Hokusai bei diesem Wettbewerb, … hat also lange an seinem Werk vor sich hingemalt, wohingegen Hokusai einfach eine Papierrolle Blau gefärbt hat, Blau angemalt hat, dann ein Huhn, ein lebendes Huhn aus einem Korb genommen hat, die Füße des Huhns in rote Farbe getaucht hat und das Huhn dann über diese blaue Rolle hat laufen lassen. Genannt hat er das Ganze „Ahornblätter treiben auf dem Fluss“. Vom Genie des Malers, des Künstlers Hokusai beeindruckt, hat der Shogun ihm dann den Preis zugesprochen.

MUSIK 6 ( Ryuichi Sakamoto: Picking Up Brides 0‘45)

ERZÄHLERIN

Die große Welle schuf Hokusai als erfahrener Künstler von 70 Jahren. Das Blatt ist 25 x 37 cm groß, also genau zwischen einem DIN A4 und einem DIN A3-Blatt. Es ist Teil einer ganzen Serie von Holzschnitten mit dem Titel „36 Ansichten des Bergs Fuji“. 

Solche Serien von Holzschnitten waren in Japan seit Mitte des 18. Jahrhunderts sehr populär. „Die 36 Ansichten des Berges Fuji“ hatten solchen Erfolg, dass Hokusai weitere Blätter hinzufügte, am Ende waren es 46 Ansichten des Fuji, am Titel der Serie änderte sich aber nichts. Jedes Blatt zeigt den Vulkan aus einer anderen Perspektive und zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten: Mal im Nebel, mal in der Abendsonne. Mal in leuchtendes Rot getaucht, mit weißen Linien, die wie Lavastreifen vom Krater aus herunterlaufen. Mal mit Handwerkern im Vordergrund, die ein Haus bauen, oder Reisenden, die sich auf den Schultern kräftiger Männer durch einen Fluss tragen lassen. „Die große Welle vor Kanagawa“ war bereits zur Entstehungszeit besonders beliebt. In mancherlei Hinsicht sticht diese Darstellung des Fuji unter den anderen Blättern der Serie heraus:

9 OT Serie 

Eine Besonderheit dieses Blattes ist, dass er halt so klein im Hintergrund ist und trotzdem natürlich sich auch einfügt harmonisch, durch die Farben, durch die Formen, die man sonst auf diesem Blatt sieht.  

ERZÄHLERIN

Die Drucke wurden einzeln als Souvenir für Reisende verkauft, aber auch an die lokale Bevölkerung. Sie galten als Gebrauchskunst und waren nicht besonders teuer. Es waren ja keine Unikate. Üblicherweise gab es mehrere hundert Abzüge, von der beliebten großen Welle vielleicht sogar mehrere Tausend. Doch Gebrauchskunst hin oder her: Die Qualität der Drucke war herausragend. 

Die Herstellung eines Mehrfarbendrucks ist eine komplexe Angelegenheit und gelangte in Japan zu höchster Blüte. 

10 OT Druckvorgang  

Die Herstellung eines Farbholzschnitts war ein arbeitsteiliger Prozess. Ein Verleger finanzierte das ganze Vorhaben. Ein Künstler entwarf eine Vorzeichnung, eine genaue Vorlage, die dann an die Holzschneider übergeben wurde. Die haben dann in eine Holzplatte diese Vorlage geschnitten und somit einen Druckstock hergestellt.

ERZÄHLERIN

Hokusai hatte selbst ursprünglich eine Lehre als Holzschneider gemacht. Später arbeitete er in der Werkstatt eines Malers und Zeichners von Farbholzschnitten, bis er sich schließlich als Künstler selbständig machte. Idee und Komposition der Großen Welle stammen also von ihm, den Druckstock schnitten andere. Durch seine Ausbildung aber kannte Hokusai die Tücken und Möglichkeiten des Holzschnitts sehr gut, er wusste, welche Effekte möglich waren und konnte dieses Wissen in seine Vorlage einfließen lassen. Die Schaumkronen der Wellen zum Beispiel sehen aus wie Adlerklauen, die nach den Booten greifen. Die Schnitzer mussten dazu Hunderte sichelförmig geschwungenen Stege aus dem Druckstock herausarbeiten.

11 OT

Und schließlich kamen die Drucker ins Spiel, die dann mit Pinseln die Farben auf den Druckstock aufgetragen haben. Dann wurden die Papierbögen auf diesen Druckstock aufgelegt und angedrückt. Das heißt, in Japan wurde von Hand gedruckt, Druckerpressen kannte man nicht, und dieser Vorgang wurde jetzt für jede Farbe, für jeden Druckstock wiederholt, bis schließlich dann ein fertiger Mehrfarbendruck entstanden war. 

ERZÄHLERIN

Bis zu 15 verschiedene Farben pro Farbholzschnitt wurden auf diese Weise gedruckt.

Die Farben der großen Welle sind besonders bemerkenswert. Hokusai verwendet hier ausgiebig sogenanntes Preußischblau, in Japan auch als Berliner Blau bekannt. 

12 OT Preußischblau

Preußischblau wurde Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in einem Berliner Labor entdeckt Und Hokusai verwendet diesen Farbstoff in dieser Serie „36 Ansichten des Berges Fuji“ wirklich, ja, exzessiv kann man sagen und ganz bewusst. Denn dieser Farbstoff hat es ihm ermöglicht, ein unglaublich kräftiges Kolorit zu erzielen mit Blautönen, die mit anderen blauen Farben wie zum Beispiel Indigo so nicht zu erzielen waren. Und auch die Kombination zwischen den verschiedenen Blautönen hat einfach bei der großen Welle hier diesen fast dreidimensionalen, ja plastischen Effekt erzielt. Denn wenn man sich das jetzt anschaut, sieht man, dass zunächst mit Preußischblau die hellen Passagen der Wellen gedruckt wurden, dann wurde ein dunkleres Preußischblau drüber gedruckt, und darüber wurde als dritte blaue Farbschicht noch einmal Indigo gedruckt. 

MUSIK 7 ( SINE: Full Moon 0’55)

ERZÄHLERIN

Durch die Farbabstufungen gelingt es Hokusai, dem Blatt mehr Tiefe zu verleihen: die Wölbungen der Wellen werden stärker spürbar, die Welle wirkt dynamischer und kraftvoller. Überhaupt hat das Blatt eine große Raumtiefe: die große Welle im Vordergrund, der weit entfernte Fuji ganz klein im Hintergrund – das ist die Logik der europäischen Zentralperspektive. Japanische Holzschnitte sind eigentlich für ihre Flächigkeit bekannt. Hokusai aber hatte sich intensiv mit westlicher Malerei auseinandergesetzt. Er verwendet hier also nicht nur eine europäische Farbe, sondern auch die Konstruktion des Bildraums trägt europäische Züge. Typisch japanisch hingegen ist das Motiv – der Fuji – und die Technik des Farbholzdrucks mit seinen Konturlinien.

 13 OT Umrisslinien 

Also eine Besonderheit das Farbholzschnitts ist es ja, dass wir überall Umrisslinien haben, was sich ja vom europäischen Holzschnitt, auch vom chinesischen, unterscheidet, wo das eigentlich so aquarellartig, dann so ein bisschen ausläuft. Wir haben hier immer Umrisslinien, und das ist natürlich auch ein Merkmal des Comics, dass es diese Umrisslinien gibt, deswegen vielleicht diese Assoziation.

ERZÄHLERIN

Auch klassische Comics haben Konturlinien und sind meist mit wenigen gleichmäßigen Farbflächen gedruckt. Das könnte einer der Gründe dafür sein, dass auch junge Menschen Die große Welle schätzen: Die Ästhetik ist ihnen von Comics vertraut. 

Dank der Umrisslinien und der reduzierten Farben lässt sich die Große Welle übrigens auch sehr gut reproduzieren. Auch das hat sicher zur Verbreitung beigetragen. 

MUSIK 8( Kevin Shields: Ikebana 1‘04)

In Japan war Hokusai bereits zu Lebzeiten hochverehrt und sehr populär. Viele seiner Werke könnte man als Volkskunst bezeichnen, er zeigte, was das Publikum liebte: berühmte Schauspieler zum Beispiel oder Szenen aus den Vergnügungsvierteln Tokios. „Bilder der fließenden Welt“ nannte man dieses Genre:

14 OT Bilder der fließenden Welt

Eigentlich ursprünglich ein Begriff aus dem Buddhismus, ukiyo, das Vergängliche, das mit Sinn gefüllt werden muss, hat sich der Begriff gewandelt, hin zu der Bedeutung, ja, die Freuden der vergänglichen, der fließenden Welt, die genossen werden wollen und die dann auf diesen Holzschnitten dargestellt worden sind. Also Szenen aus dem Theater, Kurtisanen, Darstellungen von Sumo-Wettkämpfen und so weiter und so fort.

ERZÄHLERIN

Die „36 Ansichten des Fuji“ schlagen da vollkommen aus der Reihe. Trotzdem war die Serie extrem beliebt:

15 OT Genre Landschaft

Das Besondere ist, dass diese Serie tatsächlich Landschaftsdarstellung in den Mittelpunkt stellt, das gab es vorher so noch nicht. Landschaft wurde natürlich in der Malerei im Holzschnitt auch immer dargestellt, aber gerade im Holzschnitt in Japan war Landschaft vor allem ein dekoratives Element im Hintergrund bei der Darstellung von Personen. Jetzt in den 1830ern, durch Künstler wie Hokusai, wird Landschaft zu einem eigenen Genre.

MUSIK 9 ( KENGYO: Natsu no kyoku 0‘43)

ERZÄHLERIN

Die Entwicklung dieses Genres hing eng mit der Zensur zusammen: Ab dem späten 18. Jahrhundert mussten in Japan alle Drucke der staatlichen Zensurbehörde zur Prüfung vorgelegt werden. Politische Anspielungen waren untersagt, auch historische Ereignisse wurden oft zensiert, außerdem durften die Darstellungen nicht zu viel Luxus zeigen. Landschaften waren da per se unverdächtig. 

Zudem interessierte sich Hokusai wirklich für die Natur. Dem Vorwort zu einem seiner Bücher ist zu entnehmen, wie sehr ihm die möglichst lebendige Nachahmung von Vögeln, Fischen und Pflanzen am Herzen lag. 

Die große Welle sorgte in Europa schon früh für Wirbel. Und das, obwohl sich Japan zu Hokusais Lebzeiten in einem Zustand der Abschottung gegenüber dem Rest der Welt befand: Als Reaktion auf das aggressive Eindringen portugiesischer Händler und christlicher Missionare hielt Japan seine Grenzen von 1640 bis in die 1850er Jahre geschlossen. Es war kaum möglich, das Land zu verlassen oder zu besuchen, internationaler Handel war ausschließlich 

mit China und den Niederlanden erlaubt. Über diesen Weg kam Hokusai an sein Preußischblau, und so kamen auch die Drucke von Hokusai nach Europa. Mit der Öffnung des Landes ab den 1850er Jahren brach in Europa dann ein regelrechtes Japan-Fieber aus, der „Japonismus“.

16 OT Öffnung

Es ist relativ schnell zu einem engen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch gekommen. Auch im Zuge der Weltausstellungen in Paris von 1867 zum Beispiel ist Japan plötzlich ganz anders in den Fokus gekommen. Und die Kunstgegenstände, die jetzt aus Japan nach Europa gekommen sind, haben in Künstlerkreisen regelrechte Begeisterung ausgelöst und auch als Inspirationsquelle gedient. Die Maler haben sich inspirieren lassen von der Farbigkeit, von den ungewöhnlichen Blickwinkeln oder Bildausschnitten.

MUSIK 10 (SC018010W04 Claude Debussy: La Mer 0‘55)

ERZÄHLERIN

Claude Monet etwa erwarb 250 japanische Drucke, darunter auch ein Exemplar der großen Welle von Hokusai. Der Maler Edgar Degas nutzte die Bilder ebenfalls als Quelle der Inspiration und Henri Rivière huldigte der Welle mit „36 Ansichten des Eiffelturms“. Aber nicht nur bildende Künstler inspirierte die Darstellung: Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Berg“ bezieht sich direkt auf den Fuji, den Komponisten Claude Debussy regte die Welle zu seiner berühmten Komposition „La Mer“ an – auf die Partitur ließ er einen Ausschnitt der Welle drucken – den Fuji und die Boote ließ er dabei einfach weg.

MUSIKENDE La Mer 

ERZÄHLERIN

Abzüge der „Großen Welle“ gibt es heute auf der ganzen Welt, zum Beispiel im Metropolitan Museum of Art in New York oder im British Museum in London – und auch in der Bayerischen Staatsbibliothek in München: Im Sommer 2023 kaufte das Haus einen sehr frühen und besonders gut erhaltenen Abzug aus einer Privatsammlung für eine Summe im unteren siebenstelligen Bereich.

17 OT Universalbibliothek

Die Bayerische Staatsbibliothek ist … eine große wissenschaftliche Universalbibliothek mit einem sehr breiten Sammlungsspektrum und so gibt es bei uns im Haus eben auch eine große Ostasiatische Sammlung…

ERZÄHLERIN

Es gibt viele Gründe, Hokusais Welle zu lieben: Die ewig gültigen und für jedermann nachvollziehbaren inhaltlichen Aussagen etwa, dass die Natur schön und gefährlich zugleich sei, oder das menschliche Leben angesichts der Ewigkeit der Natur nur ein Wimpernschlag. Viele Menschen sind von der Welle auch einfach spontan und emotional berührt. Die Darstellung spricht sie ästhetisch an. Auch dafür gibt es eine Erklärung. Die große Welle bietet genau das richtige Verhältnis zwischen Fremdem und Vertrautem, sagt Thomas Tabery: 

18 OT Konklusion

Sie ist fremdartig genug, um spannend und inspirierend zu wirken, aber auch nicht zu fremdartig. Vertraut für das westliche Auge war zum Beispiel die perspektivische Darstellung, die Hokusai von Darstellungen aus Europa übernommen hat, die in Japan spätestens ab dem achtzehnten Jahrhundert auch bekannt waren, also Darstellungen in europäischer Zentralperspektive.

MUSIK 11 (CD 523110006 Ryuichi Sakamoto: Rain (I Want A Divorce) 0‘54)

ERZÄHLERIN

In der „Großen Welle vor Kanagawa“ treffen westliche und östliche Themen und Ästhetiken aufeinander. Kunstwerke an denen wir uns nicht sattsehen können, haben oft etwas Rätselhaftes und ein bisschen Fremdes an sich. Im Fall der Welle sind das jeweils die Elemente der fremden Kultur. Der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor hat es einmal auf den Punkt gebracht: Die große Welle ist nichts ganz und gar Fremdes. Sie ist ein exotischer Verwandter.